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NECROSTEAM


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Haus, in dem er lebte. Er erzählte, dass sein Vater noch nicht so lange weg sei, wie die Flamen, dass seine Brüder bei Cosack & Co arbeiten würden, denn Drahtziehen sei allemal besser als unter Tage. Bevor es die Treppen hinaufging, klopfte sich der Junge im Hauseingang ab, dass der Staub nur so flog. Drinnen tunkte er seine Füße in einen Holzeimer voll Wasser und trocknete sie ab.

      »Ihre Schuhe solltense mindestens abbürsten, sonst muss Omma das Treppenhaus machn.«

      Tatsächlich schwebte im Treppenhaus nicht so viel Staub wie draußen und es gab auch keine Schlierschicht. Der Junge führte mich nach oben. »Wir haben ‘ne ganze Etage, die anderen Familien sind einfach wech, keine Ahnung wohin und die neuen nehmen lieber Wohnungen, wo die Straßen gepflastat sind.«

      Hier fehlten so viele Menschen. Wo waren die alle? Es gab keine Berichte über große Unfälle oder Krankheitsausbrüche, keine Anzeichen von Abwanderung. Immer nur Arbeiter und ganze Familien, die ins Ruhrgebiet zogen, weil es da was zu schaffen gab.

      Die Oma des Jungen war eine gebeugte Frau mit keuchendem Husten. Sie schnitt mir und dem Jungen ein Brot auf, beschmierte die Scheiben mit Butter, streute Salz darüber und setzte sich zu uns an den Tisch.

      Ich erzählte meine Legende und legte die versprochene Mark auf den Tisch.

      »Die Flamen sind in die Zechen eingefahren und nie wieder ausgefahren. Genau wie Emils Vater. Ende der Geschichte. Glaub kaum, dass Ihnen das ne Mark wert ist.«

      Ich biss von meinem Brot ab, kaute und schluckte. Die Salzkörner knackten zwischen meinen Zähnen. Sollte ich einfach gehen? Der Baronesse wahrheitsgetreu sagen, dass ich keine Spuren der Steamstorma gefunden hatte und all die anderen Seltsamkeiten vergessen? Ich schluckte den Brei aus Brot, Butter und Salz hinunter.

      »Es wird doch geredet unter Bergleuten. Da wird doch irgendwas passiert sein. Unfälle vielleicht.«

      »Ja.« Die alte Frau strich ihrem Enkel Krümel vom Kinn. »Unfälle gab’s, doch die Ruhrbarone lesen davon nicht gerne in der Zeitung. Und weil ihnen die Zeitungen gehören …« Sie zuckte mit den Schultern. »Niemand frisst die Hand, die einen füttert.«

      »Was für Unfälle?«

      »Einstürze, Grubengas, manchmal als Explosion, manchmal schleichend. Und sie haben zu schnell zu tief gegraben, die Bewetterung kam zu langsam hinterher – da unten kann kein Mensch mehr atmen, geschweige denn arbeiten. Allein das hat ein paar Hundert das Leben gekostet.«

      Ein paar Hundert? Sollte es so viel Leerstand wie hier überall im Ruhrgebiet geben, redeten wir von Tausenden, Zehntausenden. Ach, was machte ich mir vor, Hunderttausenden, allein all die Menschen, die aus den Niederlanden ins Ruhrgebiet gekommen waren.

      »Was ist mit dem alten Mann?« Emil schob sich den letzten Bissen in den Mund.

      Die Alte erstarrte, das Messer halb im Brotlaib versenkt, um eine neue Scheibe zu schneiden. »Was weißt du vom alten Mann?«

      »Die Brüder haben erzählt, dass Papa davon erzählt hat. Darf ich noch eins?«

      Die Alte schnitt weiter, ihr Rücken war gerade geworden. Etwas knallte gegen das Fenster. Wir zuckten zusammen. Auf dem Sims lag eine tote Taube. Der erste Vogel, den ich gesehen oder gehört hatte. In dieser Stadt schien es keine Pferde, keine Hunde, keine Katzen zu geben. Und der bisher einzige Vogel lag tot auf dem Sims.

      »Was ist das?« Emil war aufgesprungen und betrachtete durch das schwarzschlierige Glas das Federtier.

      »Eine Taube. Setz dich wieder, kriegst noch ne Stulle.«

      Emil setzte sich wieder.

      »Erzählen Sie.« Ich legte ein zweites Markstück auf das erste.

