seine Stimme klang froher, als sie bis jetzt geklungen hatte. »Wir wollen wieder hierherkommen, dann sagst du mir's noch einmal.«
Während dieser ganzen Zeit hatte der Peter genug zu tun gehabt, seinem Ärger Luft zu machen. Da war das Heidi seit vielen Tagen nicht mit auf der Weide gewesen, und nun, da es endlich einmal wieder mit war, saß der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und der Peter konnte gar nicht an das Heidi herankommen. Das verdroß ihn sehr stark. Er stellte sich in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Herrn auf, so daß dieser ihn nicht sehen konnte, und hier machte er erst eine große Faust und schwang sie drohend in der Luft herum, und nach einiger Zeit machte er zwei Fäuste, und je länger das Heidi neben dem Herrn sitzen blieb, je schrecklicher ballte der Peter seine Fäuste und streckte sie immer höher und drohender in die Luft hinauf hinter dem Rücken des Bedrohten.
Unterdessen war die Sonne dahin gekommen, wo sie steht, wenn man zu Mittag essen muß; das kannte der Peter genau. Auf einmal schrie er aus allen Kräften zu den zweien hinüber:
»Man muß essen!«
Heidi stand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Herr Doktor auf dem Platze, wo er saß, sein Mittagsmahl abhalten könne. Aber er sagte, er habe keinen Hunger, er wünsche nur ein Glas Milch zu trinken, dann wolle er gern noch ein wenig auf der Alp umhergehen und etwas weiter hinaufsteigen. Da fand das Heidi, dann habe es auch keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und nachher wolle es den Herrn Doktor hinaufführen zu den großen, moosbedeckten Steinen hoch oben, wo der Distelfink einmal fast hinuntergesprungen wäre und wo alle die würzigen Kräutlein wuchsen. Es lief zum Peter hinüber und erklärte ihm alles und daß er nun erst eine Schale Milch vom Schwänli nehmen müsse für den Herrn Doktor und dann noch eine, die wolle es für sich haben. Der Peter schaute erst eine Weile sehr erstaunt das Heidi an, dann fragte er:
»Wer muß haben, was im Sack ist?«
»Das kannst du haben, aber zuerst mußt du die Milch geben, und hurtig«, war Heidis Antwort.
So rasch hatte der Peter in seinem Leben noch keine Tat vollendet, als er nun diese fertigbrachte, denn er sah immer den Sack vor sich und wußte noch nicht, wie das aussah, was drinnen war und ihm gehörte. Sobald drüben die beiden ruhig ihre Milch tranken, öffnete der Peter den Sack und tat einen Blick hinein. Als er das wundervolle Stück Fleisch gewahr wurde, da schüttelte es den ganzen Peter vor Freude, und er tat noch einen Blick hinein, um sich zu versichern, daß es auch wahr sei. Dann fuhr er mit der Hand in den Sack hinein, um die erwünschte Gabe zum Genuß herauszuholen. Aber auf einmal zog er die Hand wieder zurück, als ob er nicht zugreifen dürfe. Es war dem Peter in den Sinn gekommen, wie er dort hinter dem Herrn gestanden und gegen ihn gefaustet hatte, und nun schenkte ihm derselbe Herr sein ganzes unvergleichliches Mittagsessen. Jetzt reute den Peter seine Tat, denn es war ihm gerade so, wie wenn sie ihn verhinderte, sein schönes Geschenk herauszunehmen und sich daran zu erlaben. Auf einmal sprang er in die Höhe und lief zurück auf die Stelle hin, wo er gestanden hatte. Da streckte er seine beiden Hände ganz flach in die Luft hinauf, zum Zeichen, daß das Fausten nicht mehr gelte, und so blieb er eine gute Weile stehen, bis er das Gefühl hatte, die Sache sei nun wieder ausgeglichen. Dann kam er in großen Sprüngen zu dem Sack zurück, und nun, da das gute Gewissen hergestellt war, konnte er mit vollem Vergnügen in sein ungewöhnlich leckeres Mittagsmahl beißen.
