den Mauerzacken winken.
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Die blasse Hand hat mich wirklich in den Schimmer geführt. Eines Sonntags fand ich mich als Teilnehmer an der Prozession ein, die nach dem Laternenanzünden allabendlich um den Ring unseres Städtchens zog, bis die Nachtwächter ihre erste Stunde pfiffen. Sie bestand fast nur aus Gesellen und Dienstmädchen. Wenige Schreiber, Schüler und Töchter kleinerer Bürger waren darunter. Nach dem Abendessen strömten sie aus den vier Straßen auf das breite Trottoir des Ringes und pilgerten unermüdlich nach Liebe, immer wechselweise eine Reihe Schürzen und eine Reihe Glimmstengel. Scherzreden und Gelächter flogen hin und wider, und im Scheine der Ecklaternen verfingen sich auf einen Moment die Blicke der Verliebten. Bürger kreuzten dick und langsam den bunten Schwarm. Der Herbsthimmel hing hoch und voller Sternenfunken über dem Rathaus. Er war so groß und blau, daß man verstummen mußte, wenn man ihn ansah. Dies Schweigen ergriff oft alle. Dann war es so still, daß man das Wasser des Stadtbrunnens über den ganzen Platz klingen hörte. In solchen Augenblicken wurde mir vor Erwartung fast bange, denn ich glaubte, nun werde Wally Göppert unvermutet an mich herantreten und fragen: »Warum gehen Sie so allein?« Dann wollte ich antworten: »Fräulein Wally oder liebe Wally, ich warte auf Sie. Nehmen Sie es mir nicht Übel, daß ich an dem Sommerabend so von Ihnen fortgelaufen bin, denn ich war damals sehr unglücklich. Ehe die weißen Astern verwelkt find, müssen Sie wieder gut sein auf mich.« Das wollte ich sagen, wenn sie kommen und mit der Hand meine Achsel berühren würde. Ich dachte mir noch vieles Schöne aus, auch von dem alten Willmann. Aber wenn ich im besten Zuge war, prasselte das Lachen und Scherzen vor und hinter mir wieder auf. Alles, was ich mir ausgesonnen hatte, kam mir recht töricht vor. Ganz beklemmt ging ich an der weit offenen Tür des Kaufmann Pausewangschen Hauses vorüber und sah immer nur das winzige Flurlämpchen, das wie ein gelber Nagelknopf von der finsteren Wand schimmerte. So kreiste ich unzähligemal um das Rathaus und hatte eben wieder den Entschluß gefaßt, unwiderruflich den letzten Rundgang anzutreten, als ich einen Burschen vor der breiten Tür zu meiner Ersehnten in aufgereckter Haltung und geckenhaftem Schritt auf- und niederpendeln sah. Er wippte mit seinem Spazierstöckchen, sang ausgelassen lustig durch die Zähne, blieb häufig stehen und leuchtete mit brennender Zigarre auf das Zifferblatt seiner Uhr, kurz, benahm sich wie einer, der ungeduldig ein versprochenes Stelldichein erwartet. Das machte ihn mir verdächtig, und als ich näher hinsah, erkannte ich in ihm den Sohn des Glöckners Kinzel, der als Kommis in der Eisenhandlung der Stadt beschäftigt war. Ein fader, widerlicher Schwätzer mit dem Draufgängertum, der Ladendiener auszeichnet. Wenn Wally Göppert mit ihm ging, so wollte ich ihr keine Stunde im Wege sein, konnte ich auch nicht begreifen, wie dann die Verheißung Willmanns von meinem glücklichen, sonnenhaften Leben in Erfüllung gehen sollte, die mich doch eigentlich hierher geführt hatte. Das Wort Lebendiger ist vieldeutig und unsicher wie ihr Leben; aber das Versprechen, das Abgeschiedene uns hinterlassen haben, gilt uns als heilig. Es mußte wahr sein, was der Greis zu mir gesagt hatte, und ich fühlte, daß ich mein Leben nicht würde ertragen können, wenn mir das Licht dieser blonden Mädchenhaare erblassen müßte. So ward ich verhindert, jäh und barsch vom Ringe weg in mein Bett zu laufen. Geduldig, wenn auch in zweifelsüchtiger Unruhe, begann ich, wieder vor der breiten Tür vorbeizukreisen.
Schon pfiff in einer fernen Gasse der erste Nachtwächter. Nur wenige, nun schon zu Paaren verschlungen, wandelten noch umher. Ich trat, um mir nichts entgehen zu lassen, vom Bürgersteig auf das Pflaster des Platzes und behielt den Hauseingang sorgsam im Auge. Die helle Hose Kinzels schwenkte noch immer auf und ab. Plötzlich flammte im Innern des Hauses ein Licht auf, und der Verliebte verschwand, wie von dem Schein gerufen, in den Flur. Allein schon bald tauchte er mit schnellem Schritt wieder unter der Tür aus und entfernte sich eilig und ohne Umsehen in der Richtung nach der Kirche. Hinter ihm quoll ein fettes, grunzendes Husten aus dem Hause, und noch ehe der Flüchtling die nächste Straße erreicht hatte, stand der dicke Pausewang auf der Schwelle, schaute sichernd die Ringseite auf und ab, schnob zornigen Atem ins Dunkel und steuerte dann quer über den Platz auf das rote Licht der Stadtbrauerei zu.
