Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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von einem Bäckerladen zum andern jagte, weil überall das Brot bereits ausverkauft war, nahm sie unterwegs die Marken ab und schleppte noch drei Brote, die sie Gott weiß wo aufstöberte, heim. Unverdrossen lief Doktors Nesthäkchen treppauf, treppab, denn auf der Straße und in den Geschäften war es heute hochinteressant. Auf den Straßen kribbelte es geschäftig wie in einem Ameisenstaat durcheinander. Hier traf sie Margot Thielen, dort ein anderes Mädel aus der Schule. Und alles rannte, kaufte und schleppte, als ginge es gleich los mit dem Verhungern. Vor den Lebensmittelgeschäften staute sich das Publikum. Und als man dann endlich alles zu Hause hatte, gab’s neue Aufregung. Margot Thielen trommelte Sturm gegen die Balkonwand.

      »Du, Annemie, ihr sollt gleich alle Eimer und Gefäße, die ihr habt, mit Wasser füllen, läßt Mutter euch sagen. Die Wasserwerke streiken, in Moabit gibt’s schon kein Wasser mehr. Meine Tante hat’s eben telephoniert.«

      »Mutti – Hanne – das Wasser wird abgesperrt, schnell noch soviel Wasser als möglich einlassen, sonst müssen wir verdursten und können uns nicht mehr waschen.« Nesthäkchen war in grenzenloser Aufregung. Es begann, kleine Milchtöpfe, die zur Zierde auf dem Küchenbrett standen, schleunigst mit Wasser zu füllen – bums – da lag einer in Scherben auf den Steinfliesen.

      »Verdrehte Zucht,« knurrte Hanne und lief mit sämtlichen Kochtöpfen, Tiegeln und Suppenterrinen zur Wasserleitung, als ob es brenne.

      »Vor allen Dingen die Badewanne voll Wasser, die Krüge, Eimer und Karaffen, daß es schafft.« Doktor Braun erschien in höchsteigener Person, um Anweisungen zu geben.

      »Lotte, bist du denn nicht gescheit, daß du die zinnernen Humpen herausschleppst! Fülle lieber die Waschschüsseln. Der Klaus hat doch nichts als Dummheiten im Kopf. Da füllt er sämtliche kleinen Likörgläschen mit Wasser. Bengel, mach, daß du aus der Küche kommst!« Die Verwirrung war unbeschreiblich. Einer lief immer dem andern in den Weg.

      »Is ja man allens bloß umsonst. Die denken ja jar nich dran, das Wasser abzusperren,« brummte Hanne wütend, die sich aus dem Labyrinth von Eimern, Töpfen und Gefäßen nicht mehr herausfand.

      Aber die schlaue Hanne irrte sich diesmal. Als Annemarie gerade noch schnell die Gießkanne mit Wasser versehen wollte, damit ihre Tausendschönchen und Tomaten auf dem Balkon nicht Not leiden sollten – schwupp – da war’s zu Ende.

      Am Abend kroch die ganze Braunsche Familie mit einbrechender Dunkelheit ins Bett. Klaus hatte seine Erfindung an der Karbidlampe so glänzend gemacht, daß sie nun auch wie Gas und Elektrizität zu streiken begann und überhaupt nicht mehr brannte. Nur gut, daß man im Monat Juni und nicht im Dezember war.

      Am andern Morgen, als Annemarie und Margot zur Schule gingen, war das Straßenbild völlig verändert. Keine Bahn fuhr, weder die Elektrische noch die Stadt-oder Hochbahn. Kein Auto, keine Droschke. Alles lief geschäftig zu Fuß. Auch in der Schule gab es ein Durcheinander. Lehrer und Schülerinnen, welche in den Vororten wohnten und auf Bahnverbindung angewiesen waren, fehlten. Vor allem aber fehlte der nötige Ernst und die richtige Sammlung zur Arbeit.

      »Wir streiken auch, wir kommen morgen auch nicht zur Schule. Wenn Generalstreik ist, brauchen wir allein nicht zu arbeiten,« ließ sich ein Faulpelz hören.

      Dieser Vorschlag wurde allgemein begeistert angenommen. Allerdings nur von den Schülerinnen. Fräulein Drehmann, der man den Entschluß in der Geographiestunde unterbreitete, hielt den Mädeln eine tüchtige »Standpauke«. Das war die übliche Bezeichnung für Strafpredigt. Ob sie sich denn nicht schämten, das Unheil, das durch die Streiktage wieder über das deutsche Volk hereinbräche, noch vermehren zu wollen. Daß jeder die Verpflichtung habe, in solcher Zeit doppelt alle Kräfte anzuspannen. Und daß ganz besonders die Jugend daran arbeiten müsse, das zu Boden liegende Deutschland wieder in die Höhe zu bringen.