      »Alberne alte Legenden.« Die Scheibe war geschnitten, und die Alte strich die Butter. »Die Bergleute erzählen von einem alten Mann mit einer Laterne. Er erscheint unerfahrenen Bergleuten, die sich verirrt haben. Entweder führt er sie statt ins Licht immer weiter in die Dunkelheit, bis sie nie wieder aus den Gruben finden und elendig verhungern müssen …«

      Die Alte griff in das Salzfass und streute das weiße Gold auf die gelbe Butter auf dem dunklen Brot. Der Junge grapschte danach und senkte seine Zähne in die Stulle.

      »Oder?«, hauchte ich. Etwas presste mir die Luft ab. Mir schien, als würden sich die Fenster nach innen wölben, weil irgendetwas herein wollte.

      Vom Erdboden verschluckt.

      »Was oder?« Die Alte säbelte noch eine Scheibe.

      »Sie haben ›entweder‹ gesagt, da fehlt ein ›Oder‹.«

      Der Junge hustete, schwarzer Brotkrumen und schwarzer Schleim landeten auf dem Tisch.

      »Nicht so gierig.« Die Alte holte einen Lappen und wischte die Bescherung weg. Sie stellte dem Jungen ein Glas Milch hin. Ich schwöre, ich sah schwarzen Staub darin schwimmen.

      »Oder der alte Mann erscheint den Verzweifelten, die nichts mehr finden. Er führt sie herab in die tiefsten Tiefen, wo die Erde sie verschlingt und in ihren Gedärmen zu neuer Kohle quetscht. Aber das ist Unsinn.«

      »Es ist der Gott der Tiefe, die Brüder sagen, Vater habe seinen Gesang gehört.«

      »Halt den Mund und trink deine Milch.«

      »Aber sie sagen es. Er soll einen wahren Namen haben, und wenn jemand den ausspricht, erwacht er und verschlingt die ganze Welt.«

      »Deinen Mund sollst du halten.« Die Alte hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ein Säufer war dein Vater, nur damit du’s weißt. Alles, was der gehört hat, war der Gesang seiner Flasche.«

      Es wurde dunkler im Zimmer, der Nebel hatte sich bis unter das Fenster gesenkt. Von der Straße hörte ich Mütter, die ihre Kinder herein riefen. Der Geruch nach Verbranntem ließ mich würgen. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Was wissen Sie? Wo sind all die Menschen hin?« Ich kramte in meinen Taschen und legte alle Münzen, die ich fand, auf den Tisch. Ich weiß nicht, was mich antrieb, wusste nur, dass sich meine Angst in Panik verwandelt hatte und ich zu spüren meinte, wie die Dielen unter mir schwankten. Das Gefühl von Tiefe unter dem Boden stellte sich wieder ein und von etwas Monströsem, das sich unter mir, nein, unter der ganzen Region wand, als hätte es Schmerzen oder furchtbaren Hunger. Der Preis der Pracht.

      »Was soll ich Ihnen sagen? Sie sind in die Stollen gegangen und dort geblieben. Die Fabrikanten haben auch deren Familien in die Stollen geschickt, genau wie jeden Fremden, der zu uns kommt, um sein Glück zu suchen.«

      »Die Brüder sagen, die alten Polen nennen die Dampfmänner Rabota, weil sie nur Arbeit kennen.«

      »Halt den Mund, Emil.« Die Alte schob die Geldstücke zusammen. »Und Sie verschwinden jetzt.«

      Ich starrte aus dem Fenster. Der Nebel hatte sich bis auf die Straße gesenkt. In den dunklen Schwaden erahnte ich riesige Schatten, Tentakeln gleich, die aus der Erde wuchsen. »Bitte lassen Sie mich bleiben.« Meine Stimme war dünn wie die eines Kindes.

      »Wo müssen Sie denn hin?«

      »Hotel Middendorf.« Draußen lauerte das Ding hinter der Wirklichkeit und machte mich wimmern.

      »Emil wird Sie führen. Er kennt die sicheren Wege.«

      Die sicheren Wege? Was waren die unsicheren?

      Die Alte drückte mir ein Staubtuch in die Hand und band ihrem Enkel ein anderes um Mund und Nase. »Macht schon, ich will euch nicht hier haben, wenn er kommt.« Sie drückte Emil eine Gaslampe in die Hand.

      Wenn wer kommt?, wollte ich fragen, doch Emil zog mich bereits die Treppe hinunter und ich lief hinter ihm her, wie ein Zicklein hinter dem bimmelnden Bock, voll Angst, von den Wölfen gefressen zu werden.

      Vom Erdboden verschluckt.

      An den Weg zum Hotel Middendorf will ich mich nicht erinnern. Mag sein, dass ich mein Lebtag noch nie so viel Grauen empfunden habe, wie in diesem tödlichen Dampf. Meine Augen brannten, Tränen versuchten vergeblich,