Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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Trotz der Überschuhe und trotzdem Annemarie, soweit es bei der Enge möglich war, von einem Fuß auf den andern sprang, wurden ihr die Füße allmählich ganz steif.

      »Ach wat, in ’n Schützenjraben bei so’n Wetter zu liejen, is ooch jrade keen Verjnijen nich, und lieber laß ich mir die Schneeflocken um de Näse sausen als de Kugeln«, meinte die Grünkramfrau von nebenan, die in ihrer ganzen stattlichen Breite sich neben Annemarie aufgepflanzt hatte.

      Da lachten sie alle und empfanden nicht mehr die Unbill der Witterung. Wenigstens für eine Weile.

      Unmerklich nur schob sich die Menschenschlange vorwärts. Annemarie benutzte die gute Gelegenheit, sich inzwischen das Gedicht, das sie morgen für die deutsche Stunde zu lernen hatte, einzuprägen. Es war Schillers »Glocke«.

      Wenn die Leute nur nicht in einem fort um sie herum geschwatzt hätten, dann wäre es ganz gut mit dem Lernen gegangen.

      »Kocht des Kupfers Brei,

       Schnell das Zinn herbei –«

      deklamierte Annemarie im Geiste.

      »Nee, Frau Schulzen, wenn et kocht, ’n bißken Eiersatz zu, und des sieht Ihn’ denn aus, als ob es mit mindestens drei Jelbeiern abjezogen is«, klang es in Schillers Verse hinein.

      »Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang.«

      »So lang ist die Reih’ noch nich jewesen wie heute«, ließ sich wieder jemand vernehmen. Da wußte Annemarie nicht mehr, ob es Reu’ oder Reih’ hieß.

      »Der Mann muß hinaus

       Ins feindliche Leben – – –«

      »Jawoll, der muß hier raus, der hat hier nich jestanden, hinten wird anjetreten – –« ein Wortwechsel entspann sich, der so interessant war, daß Nesthäkchen ihr Lernen unterbrach.

      »Jotte doch, nu fängt’s ooch noch an zu rejnen – –«

      »Aus der Wolke quillt der Segen,

       Strömt der Regen« –

      wiederholte Annemarie im Geiste.

      »Neulich bin ich das reine Eisbein vorm Buttergeschäft geworden, und wie ich denn ran war, ja Prost Mahlzeit – da war die Butter alle«, tönte es von links.

      »Leergebrannt ist die Stätte«

      murmelte Nesthäkchen vor sich hin.

      »Holder Friede, süße Eintracht,

       Weilet, weilet freundlich über dieser Stadt!«

      »Was meinen Sie, ob es auch noch mit Amerika Krieg gibt?«

      Nein, es war wirklich nicht möglich, bei dem Radau zu lernen, sie gab es auf.

      »Männe, gut, daß du mir ablösen kommst, nu werd’ ich meinen inwendigen Menschen mal mit ’n Troppen heißen Kaffee aufwärmen jehn«, die dicke Grünkramfrau verschwand aus der Reihe, und ihr rothaariger Sprößling nahm statt ihrer den Platz ein.

      Ach, hätte Annemarie doch auch bloß daran gedacht, sich von Klaus ablösen zu lassen. Wie gern hätte sie sich auch ein wenig aufgewärmt. Denn jetzt wurde es empfindlich kalt. Die dicke Nachbarin hatte mit ihrer breiten Gestalt den Wind abgefangen, aber Männe war dünn und gab keinen Schutz.

      Na, nun war man ja schon bald an der Tür. Noch ein Weilchen – dann stand Nesthäkchen stolz in der ersten Reihe und spürte vor lauter Erwartung die Kälte nicht mehr. Der Polizist zählte die Reihen ab – so, nun war man endlich drin.

      Hurra – ein halbes Pfund Butter bekam sie – hätte das verwöhnte kleine Fräulein jemals gedacht, daß es darüber solche Freude empfinden könnte? Ja, man lernte im Kriege erst alles richtig schätzen.

      Ihr halbes Pfund Butter fest gegen das Herz gepreßt, eilte Annemarie aus dem Laden. Vorbei an den mit neidischen Augen noch immer Wartenden. Jetzt sollte der Kaffee aber zu Hause im molligen Zimmer schmecken!

