begannen zu verlöschen, der Lärm der Fußgänger verstummte nach und nach — das Dorf ging zur Ruhe und überließ den kleinen Wächter dem Schweigen und den Gespenstern. Elf Uhr schlug‘s, und das Licht im Wirtshaus erlosch; jetzt herrschte überall Finsternis. Huck wartete, schien ihm, sehr lange Zeit, aber nichts geschah. Unruhe überkam ihn. Wenn alles umsonst war? Wenn er genarrt wurde? Warum nicht die Sache aufgeben und sich davon machen?
Da hörte er eine Stimme. Sofort war er ganz Aufmerksamkeit. Vorsichtig wurde die Gangtür geschlossen. Schnell drückte er sich in eine Ecke an der Mauer. Im nächsten Augenblick huschten zwei Männer vorbei, und einer schien etwas unter dem Arm zu haben. Das mußte die Kiste sein! So wollten sie also heute den Schatz vergraben. Ob er Tom weckte? Es wäre Wahnsinn gewesen — die Leute wären mit der Kiste entwischt und niemand hätte sie jemals gefunden. Nein, er wollte ihnen folgen; er wollte sich unter dem Schutze der Finsternis ihnen an die Fersen heften. So mit sich selbst sprechend, kam Huck hervor und glitt hinter den Männern her, leise wie eine Katze, barfuß, gerade so weit von ihnen entfernt, um nicht gesehen zu werden.
Eine Zeitlang gingen sie die Flußstraße aufwärts und wandten sich dann durch eine kleine Gasse seitwärts. Immer steil hinauf kamen sie schließlich an den Weg, der nach Cardiff Hill hinaufführte; diesen schlugen sie ein. Sie kamen am Haus des alten Wallisers vorbei, in halber Höhe des Hügels, und stiegen, ohne sich aufzuhalten, immer noch höher. Gut, dachte Huck, sie werden‘s im alten Steinbruch vergraben. Aber auch da hielten sie nicht an. Sie gingen vorbei, ganz auf den Hügel. Dann schwenkten sie in den Weg durch den großen Sumachwald ein und waren auf einmal in der Finsternis verschwunden. Huck beeilte sich die Entfernung zu verringern, denn er war sonst nicht mehr imstande, sie im Auge zu behalten. Eine Weile rannte er vorwärts; dann hielt er inne, aus Furcht, zu weit geraten zu sein; rannte wieder ein Stück vorwärts, und hielt wieder; horchte; nichts zu hören; nur, daß er das Klopfen des eigenen Herzens hörte. Der Schrei einer Eule ertönte — unheilverkündend; aber keine Fußtritte. Himmel, hatte er sie verloren? Er war im Begriff, Hals über Kopf vorwärts zu stürzen, als jemand nicht vier Fuß vor ihm sich räusperte. Das Herz fuhr Huck in die Kehle, aber er bezwang sich. Und dann stand er da, zitternd, als hätten ihn tausend Fieber auf einmal gepackt, und so schwach, daß er gleich umfallen zu müssen meinte. Er wußte, wo er war. Er wußte, er war nicht fünf Schritt von dem Zaun entfernt, der um den Grund und Boden der Witwe Douglas führte. „Famos,“ dachte er, „mögen sie‘s hier vergraben, ‘s wird nicht schwer sein, es hier wieder zu finden.“
Jetzt hörte er eine leise Stimme — eine sehr leise Stimme — die des Indianer-Joe:
„Hol sie der Teufel — muß sie grad‘ heut Gesellschaft haben — ‘s ist Licht, so spät‘s auch ist!“
„Kann nicht sehn!“
Dies war des Fremden Stimme — des Fremden aus dem Beinhaus. Tödlicher Schreck durchfuhr Hucks Herz — dies also war die „Rache!“ Sein erster Gedanke war auszureißen. Dann erinnerte er sich, wie die Witwe Douglas mehr als einmal freundlich gegen ihn gewesen sei — und wer weiß, ob diese da nicht die Absicht hatten, sie zu ermorden! Er sehnte sich nach einer Gelegenheit, sie zu warnen. Aber er wußte, er könnte ‘s nicht wagen; sie würden ihn kriegen und umbringen. All dies und noch anderes ging ihm in einem Augenblick durch den Kopf zwischen den Worten des Fremden und den nächsten Joes.
