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NECROSTEAM


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Englands sein könnten, ahnte damals keine Seele. Auch nicht die Neider, die von Südwesten auf ihren Konkurrenten schauten und in verletztem Stolz nach einem Weg suchten, mit Cambridge gleichzuziehen. Denn die ewigen Rivalen, die im Schatten der träumenden Türme Oxfords jahrhundertelang die Elite des Landes gelehrt hatten, vermochten das Glück ihrer Widersacher nicht zu teilen. Die Oxforder Gelehrten mussten zusehen, wie im Nordosten ein nie da gewesener Moloch erwuchs, der junge wie alte Menschen in sich aufsog und stetig weiter wucherte und gedieh. Zugleich begann weiter flussabwärts die einstige Hauptstadt des Landes zu kränkeln, ähnlich einem Baum, dem man die Wurzeln durchtrennt hatte. Londons altehrwürdige Fassaden bröckelten, verlassene Fabriken und Häuserblocks säumten die Straßen, leere Hüllen und bloße Erinnerungen an einst glorreiche Tage.

      Oxford sah sich gezwungen, zu handeln. Tiefe Verzweiflung mischte sich mit verletzter Ehre und wurde zu einer giftigen Verbindung, die sich hartnäckig in den Geistern der Oxforder Genies festsetzte. Der Rat der Universitätsleitung beschloss, man dürfe den eigenen Ruf nicht derart kläglich im Sande der Bedeutungslosigkeit verlaufen lassen. Rekrutierungsverfahren und Stipendien wurden ins Leben gerufen, mit dem Ziel, junge Denker in die verschlafene Universitätsstadt zu locken. In den ersten Jahren funktionierten diese Anreize noch, und was Cambridge durch augenscheinlich pures Glück vollbrachte, glich Oxford durch harte Arbeit wieder aus. Die Wissenschaftler und Techniker im Süden schrieben sich die Finger blutig, während ihre Konkurrenten in seligem Schlummer genialste Ideen einfach erträumten.

      Als Fleiß und Mühen schließlich nicht mehr ausreichten, griffen die Oxforder auf weniger edle Mittel zurück. Von blankem Neid getrieben, verließen sie den Pfad der Moral. Spione und Saboteure wurden in Cambridge eingeschleust, und binnen weniger Monate wandelte sich die vormals klare Führung Cambridges zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen.

      Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem Oxfords Ausmaße diejenigen Cambridges erreichten. Es war mein achtzehnter Geburtstag im Jahre 1856, und die gesamte Stadt befand sich im Ausnahmezustand. Ausgelassen feierte man den hart erkämpften Gleichstand und den – da waren sich alle einig – bald bevorstehenden Sieg über den Erzrivalen. Ich selbst empfand die Feierlichkeiten nicht als positiv, geschweige denn frohsinnig. Wer genau hinsah, erkannte damals schon, dass der Verfall seine Klauen auch bereits ins Herz Oxfords geschlagen hatte. Als ich mit meinen damals noch so klaren, wachen Augen durch die engen, üppig geschmückten Straßen schlich, spürte ich, dass in jedem Winkel eine unheimliche Düsternis lauerte. Jedes gesellige Beisammensein schien sich innerhalb weniger Stunden in hitzige Streitereien zu verwandeln. Einer dunklen Wolke gleich, sammelten sich die Eifersucht, der getriebene Wille und der blinde Hass der vergangenen Jahre über der Stadt.

      Doch die Ausschreitungen jener Nacht schienen den obersten Köpfen der Universität keine Warnung zu sein. Stattdessen wurden sämtliche Bemühungen verdoppelt und verdreifacht. Stellte Cambridge ein neues Luftschiff vor, entwarfen die Oxforder ein schnelleres, leichteres, besseres. Entwickelte ein Cambridger Arzt eine Uhrwerksprothese für Kriegsveteranen, machten die Oxforder sie beweglicher, geschickter und leichter zu steuern. Cambridge hatte Babbage und seine metallene Grazie Olimpia. Und Oxford hatte Gabriel Loxley, dessen Uhrwerkskreation sowie seine treuen Diener: die mechanische Kalliope und einen ihm ergebenen Menschen – mich, Scorpio Wolfe.

