Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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die Natur oder meine zerwühlte Nacht dem Morgen diese schwere Stimmung gegeben habe, als aus der Gegend des väterlichen Werktisches ein Seufzen klang, leise und zäh, wie es manchmal aus dem Munde angstvoll Träumender kommt. Ich sah gespannt hin, gewahrte aber nichts als die gerade Linie der Werkplatte und darüber die Schemen irgendwelcher Geräte. Deswegen glaubte ich, dies niedergezwungene Stöhnen bewußtlos selbst ausgestoßen zu haben und versuchte, zu meiner Beruhigung, es ein zweites Wal hervorzubringen. Wie ich mich auch bemühte, der Ton wurde jedesmal rauher und tiefer. Das wehe Vibrieren dieses langen, müden Atemzuges gelang mir nicht: Also rührte der Laut doch nicht von mir her. Ich stand auf und sah mich mit einer Ungründlichkeit in der Stube um, die mir die Wahrnehmung als Täuschung bestätigen sollte. Denn das Grübeln einer langen Nacht macht unlustig zu neuen seelischen Aufregungen. Ein leerer Breitwagen fuhr polternd den Stadtgraben hin, und seine Eisenteile klirrten. Ich war im Begriff, an das Fenster zu treten, um in flüchtender Neugier zu sehen, wer so zeitig und schnell fahre, als kennte ich alle Fuhrleute der Stadt. Bei den ersten Schlitten stieß ich an einen weichen Ballen, und als ich mich niederbeugte, erkannte ich die zusammengekauerte Gestalt meiner Mutter, die vor dem Arbeitsschemel des Vaters hockte. Sie wandte mir ihr übernächtigtes Gesicht einen Augenblick zu und lieh es dann langsam wie vor großer Ermattung wieder zwischen die Hände auf den Sitz des Schemels sinken.

      »Guten Morgen, Mutter,« redete ich sie an, als ich mich von der Überraschung erholt hatte, »warum stehst du denn so zeitig auf? Es ist ja noch grauer Morgen.« Eine tiefe Stille nahm meine Worte auf. Endlich antwortete meine Mutter: »Nein, nein, es ist Nacht. Tiefe Nacht.« Sie redete tonlos, wie ein unabwendbares Geschick in uns laut wird.

      Trotzdem ich sofort wußte, daß ihre Worte einen tieferen Sinn hatten, lautete mein Trost: »Aber Mutter! Dort ist der Morgen, rauchrot wie ein Kohlenfeuer!«

      Es dauerte wieder eine Weile, ehe sie antwortete:

      »Mein Kind, es ist Nacht. Nacht. Du müßt's doch auch wissen, du, denn du hast die Nacht auch.«

      »Mutter, du bist krank,« sagte ich nun hastig, »ich werde den Vater rufen.«

      Ihre Augen bekamen den Glanz einer frischen Wunde. »Ja, ja, geh'!« sprach sie strafend, »seit dem Abend weiß ich's ja, daß du es verstehst, deinem Vater weh zu tun.«

      »Aber, Gott im Himmel, Mutter!...« rief ich bestürzt.

      »Was sagst du da?« Mit dieser Frage schnitt sie mir die Worte ab, und jäh kam in ihr Gesicht ein heißes Leben. Sie hob im Schwung eines einsetzenden Sturmes beschwörend ihre Hand. Doch nur einen Augenblick verharrte sie so. Dann sank ihr Arm wieder fallend auf den Sitz des Schemels, und sie kauerte sich hin wie vorher.

      »Ach, wenn doch ein Mensch wär', zu dem ich reden könnte«, sagte sie in ringendem Aufatmen.

      »Mutter, bin ich dir nicht gut genug?« fragte ich unsicher. »Du!« sagte sie und sah mich mit beängstigender Starrheit an, »ich red' anders, und du red'st anders. Wir verstehen uns nicht mehr ... aber ich hör' doch nicht auf.«

      Dann hob sie ihr Haupt und wandte das Gesicht dem Fenster zu, durch das eben der erste Strom des vollen Lichtes floß. In diesem roten Glanz verharrte sie solange, bis ein entrücktes Lächeln ihre Züge verklärte, eine Hingenommenheit über sie kam, daß offenbar nichts vor ihrer Seele stand, als ihre geheime Sehnsucht. Diese flüsterte sie bewußtlos ins Licht: »... er rang mit dem Engel, bis die Morgenröte heraufstieg ... wieder vorbei ... aber in Gott sind drei Personen, und das waren erst zwei Nächte... Warum ist mein Glauben so klein! Es ist ja noch der heilige Geist, der mit den linden, weißen Flügeln ... ja, ja; der wird's machen.«

      Ich erkannte, daß ihr Glaube geschont werden müsse, um ihr die letzte Hoffnung nicht zu zerstören. Deswegen ließ ich mich neben ihr nieder, die immer noch, ohne mich zu beachten, mit ihrer Sorge redete. Behutsam legte ich meinen Arm um sie und näherte das Gesicht dem ihren, mit einem Kuß den Bann zu brechen, dem sie verfallen war. Obwohl ihre Augen geschlossen blieben, mußte sie meine Absicht gemerkt haben, denn sie wich zurück und sagte plötzlich mit rauher Stimme zu mir: »O ja, ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Deswegen wird mich Gott auch erhören. Für wen bet' ich denn, wie für dich und Vater?«

