Da guckte der Peter hin und sagte höhnisch: »Hat keins.«
»Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kasten hat?« fragte das Heidi. »Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm, und wenn man ihn herausnimmt, so kann man nur sagen: >Schau nach dem Stecken an der Wand!<«
Der Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich über sein W und suchte es zu erfassen.
Am anderen Tage hieß es:
»Willst du noch das X vergessen,
Kriegst du heute nix zu essen.«
Da schaute der Peter forschend zu dem Schrank hinüber, wo das Brot und der Käse darinlagen, und sagte ärgerlich: »Ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich das X vergessen wolle.«
»Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann können wir auch gleich noch einen lernen«, schlug das Heidi vor, »dann hast du morgen nur noch einen einzigen Buchstaben.«
Der Peter war nicht einverstanden. Aber schon las das Heidi:
»Machst du noch Halt beim Y,
Kommst du mit Hohn und Spott davon.«
Da stiegen vor Peters Augen alle die Herren in Frankfurt auf mit den hohen schwarzen Hüten auf den Köpfen und Hohn und Spott in den Gesichtern. Augenblicklich warf er sich auf das Ypsilon und ließ es nicht wieder los, bis er es so gut kannte, daß er die Augen zutun konnte und doch noch wußte, wie es aussah.
Am Tag darauf kam der Peter schon ein wenig hoch beim Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm das Heidi gleich den Spruch las:
»Wer zögernd noch beim Z bleibt stehn,
Muß zu den Hottentotten gehn!«,
da höhnte der Peter: »Ja, wenn kein Mensch weiß, wo die sind!«
»Freilich, Peter, das weiß der Großvater schon«, versicherte das Heidi. »Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist nur beim Herrn Pfarrer drüben.« Und schon war das Heidi aufgesprungen und wollte zur Tür hinaus.
»Wart«, schrie jetzt der Peter in voller Angst, denn schon sah er in seiner Einbildung den Almöhi mitsamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten übersenden würden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewußt, wie das Z hieß. Sein Angstgeschrei ließ das Heidi stillstehen.
»Was hast du denn?« fragte es verwundert.
»Nichts! Komm zurück! Ich will lernen«, stieß der Peter mit Unterbrechungen hervor. Aber das Heidi hätte jetzt selbst gern gewußt, wo die Hottentotten seien, und es wollte durchaus den Großvater fragen. Der Peter schrie ihm aber so verzweifelt nach, daß es nachgab und zurückkam. Nun mußte er aber auch etwas tun dafür. Nicht nur wurde das Z so manchmal wiederholt, daß der Buchstabe für alle Zeit in seinem Gedächtnis festsitzen mußte, sondern das Heidi ging gleich noch zum Syllabieren über, und an dem Abend lernte der Peter so viel, daß er um einen ganzen Ruck vorwärts kam. So ging es weiter Tag für Tag.
Der Schnee war wieder weich geworden, und darüberhin schneite es neuerdings einen Tag um den andern, so daß das Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in seiner Arbeit an dem Peter, daß er es ersetzen könne beim Liederlesen. So kam eines Abends der Peter heim vom Heidi, trat in die Stube ein und sagte:
»Ich kann's!«
»Was kannst du, Peterli?« fragte erwartungsvoll die Mutter.
»Das Lesen«, antwortete er.
»Ist auch das möglich! Hast du's gehört, Großmutter?« rief die
Brigitte aus.
Die Großmutter hatte es gehört und mußte sich auch sehr verwundern, wie das zugegangen sei.
»Ich muß jetzt ein Lied lesen, das Heidi hat's gesagt«, berichtete der Peter weiter. Die Mutter holte hurtig das Buch herunter, und die Großmutter freute sich, sie hatte so lange kein gutes Wort gehört. Der Peter setzte sich an den Tisch hin und begann zu lesen. Seine Mutter saß aufhorchend neben ihm; nach jedem Verse mußte sie mit Bewunderung sagen: »Wer hätte es auch denken können!«
Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Verse nach dem andern, sie sagte aber nichts dazu.
Am Tage nach diesem Ereignis traf es sich, daß in der Schule in Peters Klasse eine Leseübung stattfand. Als die Reihe an den Peter kommen sollte, sagte der Lehrer:
»Peter, muß man dich wieder übergehen, wie immer, oder willst du einmal wieder - ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen, an einer Linie herumzustottern?«
Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzusetzen.
Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf den Peter, so, als habe er desgleichen noch nie gesehen. Endlich sprach er: »Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Nun ich, obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe, geschieht es, daß du erscheinst und hast nicht nur das Buchstabieren, sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher können zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?«
»Vom Heidi«, antwortete dieser.
Höchst verwundert schaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz harmlos auf seiner Bank saß, so daß nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er fuhr fort:
»Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du früher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Umwandlung zum Guten in dich gekommen sein?«
»Vom Öhi«, war die Antwort.
Mit immer größerem Erstaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das
Heidi und von diesem wieder auf den Peter zurück.
»Wir wollen es noch einmal versuchen«, sagte er dann behutsam, und noch einmal mußte der Peter an drei Linien seine Kenntnisse erproben. Es war richtig, er hatte lesen gelernt.
Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Weise der Öhi und das Heidi in der Gemeinde wirkten.
Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die Großmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf.
Die Mutter Brigitte mußte sich noch täglich verwundern, daß der Peter dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, mußte sie wieder zur Großmutter sagen:
»Man kann sich doch nicht genug freuen, daß der Peterli das Lesen so schön erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm werden kann.«
Da antwortete einmal die Großmutter:
»Ja, es ist so gut für ihn, daß er etwas gelernt hat; aber ich will doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Frühling schickt, daß das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, wie wenn es ganz andere Lieder läse. Es fehlt so manchmal etwas in den Versen, wenn sie der Peter liest, und ich muß es dann suchen, und dann komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte liest.«
Das kam aber daher, weil der Peter sich beim Lesen ein wenig einrichtete, daß er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so ließ er es lieber ganz aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verse werde es der Großmutter wohl gleich sein, es kommen ja dann noch viele. So kam es, daß es fast keine Hauptwörter mehr hatte in den Liedern, die der Peter vorlas.