Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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wird, haben das Kollegium bestimmt, es bei dieser geringen Strafe zu belassen.«

      Das Hüsteln um mich hatte aufgehört. Die Worte des Direktors verklangen in einer vollkommenen Stille. Wir war es, als sei die Stube von dem Geflatter von Vögeln erfüllt. Ich neigte das Tintenglas immer mehr. Die Tinte floß heraus, über die Pultfläche der Bank auf den Fußboden. Und während ich abwesend auf den glänzenden, schwarzen Streifen vor mir starrte, raste, lachte, fluchte und wimmerte es in mir.

      »Faber!« rief der Direktor.

      Ich sprang auf.

      »Nein, durchaus nicht ... glauben Sie?« stotterte ich.

      »Sie vergießen ja die Tinte!« sprach er laut, um mich Verstörten zu sich zu bringen.

      »Oh ... vergessen ... bitte ...« Mit Gewalt entriß ich mich endlich dem betäubenden Wirbel meines Innern. Eben setzte um mich ein leises Lachen ein. Da hatte ich meine Sicherheit wieder. Mit kaltem Haß antwortete ich: »Verzeihen Sie, Herr Direktor, ich war auf Ihren Zuruf nicht vorbereitet. Der kleine Schaden, den meine Unachtsamkeit verursachte, läßt sich wohl leicht wieder entfernen.«

      Er sah mich forschend an. Ich erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

      »Setzen Sie sich«, sagte er, wühlte hastig in seinen Papieren, stellte die Mütze hier- und dorthin, streifte prüfend mit seinen Augen über mich, als wolle er noch etwas sprechen, raffte aber dann alles zusammen und ging schnell hinaus. In der Tür drehte er sich zurück und rief grell in den Lärm: »Ich bemerke, daß die Stipendien heut' nachmittag um fünf Uhr im Konferenzzimmer ausgezahlt werden.«

      Mechanisch, mit überlangen, steifen Armen und klammen Fingern trödelte ich meine Bücher zusammen. Die Gesichter meiner Mitschüler sah ich wie blasse Papierfetzen durch eine graue Luft an mir vorbeihuschen. Unter großem, glücklichem Gelärm leerte sich die Klasse. Ich allein blieb zurück, und weil ich einsah, daß ich so wie so nicht nach Hause gehen könne, stopfte ich die Bücher unter die Bank und trat ans Fenster. In diesem Augenblick begann das Mittagsgeläut auf dem nicht allzu fernen Kirchturme. Die Glockenschläge fuhren wie tönende Kugeln durch die Luft, prasselten auf das hohe Dach des Seminargebäudes und schlugen vor mir auf den schrill besonnten Sand, daß er davon weithin zu erzittern schien. Dieser Sturmwirbel in die dicke, stehende Mittagshitze löste die Starre, die über mir lag. Laufend verlieh ich das Seminar. Noch immer trommelten die Schläge der Glocken in der Höh'. Doch nun war es, als würden sie mir gegen den Rücken geschleudert, daß ich unmöglich langsamer gehen oder stehenbleiben konnte. Die Leute, die mir entgegenkamen, trugen den Kopf geneigt und blinzelten von unten in die grelle Sonne. Manche Männer hielten die Mütze in der Hand und bewegten betend die Lippen. Als ich das sah, kam jäher Zorn über mich. Sie haben meinen hungernden Eltern das Brot vom Munde gerissen, murmelte ich vor mir hin, und sagen, sie tun es im Namen Gottes. Eines sauberen Gottes.

      Dann riß ich den Hut vom Kopfe und stürmte weiter zwischen Obstgärten hin und war bald im Felde. Dort hob ich den Blick und sah einen Bauer vor mir gehen. Er hatte die kurze Jacke ausgezogen und trug sie und ein Bündel in einem rotkarierten Tuche am Stock auf der Achsel. Bei seinen langsamen, watenden Schritten wetzten die Schäfte seiner langen Stiefel laut aneinander. Der Anblick solch rauher Gelassenheit gab mir eine gewisse Ruhe zurück, und ich sagte zu mir, daß dies Rasen zu nichts führe. Links vom Wege stieg der sanfte Rücken der Kaiserhöh' an, auf dem ein verknorrter Feldbirnbaum stand. Dorthin lenkte ich meine Schritte und warf mich lang in seinen Schatten.