      »Für mich?« fragte ich. »Ja.« antwortete sie. »seit dem bösen Abend weiß ich, daß auch du in ihrer Macht bist.« Ich ahnte, daß sie die Großmutter meinte, wagte aber nicht zu widersprechen, um sie nicht noch mehr zu reizen, sondern sah sie nur lächelnd an und schüttelte den Kopf. Allein ihr Auge bekam doch jenen bohrenden Blick, der so schrecklich wirkte, und um mich zu überzeugen, sprach sie über das geheime Ringen mit dem Gespenst unserer Familie, wie sie mit ihrem Gebet alle Zugänge unseres Hauses verrammelt, die Luft mit ihrem reinen Atem gesättigt und tödlich für böse Geister gemacht habe. Der Hexe mit den unsterblichen Augen seien die Flügel aus dem Rücken, die Zunge aus dem Munde gerissen, in allen Winkeln des Hauses keime ein Segen. Aber nun, da die Teufelin unserer Familie äußerlich nichts mehr anhaben könne, sei sie, zum bösen Geist geworden, auf die List verfallen, uns innerlich zu schaden. Nur die schreckliche Hausdrude habe mich zu der Untat des schweren Abends verstrickt und löse die stolze Seele des Vaters auf. Meine Mutter sprach alles leise, heiß, mit einem Zittern der Angst und des Hasses in der Stimme. Sie war ganz in die heidnischen Grundwasser des Christentums, in den Dämonenglauben untergetaucht und trug im Gesicht die Züge einer Märtyrerin. Nicht dieser Anblick allein, wie eine heilige Seele von unbegrenzter Liebe aus ihren stillen Kreisen gerissen, in Flackern und Zucken umhergetrieben wurde, sondern vor allem die Erkenntnis erschütterte mich, daß meine Mutter eigentlich gegen keinen Wahn, nein, gegen Tatsachen rang. Denn von den Totenhügeln meiner Ahnen strich wirklich der Wind, der unser Haus in Trümmer legte. »Mutter!« sagte ich verstört und muß mich wohl vorgeneigt haben, so daß sie glauben mochte, ich wolle abermals den Versuch machen, ihren Mund im Kuß zu berühren, denn sie schob mich zurück und beteuerte, solange eine Liebkosung von mir entbehren zu müssen, bis ich durch inbrünstiges Gebet wieder meine Lippen geheiligt habe, die von den gotteslästerlichen Worten des bösen Abends entweiht worden seien.

      »Denn küssest du mich so,« sagte sie, »dann legst du deinen Unsegen auf meinen Mund und mein Gebet, wenn es herfürgeht, verliert alle Kraft der Hilfe.«

      Sie sah wohl meine tiefe Erschütterung und empfand mein geheimes Einverständnis mit ihr, und so fühlte ich mich plötzlich von ihrem Verlangen innerlich bedrängt, der Not ihrer Liebe beizustehen. Deshalb klang ihre Frage wie ein Jubel: »Willst du mit mir beten, mein Junge, mein lieber?« – »Aus vollem, ehrlichem Herzen?« fragte sie noch einmal. – »Ja, ja, alles, alles, was du willst«, antwortete ich.

      Dann knieten wir nebeneinander wie in den Tagen meiner frühen Kindheit, ich, der verirrte Wahrheitssucher, und meine beglückte Mutter, und beteten flüsternd, um den Vater nicht zu wecken, und über mich kam, soviel ich auch innerlich dagegen kämpfte, doch ein ganz schwaches Zittern der Inbrunst, ein allerletzter Schimmer von dem Trümmerfelde meines vernichteten Kinderglaubens.

      Als wir geendet hatten, umarmte mich Mutter in solcher Freude, wie wenn ihr eben ein neues Leben geschenkt worden sei und ging gleich so frisch an ihr Tagewerk, als habe sie ein langer, gnädiger Schlaf gestärkt. Allein unsere Seele kennt keine Klugheit; sie will selbst Barmherzigkeit und Liebe nicht gelten lassen, wenn es mit dem Verzicht auf eine heilige Notwendigkeit bezahlt werden muß. Und wenn ich mir auch unzählige Male bewies, daß auch der Stärkste nicht hätte anders handeln dürfen, wie ich gegen meine Mutter gehandelt hatte: ein schwerer, dumpfer Rest blieb in mir, der mich des erneuten Vergehens gegen den hohen Allgeist anklagte. Doch trotz dieser Anfechtungen blieb ich dem einmal gefaßten Entschluß treu, solange meines Lebens gar nicht zu achten, bis ich meinen Eltern aus jener Not geholfen hatte, in die sie durch mich geraten waren. Alles, was ich tun konnte, um das Andenken an Willmanns Güte in mir nicht zu Tode zu kränken und wenigstens in der Seele ein enges Pförtchen zur Freiheit offen zu halten, bestand darin, daß ich die Gebete, zu denen mich Mutter nun fast alle Tage zwang, im stillen jenem unbekannten Gotte weihte und ihm alle Schmerzen opferte, die ich darüber empfand. Diesen gleichen verborgenen Diebstahl beging ich auch durch den Empfang der Beichte und des Abendmahls in seinem Namen. Wohl hatte ich viele sonnenlose Tage und düstere Nächte deswegen, aber ich schmiegte mich dennoch ganz vor die Füße meiner Eltern.

      An