Bulgakow und seine Ergänzung der Marxschen Analyse
Der zweite Kritiker der "volkstümlerischen" Skepsis, S. Bulgakow, lehnt sofort die Struveschen "dritten Personen" als Rettungsanker der kapitalistischen Akkumulation rundweg ab. Er hat für sie nur ein Achselzucken. "Die Mehrheit der Ökonomen (bis Marx)" sagt er, "löste die Frage in dem Sinne, daß irgendwelche 'dritten Personen' nötig seien, um als Deus ex machina den gordischen Knoten zu durchhauen, d.h. den Mehrwert zu verzehren. Als solche Personen treten bald luxustreibende Grundbesitzer auf (wie bei Malthus), bald luxustreibende Kapitalisten, bald der Militarismus u.dgl. mehr. Ohne solche außerordentlichen Mittel könne der Mehrwert keinen Absatz finden: er werde auf den Märkten festgefahren und rufe Überproduktion und Krisen hervor."155 "So nimmt Herr Struve an, daß die kapitalistische Produktion sich in ihrer Entwicklung auf die Konsumtion irgendwelcher phantastischer dritter Personen stützen könne. Wo liegt denn aber die Quelle der Kaufkraft dieses grand public, dessen spezielle Bestimmung es ist, den Mehrwert zu verzehren?"156 Bulgakow seinerseits stellt das ganze Problem von vornherein auf die Analyse des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und seiner Reproduktion, wie sie Marx im zweiten Bande des "Kapitals" gegeben. Er begreift ausgezeichnet, daß man zur Lösung der Frage der Akkumulation erst mit der einfachen Reproduktion beginnen und sich ihren Mechanismus ganz klarmachen müsse. Hier sei es namentlich wichtig, sich über die Konsumtion des Mehrwerts und der Löhne derjenigen Produktionszweige klarzuwerden, die nichtkonsumierbare Produkte herstellen, und andererseits über die Zirkulation desjenigen Teils des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, der das verbrauchte konstante Kapital darstellt. Das sei eine ganz neue Aufgabe, deren sich die Ökonomen gar nicht einmal bewußt waren und die erst von Marx gestellt wurde. "Zur Lösung dieser Aufgabe teilt Marx alle kapitalistisch hergestellten Waren in zwei große und wesentlich verschiedene Kategorien. die Produktion von Produktionsmitteln und die Produktion von Konsummitteln. In dieser Einteilung allein ist mehr theoretischer Sinn verborgen, als in sämtlichen vorhergehenden Wortgefechten über die Theorie der Absatzmärkte."157
Man sieht, Bulgakow ist ein ausgesprochener und begeisterter Anhänger der Marxschen Theorie. Er formuliert auch als die Aufgabe seiner Studie die theoretische Nachprüfung der Lehre, daß der Kapitalismus ohne auswärtige Märkte nicht existieren könne. "Zu diesem Behufe hat der Verfasser die sehr wertvolle, aber - man weiß nicht warum - in der Wissenschaft fast nicht verwertete Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion benutzt, die K. Marx im zweiten Teil des zweiten Bandes des 'Kapitals' gibt. Obwohl diese Analyse nicht als abgeschlossen gelten kann, bietet sie doch u.E. auch in ihrer vorliegenden unbearbeiteten Fassung eine genügende Grundlage für eine andere Lösung der Frage von den Absatzmärkten als diejenige, die sich die Herren Nikolai-on, W. Woronzow und andere zu eigen gemacht haben und die sie K. Marx aufs Konto schreiben."158 Die Lösung, die Bulgakow aus Marx selbst abgeleitet hat, formuliert er folgendermaßen "Der Kapitalismus kann unter Umständen existieren ausschließlich dank dem inneren Markt; es liegt keine innere, der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche Notwendigkeit vor, daß nur der auswärtige Markt den Überschuß der kapitalistischen Produktion verschlingen kann. Dies der Schluß, zu dem der Verfasser auf Grund des Studiums der erwähnten Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion gelangt ist."
Und nun sind wir gespannt auf die Bulgakowsche Beweisführung für die angeführte These.