      Nach kurzer Zeit fiel eine solche Trauer und Mutlosigkeit über mich, daß ich mein Gesicht in das Gras drücken und schluchzend weinen mußte, soviel ich mich dagegen wehren mochte. Der Gott meiner Kindheit lag zerschlagen und entweiht von jenen, die ihn mir gepredigt hatten. Auch der Allgeist Willmanns, an den ich mich mit Staunen und geheimer Scheu geschmiegt, hatte mich verlassen. Ohne Hilfe und Zuflucht lag ich wie vertrieben in der Öde. Hingehen und mir den Anschein geben, als sei nichts gewesen? Um alles in der Welt nicht mehr in die Feigheit zurückkriechen, die mich um der Kindesliebe willen in den letzten Wochen entwürdigt hatte! Ich mußte heraus aus dem Berufe, der mich erniedrigte und zerstörte und den Glauben an die Göttlichkeit einer Macht verlangte, der es nur um bedingungslose Unterwerfung, nie aber um Wahrheit und den aufrechten Frieden meiner Seele zu tun war. Kaum hatte sich dieser Gedanke in mir zusammengeschoben, so wich aller Traum und Schimmer, alles ahnungsvolle Empfinden einer großen und guten Ordnung der Welt von mir, und ich sah mich in einem erbarmungslosen Leben, wo nur Macht gegen Macht steht, rücksichtsloser Kampf tobt, Grausamkeit, Härte und Verlogenheit. Die Erschütterung meines Gemütes war so stark, daß ich aufspringen mußte, damit es mich nicht erwürge.

      Lange stand ich so an den Baum gelehnt, und die feste Erde um mich wogte wie ein Meer. Ich aber sah auf das entheiligte Leben mit starren Augen, über die langsam die letzten Tränen sanken.

      Ihr habt meinen hungernden Eltern das Brot vom Munde gerissen, murmelte ich fortwährend vor mir hin und wußte kaum, was ich sagte, denn ich war wie in dumpfer Trunkenheit.

      Endlich wich der Schmerz von mir. Jene grausame Gelassenheit kam über mich, die aus großer Erschöpfung steigt.

      Ich werde hingehen, sann ich kühl, und meinen Vater aufreißen, wie es mich aufgerissen hat, daß er die Scheu vor dieser großen Lüge verliert und sieht, es gibt keinen anderen Glauben als den an uns. Dann wird er alles verkaufen, was ihm noch etwa geblieben ist, und wir gehen in ein neues Leben.

      Dem Pater Neumann aber will ich erst seine Lehre vor die Füße werfen.

      Damit war ich fertig. Ich hob meine Augen und sah in die Runde. Die Sonne lag längst hinter den Bergen. Da und dort richtete sich schwerfällig ein Mann aus dunklen Ährenweiten auf, als steige er krumm aus der Erde. Die Männer riefen sich rauh eine gute Nacht zu und verschwanden langsam gegen das nahe Dorf hin in den Schatten der Dämmerung. Von der Stadt her stöhnte die letzte Dampfpfeife.

      Ich schritt den Rain nach der Straße hinunter und strebte der Stadt zu.

      – – – – – – –

      Die Straßen Heisterbergs waren finster. Die Lichter in den Laternen sahen aus wie blutige Augäpfel in Käfigen aufgehängt. Rote, lange Fäden gingen von ihnen aus und verloren sich im Schwarzen. Die winzigen Ladenklingeln pinkten, Türen knarrten auf und polterten zu, die Leute wuselten matt und zwecklos umher. Ich hatte die Empfindung, ganz hoch und dünn zu sein und kam nur mit großer Beherrschung vorwärts. Trotzdem rannte ich bald an diesen und jenen an und hörte hinter mir entrüstete Ausrufe »über den besoffenen Kerl«. Endlich erblickte ich in einem kleinen Schaufenster Peitschen, Schabracken, in der Mitte einen ältlichen Reitsattel, Strumpfbänder und Pferdezäume. Ich stand vor dem Hause des Sattlermeisters Günzel an der Ecke der Balkengasse, in dem Pater Neumann wohnte. Aus irgendeinem Grunde betrat ich das Gebäude durch die Seitentür und befand mich in einem engen Flur, den der Geruch von Leder, Lack und Schwärze erfüllte. Dies weckte in mir den Gedanken an die zerstörte Existenz meines Vaters. Aufgepeitscht und aufs neue erbittert, stieg ich die Treppe hinauf. Sie wollte kein Ende nehmen und drehte sich immerfort durch einen fast finstern Schacht. Zuletzt stand ich noch vor einer Tür. Ludmilla Brendel, Damenschneiderin, lautete die verschnörkelte Aufschrift. Gegenüber, den schmalen Flur hin, hing ein Briefkasten neben der Tür. Darunter befand sich ein Schildchen mit den zwei Worten: Neumann, Religionslehrer. Ich zog tief Atem, rückte mich in die Höh' und stieß bann energisch den Drücker in das Porzellannäpfchen.

      Der Schein der Flurlampe fiel über mich.

      Da stand der Verhaßte auch schon vor mir. Als er mich starr und finster Aufgerichteten sah, stutzte er und erbleichte.

      Mit kaltem Lächeln grüßte ich: »Guten Abend!«

      »In Ewigkeit«, antwortete er schwach, ermannte sich aber und fragte freundlich: »Was wollen Sie, Faber?«

      »Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, antwortete ich mit meiner ausgetrockneten, harten Stimme laut.

      »Kommen Sie in einer Stunde wieder«, beschied er mich kurz, schlug die Tür zu und schloß sie ab.

      Im Augenblick kam Wut in mir auf, und ich war versucht, die Tür mit den Fäusten einzuschlagen.