Der Herr Doktor und das Heidi waren lange miteinander herumgewandert und hatten sich sehr gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es sei Zeit für ihn zurückzukehren, und meinte, das Kind wolle nun auch gern noch ein wenig bei seinen Geißen bleiben. Aber das kam dem Heidi nicht in den Sinn, denn dann mußte ja der Herr Doktor mutterseelenallein die ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Hütte vom Großvater wollte es ihn durchaus begleiten und auch noch ein Stück darüber hinaus. Es ging immer Hand in Hand mit seinem guten Freunde und hatte auf dem ganzen Wege ihm noch genug zu erzählen und ihm alle Stellen zu zeigen, wo die Geißen am liebsten weideten und wo es im Sommer am meisten von den glänzenden gelben Weideröschen und vom roten Tausendgüldenkraut und noch anderen Blumen gebe. Die wußte es nun alle zu benennen, denn der Großvater hatte ihm den Sommer durch alle ihre Namen beigebracht, so, wie er sie kannte. Aber zuletzt sagte der Herr Doktor, nun müsse es zurückkehren. Sie nahmen Abschied, und der Herr ging den Berg hinunter, doch kehrte er sich von Zeit zu Zeit noch einmal um. Dann sah er, wie das Heidi immer noch auf derselben Stelle stand und ihm nachschaute und mit der Hand ihm nachwinkte. So hatte sein eigenes, liebes Töchterchen getan, wenn er von Hause fortging.
Es war ein klarer, sonniger Herbstmonat. Jeden Morgen kam der Herr Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine schöne Wanderung. öfters zog er mit dem Almöhi aus, hoch in die Felsenberge hinauf, wo die alten Wettertannen herunternickten und der große Vogel in der Nähe hausen mußte, denn da schwirrte er manchmal sausend und krächzend ganz nahe an den Köpfen der beiden Männer vorbei. Der Herr Doktor hatte ein großes Wohlgefallen an der Unterhaltung seines Begleiters, und er mußte sich immer mehr verwundern, wie gut der Öhi alle Kräutlein ringsherum auf seiner Alp kannte und wußte, wozu sie gut waren, und wieviel kostbare und gute Dinge er da droben überall herauszufinden wußte; so in den harzigen Tannen und in den dunklen Fichtenbäumen mit den duftenden Nadeln, in dem gekräuselten Moos, das zwischen den alten Baumwurzeln emporsproß, und in all den feinen Pflänzchen und unscheinbaren Blümchen, die noch ganz hoch oben dem kräftigen Alpenboden entsprangen.
Ebenso genau kannte der Alte auch das Wesen und Treiben aller Tiere da oben, der großen und der kleinen, und er wußte dem Herrn Doktor ganz lustige Dinge von der Lebensweise dieser Bewohner der Felsenlöcher, der Erdhöhlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzählen.
Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf diesen Wanderungen, er wußte gar nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Öhi herzlich die Hand zum Abschiede schüttelte, mußte er von neuem sagen: »Guter Freund, von Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben.«
An vielen Tagen aber, und gewöhnlich an den allerschönsten, wünschte der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann saßen die beiden öfter miteinander auf dem schönen Vorsprunge der Alp, wo sie am ersten Tage gesessen hatten, und das Heidi mußte wieder seine Liederverse sagen und dem Herrn Doktor erzählen, was es nur wußte. Dann saß der Peter öfter hinter ihnen an seinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und faustete nie mehr.
So ging der schöne Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor eines Morgens und sah nicht so fröhlich aus, wie er sonst immer ausgesehen hatte. Er sagte, es sei sein letzter Tag, er müsse nach Frankfurt zurückkehren; das mache ihm große Mühe, denn er habe die Alp so liebgewonnen, als wäre sie seine Heimat. Dem Almöhi tat die Nachricht sehr leid, denn auch er hatte sich überaus gern mit dem Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte sich so daran gewöhnt, alle Tage seinen liebevollen Freund zu sehen, daß es gar nicht begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen sollte. Es schaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war wirklich so. Der Herr Doktor nahm Abschied vom Großvater und fragte dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht fassen, daß er ganz fortgehe.
Nach einer Welle stand der Herr Doktor still und sagte, nun sei das Heidi weit genug gekommen, es müsse zurückkehren. Er fuhr ein paarmal zärtlich mit seiner Hand über das krause Haar des Kindes hin und sagte: »Nun muß ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach Frankfurt nehmen und bei mir behalten könnte!«
Dem Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen, vielen Häuser und steinernen Straßen und auch Fräulein Rottenmeier und die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: »Ich wollte doch lieber, daß Sie wieder zu uns kämen.«
»Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi«, sagte freundlich der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die seinige hinein und schaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm niederblickten, füllten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Herr Doktor rasch und eilte den Berg hinunter.
Das Heidi blieb stehen und rührte sich nicht. Die liebevollen Augen und das Wasser, das es darinnen gesehen hatte, arbeiteten stark in seinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit aller Macht stürzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen unterbrochen, aus allen Kräften: