Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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seinen Eltern war auf der Berliner Flüchtlingsstation keine Nachricht eingegangen, so angelegentlich Hans auch danach geforscht hatte. Man konnte wohl annehmen, daß dieselben ein Opfer der Kosaken geworden.

      Seit Ostern hatte der älteste Braunsche Sprößling das Vaterhaus verlassen und regte die Schwingen zum selbständigen Flug ins Leben hinein. Hans hatte das Notexamen gemacht und endlich seinen heißen Wunsch, trotz Großmamas sorgenvollen Bedenken, beim Vater durchgesetzt. Er war bei der Marine eingetreten und wurde in Wilhelmshaven ausgebildet.

      Klaus hatte dem Bruder entschieden geraten, lieber zu den Fliegern zu gehen. Das kam aber wohl daher, daß Klaus schon von klein auf eine besondere Tüchtigkeit im Fliegen gezeigt hatte. Er war seiner Ungezogenheit halber meistens aus dem Zimmer »geflogen«.

      Nesthäkchen war der Abschied von ihrem lieben Hänschen sehr schwer geworden. So stolz es auch war, daß nun auch der Bruder für das Vaterland kämpfte, er fehlte Annemarie an allen Ecken und Enden. Sie verdoppelte jetzt ihren Fleiß, um für den Bruder, der den Nordseestürmen trotzen mußte, warme Sachen zu stricken.

      Dabei hatte Annemarie jetzt auch tüchtig in der Schule zu tun. Seit Ostern ging sie in die vierte Klasse, da wurden ziemliche Ansprüche an die Schülerinnen gestellt.

      Die jetzt dreizehnjährige Annemarie war während der nun bald zweijährigen Kriegszeit ein Prachtmädel geworden. Die wenigen Schlacken, die dem verwöhnten Kinde anhafteten, hatte die ernste Zeit vollständig losgelöst. Selbstlos und hilfsbereit hatte sie Doktors Nesthäkchen gemacht. Und trotz allem Frohsinns und Übermuts zu einem verständigen Mädchen.

      Auch äußerlich hatte sich Annemarie gut entwickelt. Sie überragte bereits die Großmama, und die Blondzöpfe hingen ihr jetzt lang den Rücken herab. Freilich strubbelig sahen die noch immer aus, denn ein Wildfang war und blieb Nesthäkchen.

      Trotz der bescheidenen Ernährung, welche die wirtschaftliche Lage in Deutschland jetzt notwendig machte, blühte Annemarie wie ein Maienröschen. Nicht umsonst war der lange Aufenthalt an der Nordsee gewesen.

      Auch im Hause zeigte es sich, wie günstig die Kriegszeit auf Doktors Nesthäkchen gewirkt hatte. Es war rührend, mit welcher Liebe sie für die Großmama sorgte. Jetzt war Annemarie schon groß genug, um einzusehen, was für ein Opfer Großmama ihnen gebracht, daß sie das stille Behagen und die gewohnte Ruhe des eigenen Heims auf so lange Zeit mit dem geräuschvollen und anstrengenden Aufenthalt bei den lebhaften Enkelkindern vertauscht hatte.

      Man schrieb den 30. April 1916. Das war ein ganz merkwürdiger Tag. Eigentlich aber war es erst die Nacht zum 1. Mai. Da erdreisteten sich die Menschen, jetzt sogar schon an dem Zeiger der großen Weltenuhr zu rücken. Die Zeit, die seit Urbeginn ihren gleichmäßigen Schritt gegangen, die wagten Menschen jetzt aus ihrem ewigen Geleise zu bringen. In ganz Deutschland sollten sämtliche Uhren in der Nacht zum 1. Mai um eine Stunde vorgerückt werden. Der Tag sollte während der Sommermonate eine Stunde früher beginnen. Dadurch sparte man des Abends Beleuchtung, vielmehr das Material dazu, wie Kupferdraht, Kohlen und Petroleum. Es hieß jetzt während des Krieges mit allem haushalten.

      Großmama fand sich nicht mehr in der Welt zurecht. Sie hatte sich während der letzten Monate in vieles fügen gelernt, was sie ihr langes Leben lang anders gewohnt war. Aber daß der Krieg nun auch die Zeit noch verändern sollte, das wollte ihr nicht in ihren alten Kopf.

      »Ich bin altmodisch, ich lebe ruhig weiter, wie ich nun schon fast siebzig Jahre gelebt habe«, äußerte sie sich.

      »Ich ooch, jnädije Frau, ich mach’ den Rummel nich mit«, pflichtete Hanne ihr bei. »Wenn es sechsen is, denn is nich sieben, nee, ich bin doch noch nich janz und jar varrickt!«

      Annemarie kam Arm in Arm mit Margot und Vera aus der Schule; der Jugend machte die große Umwälzung ungeheuren Spaß.