      Da verzichtete die Obersekunda großmütig auf ihren Streik. Marlene Ulrich machte der Generalstreik schwere Sorgen. Allerdings nicht wegen der durch denselben gefährdeten Volkswohlfahrt, trotzdem sie sonst ein verständiges Mädchen war. Nein, ihre Geburtstagsfeier sollte dadurch ins Wasser fallen. Man hatte einen Dampferausflug an die Oberspree geplant, mit Kaffeekochen und selbstgebackenem Kuchen und mitgenommenen Abendbrotstullen. Eine richtige Berliner Landpartie. Alle Kränzchenschwestern waren schon wochenlang dazu geladen. Und nun streikte auch die Dampfschiffahrt. Solche Ruppigkeit!

      »Und ob meine Mutter überhaupt Kuchen backen kann, ist noch sehr die Frage. Man muß doch seine Mehl-und Fettvorräte in solcher Zeit zusammenhalten,« tat Marlene betrübt den nicht weniger betrübten Freundinnen kund.

      Annemarie Brauns fröhlicher Sinn ließ sich durch solche Kleinigkeiten nicht niederdrücken. »Dann bringen wir uns jeder unsere Marmeladenstullen zum Kaffee mit. Wir kommen auf alle Fälle, und wenn wir den weiten Weg hin und her auf Schusters Rappen machen,« tröstete sie.

      Aber die verschiedenen Eltern hatten leider auch noch ein Wörtchen mitzusprechen. Bei der Gluthitze, die in den Großstadtstraßen doppelt siedend empfunden wurde, sollte weder Annemarie, noch Marianne und Vera die weite Strecke bis in den Mittelpunkt der Stadt zu Fuß zurücklegen. So sah es mit Marlenchens Geburtstag bös aus, wenn nicht noch ein Wunder eintrat.

      Und das Wunder geschah.

      Nicht etwa, daß der Streik zu Ende ging. Aber eines Morgens, als man zur Schule zog, war es da. Wie aus der Erde emporgewachsen: Wagen in allen Größen, von allen Formen und sonst den verschiedensten Zwecken dienend. Jetzt aber hatten sie nur den einen Zweck, Menschen zu befördern. War das ein merkwürdiges Bild! Auf den Plätzen eine richtige Wagenburg. Man war plötzlich wieder aus dem Zeitalter der Elektrizität um hundert Jahre zurückversetzt. Ein Gekribbel und Gekrabbel von Wagen und Pferden. Ein Ausrufen und Durcheinanderschreien der Kutscher und Besitzer. Und mitten unter ihnen thronte der Berliner Volkswitz und schwang lachend sein Zepter.

      »Hier, junge Frau, können Sie für zwei Märker bis nach dem Stettiner Bahnhof jondeln« – »ein Platz hier noch in meiner Equipage« – »na, Mutterken, soll ick Ihnen auf’n Bock verladen« – »fünfzig Fennich hier de Kremserfahrt, es jeht so schnell wie mit’s Luftschiff,« schrien sie durcheinander.

      Annemarie, Margot und Vera waren starr vor Staunen. »Seht doch bloß, da fahren ja Leute mit ’nem Möbelwagen. Bänke und Stühle haben sie daraufgestellt – nein, ist das ulkig!«

      »Und da im Schlächterwagen werden auch Menschen statt Ochsen aufgeladen,« gab Annemarie lachend zurück.

      »Oh, die schwarze Kohlenwagens, da ich nicht möchten fahren mit.« Vera schüttelte sich. Und trotzdem war er dicht besetzt mit Menschen, die alle in die Stadt mußten und nicht laufen wollten.

      »Einsteigen, Fräuleinchen, immer rin! Mit mich fahren Se trotz fünfundzwanzig Jrad Hitze kühl wie auf’n Nordpol,« rief es von einem Kutscherbock herab den drei hübschen Mädeln zu. Der Wagen trug ein Schild »Norddeutsche Eiswerke«.

      War es da ein Wunder, daß sie über all das Außergewöhnliche und Belustigende, was die Straße heute bot, den Schulanfang versäumten? Daß Fräulein Neuberts Eulenaugen strafend den Verspäteten entgegenfunkelten? Und daß mitten in der Stunde die lebhafte Annemarie plötzlich in schwer verhaltenen Jubel ausbrach: »Marlene, wir machen an deinem Geburtstag eine Kremserlandpartie zu dir!«

      Keine kam heute pünktlich zu Tisch nach Hause. Es gab zuviel unterwegs zu sehen und zu bestaunen.

      »Ganz Berlin auf Rädern,« sagte der Vater, als das Fräulein Tochter erst nach der Suppe zu erscheinen geruhte. »Deine Räder aber scheinen stillgestanden zu haben.« Er sah ärgerlich aus: denn trotz seiner weitverzweigten Praxis hielt er selbst die Mahlzeiten pünktlich inne, sogar jetzt bei den erschwerten Verkehrsverhältnissen. Aber als sein Nesthäkchen in ihrer drolligen Art der Mutter ein treffendes Bild von den Straßenszenen gab, war er bald wieder besänftigt. Ein Teufelsmädel, seine Lotte!

      Die Lebensmittelgeschäfte öffneten sich wieder, und Frau Rechtsanwalt Ulrich konnte Geburtstagskuchen backen. In der Obersekunda nahm man lebhaft Notiz davon.

      »Seid pünktlich um vier da, sonst wird der Kaffee kalt,« bat das Geburtstagskind.

      Das