‘s muß sein, Becky. Sie könnten uns doch hören, weißt du.“
Und er schrie abermals. Dieses „könnte“ war ebenso schrecklich wie das höhnische Lachen, es sprach so völlige Hoffnungslosigkeit daraus. Die Kinder verharrten in Schweigen und lauschten. Aber nichts war zu hören. Plötzlich wandte Tom sich auf demselben Weg zurück und beeilte seine Schritte. Es dauerte gar nicht lange, da enthüllte eine gewisse Unsicherheit in seinen Bewegungen Becky eine neue schreckliche Tatsache: er konnte den Weg nicht wiederfinden!
„Ach, Tom, du hast keine Zeichen mehr gemacht!“
„Becky, was war ich für ‘n Esel! Was für ‘n Esel! Dachte gar nicht dran, daß wir wieder zurück müßten. Und jetzt kann ich den Weg nicht mehr finden; ‘s geht ja so durch‘nander!“
„Tom, Tom, wir sind verloren! wir sind verloren! Nie, nie wieder kommen wir aus dieser gräßlichen Höhle heraus! Ach, warum sind wir nicht bei den anderen geblieben!“
Sie sank nieder und brach in so herzzerreißendes Weinen aus, daß Tom von dem Gedanken gepackt wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren. Er setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie, sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, sie weinte sich aus, klagte sich an, zerfloß in nutzloser Reue; und das ferne Echo gab alles als höhnisches Gelächter zurück. Tom bat sie, wieder Mut zu fassen, und sie sagte, sie könne es nicht. Er begann, sich selbst bitter anzuklagen, da er sie in diese fürchterliche Lage gebracht habe. Dies wirkte. Sie sagte, sie wolle wieder Hoffnung zu fassen versuchen, sie wolle sich aufraffen und ihm folgen, wohin er sie auch führen würde, wenn er nur so etwas nicht wieder reden wolle; denn er sei nicht schlimmer als sie selbst.
So setzten sie sich also wieder in Bewegung — ziellos, lediglich dem Zufall sich überlassend. Alles, was sie tun konnten, war ja, vorwärts zu gehen. Während kurzer Zeit belebte sie schwache Hoffnung, nicht auf Grund irgendwelcher Überlegung, sondern lediglich, weil es in der Natur liegt, zuversichtlich zu sein, so lange Alter und die Gewohnheit des Mißlingens ihr noch nicht die Schwingen gebrochen haben. Plötzlich nahm Tom Beckys Kerze und blies sie aus. Diese Sparsamkeit sprach schrecklich deutlich. Worte waren nicht nötig. Becky verstand, und ihre Hoffnung starb wieder. Sie wußte, Tom hatte eine ganze Kerze und drei oder vier Stückchen in der Tasche — und doch mußte er sparen!
Dann begann sich Müdigkeit geltend zu machen. Die Kinder versuchten, ihr nicht nachzugeben, denn der Gedanke, sich zu setzen und dadurch eine Menge kostbarer Zeit zu verlieren, stachelte sie wieder auf; sich bald in dieser, bald in jener Richtung fortzubewegen, war doch immerhin Fortschritt und konnte irgend welchen Erfolg haben; aber sich setzen, hieß den Tod herbeirufen und beschleunigen.
Schließlich versagten Beckys zarte Glieder den Dienst, sie setzte sich. Tom blieb bei ihr, und sie sprachen von zu Hause, ihren Freunden, ihren bequemen Betten, und vor allem — dem Tageslicht! Becky weinte, und Tom zermarterte sich das Hirn, um etwas zu ihrer Aufheiterung zu finden, aber all seine ermunternden Worte waren längst verbrauchte Argumente und klangen wie Hohn. Schließlich drückte die Erschöpfung so schwer auf Becky, daß sie in Schlaf verfiel. Tom war glücklich. Er saß da, starrte in ihr bekümmertes Gesichtchen und sah es sich immer mehr aufhellen unter dem Einfluß angenehmer Träume; schließlich breitete sich ein Lächeln darüber aus. Auch auf ihn schien aus diesen friedvollen Gesichtszügen etwas wie Frieden und Vergessenheit überzugehen, seine Gedanken verloren sich in vergangenen Tagen und zauberten schöne Erinnerungen hervor. Während er tief darin versunken war, wachte Becky mit einem reizenden, kleinen Lachen auf — aber es erstarb ihr auf den Lippen, und ein Stöhnen folgte ihm.