Obwohl der erste Versuch einer Annäherung so mißlungen war, obwohl ich mich sogar an den folgenden Abenden überzeugen mußte, daß zwischen Wally und dem faden Kommis eine Beziehung bestehe, ich verlor doch nicht die frohe Sicherheit, das Mädchen sei mir noch geneigt. Sie stand zwar neben ihm und duldete, daß er auf sie einsprach; näherte ich mich aber, um von ferne vorüberzugehen, so bemerkte ich, wie sie teilnahmslos wurde, von ihm ein wenig abrückte und nach mir hinsah, als wünsche sie, ich möchte hinzutreten und sie von dem Zudringlichen befreien. Doch was soll ich all die süße Unruhe beschreiben, was an dem bunten Spiel verheimlichter Liebe herumtasten! An einem Abende, eben als ich an den beiden wieder vorüberging, ließ sie Kinzel brüsk stehen und entfernte sich von ihm nach der Kirchstraße hin. In einer dunklen Nebengasse holte ich sie ein und sagte ihr all die schönen Worte, die ich mir seit langem ausgesonnen hatte. Das Städtchen lag still. Die Laternen blinzelten, und wir gingen bald Hand in Hand wie Kinder, die sich verloren und endlich wiedergefunden haben. Wir kamen bis hinaus zwischen die Gärten, und wie unsere Schritte in dem Laube unhörbar wurden, verstummten wir auch. Durch das Gewirr der fast kahlen Äste sahen wir die fadendünne Mondsichel hinter den Bergen heraufschwimmen, und aus dem Seminar klang heiser und schwach der Diskant einer Orgel, als zirpe eine letzte Grille im schwarzen Felde draußen. Wir hatten uns losgelassen und horchten in das Dunkel. Die dumpfen, großen Laute der Nacht, die Last der unbarmherzigen Einsamkeit drangen auf uns ein, und ich weiß nicht, wie es kam: ich hatte Wally an mich gezogen. Wir standen aneinandergelehnt: das unnennbare Bangen, das uns eben noch getrennt, vor dem wir mit den Augen ins Dunkel hinausgeflüchtet waren, wuchs nicht mehr aus der Erde. Das Gefühl tiefster Geborgenheit erfüllte uns. Aber als sich in verschwiegenem Rausch unsere Stirnen berührten, durchzuckte mich ein so schmerzvolles Beben, daß ich erschrak. Auch Wally trat hochaufatmend von mir weg und sagte mit erstickter Stimme, sie habe Furcht und wolle nach Hause gehen. Ich lachte sie zwar tapfer aus; aber mir war doch auch wieder so seltsam bange, und so wandelten wir zurück. Unterwegs sprach sie von Kinzel: Das sei gewiß kein guter Mensch. Er rede wohl ganz amüsant, immer vergnügt und nett, daß sie ihm gern zuhöre. Allein es liege etwas hinter seinen Worten, mehr im Klang der Stimme und in seinen Augen, das ihr Furcht einflöße und sie zugleich schwach und willenlos mache. Immer, wenn er ihr nahe, bringe sie es nicht fertig, davonzugehen. Und wenn ich nicht gut aufpasse, dann könne es vielleicht wirklich noch dahin kommen, daß er sie einmal küsse. Scherzend und glücklich trennten wir uns.
In der Nacht brach ein starker Wind los. und am Morgen waren die Astern über der Wehrmauer des Wartturms verschwunden. Willmanns blasse Hand hatte mir den Weg ins Licht gewiesen und war nun auf ewig in die Luft verweht. Ich hielt mich wirklich für einen jener Glücklichen, denen alles Harte des Daseins überreich durch Liebe vergolten wird.
Alle Tage blühte mir wieder das seine, lange Gesicht des lieben Mädchens aus dem Fenster der Stadtmauer, und ich war reicher als je. Singend spielte ich mich in meine Arbeit und sah mit leichtem Wut auf den Berg der Wiederholungen zur Entlassungsprüfung.
Manchmal war Wally durch Arbeiten im Hause an dem Zusammensein mit mir verhindert. Dann ließ sie ein weißes Tuch vom Fenster flattern, und wir tauschten aus der Entfernung Zärtlichkeiten, denen ich, wieder mit mir allein im Stübchen, Worte verlieh. Erregt zwischen Tür und Tisch auf- und abschreitend, redete ich das Stürmen meiner Verliebtheit vor mich hin. Ich sah Wally leibhaftig um mich, und die Worte, die ich zu ihr sprach, klangen mir oft so schön, daß ich sie mir zur Erinnerung aufschrieb. Auf diese Weise wurde ich fast so etwas wie ein Dichter. Wirklich! Und mochte alles, was ich zu Papier brachte, auch nur krauses Stammeln sein, ich kostete doch den Zauber, mich in ein unaussprechlich anderes Leben zu erhöhen, das mein Glück und meinen Schmerz tiefer befreite und tiefer belud. Die Unbegreiflichleiten der Wirklichkeit wurden mir zu Unbegreiflichleiten des Traumes, und alle Dinge umwitterte oft ein Klang von ferner her, daß ich kaum den Sinn meiner Worte verstand oder über die Tatsache eines weitschauenden Wissens hinter der Erkenntnis betroffen war, wenn die Nüchternheit wieder um mich klapperte. Geradezu schmerzhaft war mein Erstaunen, als ich einst den Vers gedichtet hatte:
Auf bleicher Stirn wohnt deiner Schönheit Glanz,
in schweren Augen trägst du all mein Glück:
Und seh ich dies und deines Goldhaars Kranz,