      »Wenn ich bloß morgen nicht verschlafe und pünktlich um sieben in der Schule bin!« regte sich Margot auf.

      »Um acht meinst du – –« lachte Annemarie.

      »Na, aber morgen geht’s doch schon nach der neuen Zeit«, die Mädel wollten sich ausschütten vor Lachen. Man wurde wirklich ganz wüst im Kopf.

      »Ich lege mich heute eine Stunde früher ins Bett«, überlegte Vera.

      »Fällt mir ja nicht im Traum ein. Im Gegenteil, ich möchte so schrecklich gern nachts um elf mit Klaus nach dem Rathaus. Klaus sagt, da sieht man, wie es plötzlich eine Stunde später wird. Das muß großartig sein.«

      »Ja, erlaubt denn das deine Großmama, daß du so spät noch fortgehst?« verwunderte sich Margot.

      »I bewahre – ich möchte ja auch bloß gern. Also auf Wiedersehen, morgen zur deutschen Sommerzeit – hurra – da sind wir alle eine Stunde älter geworden!« übermütig trennten sich die Freundinnen.

      Nach dem Mittagessen winkte Klaus der Schwester mit vielsagendem Gesicht.

      »Na, Annemie, wie ist es, kommst du heute nacht mit nach dem Rathaus?«

      »Ach, Kläuschen, Großmama wird es nie und nimmer zugeben – – –«

      »Ja, wenn du auch so dämlich bist, noch zu fragen!« Kläuschen, der Bösewicht, sah die jüngere Schwester verächtlich an.

      »Fräulein merkt es doch, wenn ich auskneife«, Annemarie wäre brennend gern mitgegangen.

      »Quatsch mit Soße, Fräulein schnarcht wie ’ne Ratze. Wenn du keine Lust hast, dann laß es bleiben. Dann gehe ich eben allein. Aber das kann ich dir sagen, noch mal wirst du so was Großartiges in deinem ganzen Leben nicht zu sehen bekommen – das ist heute nacht ein welterschütterndes Ereignis. Und Pflicht eines jeden gebildeten Menschen ist es, demselben beizuwohnen.« Das klang so überzeugungsvoll, daß Nesthäkchen sich ganz ungebildet vorkam, daß es überhaupt noch schwanken konnte.

      »Ich werde mal sehen. Wenn Fräulein schläft, komme ich vielleicht mit«, sagte Annemarie schließlich, schon halb gewonnen.

      Den ganzen Nachmittag befand sie sich in begreiflicher Aufregung. Kaum vermochte sie die Gedanken für ihre Schularbeiten zu sammeln.

      Sollte sie, oder sollte sie nicht?

      Am Abend warf die deutsche Sommerzeit bereits ihre Schatten voraus. Das Braunsche Haus machte sie ganz rebellisch.

      Fräulein deckte den Abendbrottisch.

      »Ist es denn schon so spät, Fräulein?« verwunderte sich die Großmama.

      »Ja, in fünf Minuten acht. Hanne wird gleich die Milchnudeln hereinbringen.«

      Die weiblichen Familienmitglieder nahmen um den Tisch Platz. Klaus war nie pünktlich zur Stelle. Großmama klingelte nach dem Essen. Eigentlich hatte sie noch gar keinen rechten Appetit.

      Die Köchin erschien mit verdutztem Gesicht, aber ohne Milchnudeln.

      »Ja, was soll denn das bedeuten? Heut’ ist doch noch nich morjen, und überhaupt ich mache die varrickte Zucht nich mit. Ich hab’ eben erst die Nudeln aufjesetzt«, rief die Küchenfee brummig.

      Der Hanne, die schon so lange im Hause war, nahm man ein offenes Wort nicht übel. Wenn sie auch manchmal polterte, sie meinte es herzensgut.

      »Aber Hanne, sehen Sie doch mal nach der Uhr, es ist ja bereits acht«, sagte Großmama denn auch nur, auf die Standuhr in der Ecke weisend.

      »Meine Küchenuhr ist erst sieben«, knurrte Hanne.

      »Dann geht sie nach«, entschied Fräulein. »Die Uhren im Wohn-und Sprechzimmer schlagen auch gerade acht.«

      »Meinetwejen, denn führ’ ich eben die allerneuste Sommerzeit ein – vor ’ner Stunde kann nich jejessen werden«, wütend verschwand die Köchin.

      »Mit der Hanne ist es jetzt während des Krieges manchmal gar nicht mehr auszuhalten. Sage ich, sie nimmt zuviel Fett zu den Speisen, dann faßt sie das als persönliche Beleidigung auf. Jede Kriegssparsamkeit, jedes Haushalten ist ihr gegen die Natur,« seufzte die Großmama.

      »Sie