„Weil der Busch dir im Wege ist. So — hierher — kannst du jetzt sehn?“
„Ja. Denk auch, ‘s ist Gesellschaft da. Besser, wir geben‘s auf.“
„Aufgeben, wo ich dies Land für immer verlassen soll! Aufgeben und nie wieder ‘ne Gelegenheit haben! Sag‘ dir nochmal, was ich dir schon mal gesagt hab‘ — brauch‘ ihre Pfennige nicht — kannst du haben. Aber ihr Mann war gemein gegen mich — oft genug — und er war der Richter, der mich zu ‘nem Landstreicher gemacht hat. Und ‘s ist nicht alles! ‘s ist noch nicht der millionste Teil davon! Gepeitscht hat er mich — gepeitscht vorm Gefängnis — wie ‘nen Nigger! Das ganze Dorf konnt‘s sehen! Gepeitscht!! Verstehst du? Er ist mir zuvorgekommen — er ist tot. Aber sie soll dran!“
„Bitt‘ dich — töt‘ sie nicht! Tu‘s nicht!“
„Töten? Wer spricht von töten? Ihn würd‘ ich abschneiden, wenn er hier wär‘ — sie nicht. Wenn man sich an ‘ner Frau rächen will — die muß man an der Fratze packen! Schneid‘t ihr die Nase auf und stutzt ihr die Ohren — wie ‘nem Schwein!“
„Teufel —“
„Behalt deine verdammte Meinung für dich! Wird‘s beste für dich sein! Werd‘ sie ans Bett festbinden. Wenn sie sich zu Tode blutet — was kann ich dafür? Werd‘ nicht drum heulen, wenn sie‘s tut. Du, mein Freund — wirst mir dabei helfen — auf meine Rechnung — hab‘ dich nur dazu mitgenommen — möcht‘ für mich allein zu viel sein. Wenn du davonläufst, hau‘ ich dich zusammen — verstehst du? Und wenn ich dich töte, bring‘ ich sie auch um — und dann, denk‘ ich, kann keiner ‘rauskriegen, wer das Geschäft besorgt hat.“
„Na, wenn‘s geschehen muß, rasch dran! Je eher, desto besser — mir läufts ohnehin schon über.“
„Jetzt tun? Wo Gesellschaft da ist? Sollt‘ dir wahrhaftig nicht trauen, scheint mir! — Nichts da — wollen warten, bis die Lichter aus sind — ‘s hat keine Eile.“
Huck fühlte, daß jetzt Stillschweigen eintreten werde — schrecklicher als das mörderischste Geschrei; so hielt er den Atem an und zog sich vorsichtig zurück, wobei er die Füße vorsichtig und fest aussetzte, immer auf einem Bein balanzierend, tastend und sich auf eine Seite legend, bald auf diese; dann auf die andere; und dann knackte ein Zweig unter seinen Füßen! Er hielt den Atem an und horchte. Nichts zu hören — vollkommene Stille. Seine Dankbarkeit war grenzenlos. Nun wandte er sich um, so vorsichtig, als wäre er ein Schiff gewesen, und trabte dann rasch, aber vorsichtig davon. Beim Steinbruch angekommen, hielt er sich für sicher; so nahm er die Beine unter die Arme und rannte in gestrecktem Galopp davon. Hinunter, immer weiter hinunter, bis er das Haus des Wallisers erreicht hatte. Er klopfte an die Tür und sofort erschienen die Köpfe des alten Mannes und seiner zwei handfesten Söhne am Fenster.
„Wer spektakelt da? Was für‘n Lärm draußen? Was gibt‘s?“
„Laßt mich ein — schnell! Werd‘ euch alles sagen!“
„So — wer ist‘s denn?“
„Huckleberry Finn — schnell, laß mich rein!“
„Huckleberry Finn — so! ‘s ist ein Name, denk ich, dem sich nicht viel Türen öffnen! Aber laßt ihn ‘rein, Burschen, woll‘n sehen, was er hat.“
„In des Himmels Namen — sagt‘s niemand, daß ich euch was erzählt hab‘,“ waren Hucks erste Worte, als er hineingelassen war. „Tut‘s nicht — würd‘ sicher getötet — aber die Witwe ist oft genug freundlich gegen mich gewesen und ich werd‘s sagen — werd‘s sagen, wenn ihr versprecht, nicht zu sagen, daß ich‘s gesagt hab‘.“
„Bei St. Georg — er hat was zu sagen — oder er tät‘ nicht so,“ rief der Alte. „Heraus damit, und daß ihr‘s niemand sagt, Burschen!“
Drei Minuten später waren der Alte und seine Söhne wohlbewaffnet oben auf dem Hügel und drangen auf den Zehen in den Sumachwald ein, die Büchse in der Hand.
Huck begleitete sie nicht weiter. Er verbarg sich hinter einem Felsblock und lauschte.
Langes, angstvolles Schweigen — und dann plötzlich ein Schuß und ein Schrei!
Huck wartete nichts weiter ab. Er sprang auf und rannte den Hügel hinunter, so schnell ihn seine Beine tragen wollten.