„O, wie konnte ich schlafen! Ich wollt‘, ich wär‘ nie, nie wieder aufgewacht! Nein, nein, Tom, ‘s ist ja nicht wahr, Tom! Schau nicht so! Ich will‘s ja nicht wiedersagen!“
„Becky, ich war so froh, daß du schliefst; jetzt bist du wieder stark, und wir werden den Weg heraus schon finden!“
„Wollen‘s versuchen, Tom! Aber ich hab‘ im Traum so ‘n schönes Land gesehen. Ich glaub‘ dahin gehen wir beide jetzt.“
„Nein, nein! Sei lieb, Becky, und laß uns gehen und ‘s versuchen.“
Sie standen auf und gingen weiter, Hand in Hand und hoffnungslos. Sie versuchten, sich vorzustellen, wie lange sie schon in der Höhle seien, aber alles, was sie wußten, war, daß es Tage und Wochen schienen, und doch war‘s nicht möglich, da ihre Kerzen ja immer noch brannten.
Eine lange Zeit war vergangen — sie hätten nicht sagen können, eine wie lange — als Tom vorschlug, leise zu gehen und zu horchen, ob sie nicht irgendwo Wasser tropfen hörten, sie müßten eine Quelle finden. Bald fanden sie wirklich eine, und Tom meinte, es sei wieder an der Zeit, auszuruhen. Beide waren schrecklich müde, doch Becky erklärte, noch weiter gehen zu können. Sie wunderte sich, daß Tom widersprach. Sie verstand das nicht. Sie setzten sich und Tom befestigte seine Kerze an der Wand vor ihnen. Wieder wurde ihnen schwer zumute. Lange herrschte tiefes Schweigen. Da wimmerte Becky: „Tom, ich bin so hungrig!“
Tom zog etwas aus der Tasche.
„Kennst du das?“ fragte er.
Becky lächelte beinahe. „‘s ist unser Hochzeitskuchen, Tom!“
„Ja — wollt‘, ‘s wär‘ so groß wie ‘n Balken, denn ‘s ist alles, was wir haben.“
„Ich hab‘s vom Picknick aufbewahrt, Tom, um davon zu träumen, wie ‘s die erwachsenen Leute mit dem Hochzeitskuchen machen — aber nun wird‘s unser —“
Sie ließ den Satz unvollendet. Tom teilte den Kuchen und Becky aß mit Appetit, während er nur daran herumknapperte. Es gab eine Menge kaltes Wasser — zum Beschluß der Mahlzeit. Bald schlug Becky vor, weiter zu gehen. Tom schwieg einen Augenblick, dann sagte er:
„Becky, kannst du‘s ertragen, wenn ich dir was sage —?“
Becky wurde totenblaß, aber sie sagte, sie dächte.
„Na also, Becky, wir müssen hier bleiben, wo‘s Trinkwasser gibt. Dies kleine Stückchen da ist unser letztes Licht!“
Nun brach Becky doch in Tränen aus und wimmerte leise. Tom tat, was er konnte, sie zu beruhigen, aber mit schwachem Erfolg. Schließlich hauchte Becky: „Tom!“
„Na, Becky?“
„Sie müssen uns doch vermissen und nach uns suchen!“
„Gewiß, müssen sie! Selbstverständlich müssen sie!“
„Suchen sie uns wohl jetzt schon, Tom?“
„Na, ich denk‘ doch, sie tun‘s! — Hoff‘ wenigstens, sie tun‘s.“
„Wann mögen Sie uns vermißt haben, Tom?“
„Denk‘ doch — wie sie zum Dampfboot zurückgingen.“
„Tom, ‘s mußte doch dunkel sein — konnten sie‘s merken, daß wir nicht kamen?“
„Glaub‘ kaum. Aber dann mußte deine Mutter es merken, wie die andern nach Haus kamen.“
Ein erschreckter Blick aus Beckys Augen brachte Tom zur Besinnung, und ihm fiel ein, daß er sich da einem traurigen Irrtum hingegeben hatte. Becky sollte zur Nacht ja gar nicht heimkommen! Die Kinder wurden still und nachdenklich. Dann belehrte ein neuer Anfall von Verzweiflung bei Becky Tom, daß sie denselben Gedanken hatte wie er — daß der Sonntagmorgen zur Hälfte vergehen konnte, bevor Frau Thatcher erfuhr, daß Becky nicht bei Harpers gewesen sei. Die Kinder hefteten die Augen auf das Kerzenrestchen und beobachteten, wie es erbarmungslos kleiner und immer kleiner wurde; sahen, wie schließlich nur noch ein halber Zoll Docht übrig war; sahen die Flamme flackern, auf und nieder, eine kleine Rauchsäule von dem Docht aufsteigen, und dann — dann herrschte der Schrecken vollkommener Finsternis.
Wie