      Da hörte sie eine zittrige Stimme: »Ach Gott, ich kann ja nicht mehr stehen – ich glaube, ich werde ohnmächtig.« Es war ein alter Mann mit langem, weißem Bart, der sich kaum noch auf den Füßen hielt.

      »Gehen Sie doch nach Haus – das stundenlange Warten bei solchem Wetter ist auch nichts für alte Leute« – rief es hier und da.

      »Ich selbst würde ja gern auf die Butter verzichten, aber mein Enkelchen war sehr krank, der Arzt sagt, es muß gut ernährt werden, wenn wir’s am Leben erhalten wollen«, hörte Annemarie, die neugierig stehen geblieben war, den Greis mit matter Stimme sagen.

      Nesthäkchen schwankte – das war ein Großvater, der für sein Enkelchen im Sturm und Schnee stundenlang stand. Wenn Großmama so frieren müßte – da war der Kampf in Nesthäkchens Innern entschieden.

      »Hier, bitte,« sagte sie mit der ihr eigenen Freundlichkeit, »bitte, nehmen Sie meine Butter und gehen Sie nach Haus. Ich bin jung, ich kann schon noch ein halbes Stündchen länger in der Kälte stehen.«

      »Dank – tausend Dank – du bist ein braves Kind – Gott wird dir deine gute Tat lohnen«, innig erfreut griff der Greis nach Annemaries Butter und gab ihr das Geld dafür. Unter dem beifälligen Gemurmel der Umstehenden nahm Annemarie den Platz des alten Mannes ein.

      Merkwürdig, sie empfand jetzt Kälte, Schnee und Regen viel weniger. Das Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, machte sie von innen heraus warm.

      An der Menschenschlange schob sich suchend ein Haulemännchen, die Kapuze der Lodenpelerine fast bis aus die Nase gezogen, entlang.

      »Annemarie«, rief es aus der Kapuze heraus. Das Haulemännchen machte an Nesthäkchens Reihe halt. »Annemarie, du sollst gleich nach Haus kommen, deine Großmutter sorgt sich um dich. Ich will dich ablösen.«

      »Nein, Trude, du hast doch erst das kranke Bein gehabt, du kannst nicht solange stehen – ich danke dir schön«, lehnte Annemarie ab.

      »Ach, mein Bein ist längst wieder heil, davon merke ich nicht die Spur mehr – geh’ nur nach Haus!«

      »Aber ich bin viel wärmer angezogen als du, du wirst frieren!« meinte Annemarie immer noch zögernd.

      Trude lachte sie aus.

      »Da hab’ ich früher anders frieren müssen. Und die armen Kinder in unserm Haus, die jetzt schon mitten in der Nacht vor den städtischen Fleischverkaufsstellen antreten, haben auch mehr Kälte auszuhalten.«

      Trotzdem drängte Annemarie der Trude noch ihre Überschuhe und ihre Muffe auf, dann sprang sie, so schnell die erstarrten Füße sie trugen, niesend nach Haus.

      Hatschi – hatschi – Annemarie mußte lachen. Der Lohn für ihre gute Tat würde sicherlich in einem tüchtigen Schnupfen bestehen. Es war ja auch gar nicht nötig, daß der liebe Gott sie noch belohnte. Das Bewußtsein, dem alten Mann geholfen zu haben, war schon Lohn genug.

      Aber als Nesthäkchen heimkam, als Fräulein ihm ausgewärmte Strümpfe und warme Schuhe hingesetzt und Hanne dampfenden Kakao gebracht, da legte Großmama mit frohen Augen vor das liebe, böse Kind, das für sie im Schneesturm stundenlang gestanden, einen Brief aus überseeischem Papier.

      »Von Mutti – von meiner Mutti – endlich!« jubelte Nesthäkchen los und küßte die feinen Schriftzüge, die sie monatelang nicht gesehen.

      Doch als Annemarie las, daß die Mutter ganz fest hoffe, nun endlich bald die Erlaubnis zur Heimkehr zu erhalten, da verstummte der laute Jubel. Denn die höchste Freude äußert sich nicht lärmend, die bleibt still. Fest schmiegte Nesthäkchen den Kopf im Überschwang des Glückes an Großmamas Brust.

      Ob der liebe Gott nicht doch jede Guttat lohnte?

      19. Kapitel

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