Sie fällt zunächst unerwartet einfach aus. Bulgakow gibt getreulich das uns bekannte Marxsche Schema der einfachen Reproduktion wieder, mit Kommentaren, die seinem Verständnis alle Ehre machen. Dann führt er das uns ebenso bekannte Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion an - und damit ist der gesuchte Beweis auch schon erbracht. "Auf Grund des Gesagten bietet es keine Schwierigkeit zu bestimmen, worin die Akkumulation bestehen wird: I (Abteilung der Produktionsmittel) muß die zur Produktionserweiterung erforderlichen zuschüssigen Produktionsmittel sowohl für sich wie für II (Abteilung der Konsummittel) herstellen, während hinwiederum II die zuschüssigen Konsummittel zur Erweiterung des variablen Kapitals I und II zu liefern haben wird. Sieht man von der Geldzirkulation ab, so reduziert sich die Produktionserweiterung auf den Austausch der zuschüssigen Produkte I, deren II bedarf, und der zuschüssigen Produkte II, deren I bedarf." Bulgakow folgt hier also getreulich den Ausführungen Marxens und merkt gar nicht, daß seine These bis jetzt immer noch auf dem Papier bleibt. Er glaubt mit diesen mathematischen Formeln die Frage der Akkumulation gelöst zu haben. Daß man sich die Proportionen, die er aus Marx abschreibt, wohl vorstellen kann, ist außer Zweifel. Ebenso sicher ist es, daß, wenn die Produktionserweiterung stattfinden soll, sie sich in diesen Formeln ausdrücken kann. Bulgakow übersieht aber die Hauptfrage: Für wen findet denn die Erweiterung statt, deren Mechanismus er untersucht? Da sich die Akkumulation in mathematischen Proportionen auf dem Papier darstellen läßt, so ist sie auch schon vollbracht. Doch nachdem Bulgakow soeben die Sache für gelöst erklärt hat, stößt er im nächsten Moment, bei dem Versuch, die Geldzirkulation in die Analyse hineinzuführen, auf die Frage: Wo kommt bei I und II das Geld für den Ankauf der zuschüssigen Produkte her? Wir haben bei Marx gesehen, wie die wunde Stelle seiner Analyse, die eigentliche Frage nach den Konsumenten für die erweiterte Produktion, in der schiefen Form der Frage nach zuschüssigen Geldquellen immer wieder zum Vorschein kommt. Bulgakow folgt hier sklavisch der Marxschen Betrachtungsweise und akzeptiert dieselbe mißverständliche Fragestellung. ohne die darin enthaltene Verschiebung zu merken. Er stellt freilich fest, daß "Marx selbst auf diese Frage in den Brouillonheften, nach denen der zweite Band des 'Kapitals' hergestellt ist, eine Antwort nicht gegeben hat". Um so interessanter muß die Antwort sein, die Marxens russischer Schüler auf eigene Faust abzuleiten versucht.
"Uns", sagt Bulgakow, "scheint der ganzen Marxschen Lehre die folgende Lösung am besten zu entsprechen. Das neue variable Kapital in Geldform, das II für I wie für sich selbst liefert, findet sein Warenäquivalent im Mehrwert II. Wir haben schon bei der Betrachtung der einfachen Reproduktion gesehen, daß die Kapitalisten selbst das Geld zur Realisierung ihres Mehrwerts in die Zirkulation werfen müssen und dieses Geld schließlich in die Tasche des Kapitalisten, von dem es ausging, zurückkehrt. Das Quantum Geld, das zur Zirkulation des Mehrwerts erforderlich ist, wird nach dem allgemeinen Gesetz der Warenzirkulation bestimmt, durch den Wert der Waren, worin er eingeschlossen ist, geteilt durch die Durchschnittszahl der Umschläge des Geldes. Dasselbe Gesetz findet auch hier Anwendung. Die Kapitalisten II müssen eine gewisse Summe Geldes zur Zirkulation ihres Mehrwerts haben, sie müssen folglich einen gewissen Geldvorrat besitzen. Dieser Vorrat muß genügend groß sein, damit er sowohl für die Zirkulation desjenigen Teils des Mehrwerts ausreicht, der den Konsumtionsfonds darstellt, wie desjenigen, der als Kapital akkumuliert werden soll." Weiter entwickelt Bulgakow den Standpunkt, daß es für die Frage, wieviel Geld zur Zirkulation eines bestimmten Warenquantums im Lande erforderlich ist, gar keinen Unterschied machte, ob ein Teil dieser Waren Mehrwert darstellt oder nicht. "Die allgemeine Frage aber, woher das Geld überhaupt im Lande kommt, wird in dem Sinne gelöst, daß dieses Geld durch den Goldproduzenten geliefert wird." Wird mit der Erweiterung der Produktion im Lande mehr Geld erforderlich, so wird eben auch die Goldproduktion dementsprechend erweitert.159 Wir landen also schließlich glücklich beim Goldproduzenten, der schon bei Marx die Rolle des Deus ex machina spielt. Man muß gestehen, daß Bulgakow die gespannten Erwartungen auf seine neue Lösung arg getäuscht hat. "Seine" Lösung der Frage ist über die von Marx gelieferte Analyse auch nicht um ein Jota hinausgegangen. Sie reduziert sich auf die folgenden äußerst einfachen drei Sätze: 1. Frage. Wieviel Geld ist erforderlich, um den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren? Antwort: Soviel wie nach dem allgemeinen Gesetz der Warenzirkulation nötig ist. 2. Frage. Woher nehmen die Kapitalisten dieses Geld, um den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren? Antwort: Sie müssen es eben haben. 3. Frage. Woher kommt das Geld überhaupt ins Land? Antwort: Vom Goldproduzenten. Eine Erklärungsweise die in ihrer außerordentlichen Einfachheit mehr verdächtig