      Loxley war eines der wenigen Universalgenies, die gänzlich ohne Betrug und gestohlene Ideen auskamen. Ursprünglich zog mich die helle Flamme seines Intellekts zu ihm hin, aber sein warmes und angenehmes Wesen, das er nur seinen engsten Vertrauten offenbarte, hatte mich über die Jahre in seiner Nähe gehalten. Kalliope, eine Frau, deren mechanische Natur einzig der metallene Glanz ihrer goldenen Haut verriet, war eine Schöpfung Loxleys. Sie bewegte sich wie wir, sie dachte wie wir, und sie sprach – so selten das auch vorkam – wie wir. Schön und unwirklich in ihrer Erhabenheit, zeigte sie sich gleichermaßen verblüffend wie bestürzend in ihrer Auffassungsgabe. Loxley stellte sie ein Jahr nach Babbages großem Olimpia-Durchbruch fertig, hatte jedoch zuvor bereits ein Jahrzehnt seines jungen Lebens in ihre Konstruktion investiert. Sie sollte eine ebenso starke wie zuverlässige Dienerin und Gefährtin werden, und genau das gelang ihm. Doch in der Flut Cambridger Entwicklungen ging seine großartige Errungenschaft unter.

      Einzig in Oxforder Kreisen wusste man Loxleys Erfindergeist, wie auch sein grenzenloses Wissen über die Welt und das, was außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung lag, zu schätzen. Und aus diesem Grund rief man uns am Neujahrstag 1859 zum obersten Dekan des Oxforder Universitätsrates. Der Tag war klirrend kalt, und das Kopfsteinpflaster so eisig, dass selbst Kalliopes leichte Schritte ein ums andere Mal ins Stolpern gerieten. In perfektem Gleichschritt gingen sie und Loxley voran auf das Christ Church College zu.

      So oft Loxley mich auch bereits an diesen Ort mitgenommen hatte, erschien er mir doch jedes Mal wieder wie ein seltsames Märchenschloss. Den riesigen, quadratischen Innenhof des Colleges überspannte seit Neuestem eine kristallene Kuppel. Unter deren schützender Wärme verwandelte man das ordentliche Grün des Hofes in ein paradiesisches Tropenhaus, in dem exotische Vögel und Schmetterlinge umherflatterten wie bunte Feenwesen. Doch der schöne Schein konnte meine Sinne nicht trügen: Christ Church College sah bezaubernd aus, jedoch herrschte gespenstische Stille in diesen prachtvollen Hallen. Die Dunkelheit Oxfords ließ die Tiere verstummen und klammerte sich mit kalten Fingern an die alten Mauern.

      Der Dekan erwartete uns in seinem Studierzimmer. Ein Feuer loderte im Kamin, doch es verbreitete kaum Wärme. Der Dekan machte gerade Anstalten das Wort zu ergreifen, als Loxley ihm zuvorkam: »Sie benötigen meine Hilfe, Dekan? Womit kann ich Ihnen dienen?«

      Der Angesprochene schnaubte und ließ sich hinter seinem Schreibtisch in einen lederbeschlagenen Sessel fallen. »Sie wissen, in welcher Funktion ich Sie hergebeten habe.«

      Loxley gab Kalliope einen Wink. Diese schritt zu einem kleinen Tischchen, auf dem der Dekan Spirituosen aller Art aufbewahrte, und schenkte Gin in zwei Kristallgläser. Wie immer folgte ich gebannt jeder ihrer Bewegungen. Die schlichte Eleganz, mit der sie jede Arbeit verrichtete, fesselte meine Aufmerksamkeit jeden Tag aufs Neue. Als ihre silbernen, pupillenlosen Augen meinem Blick begegneten, wandte ich mich ab. Hitze stieg mir ins Gesicht. Sie sah mich unverwandt an. Hätte ihr metallener Mund lächeln können, sie hätte es getan.

      Im nächsten Moment ging sie zu ihrem Herrn und reichte ihm eines der Gläser. Erwartungsvoll streckte nun der Dekan ebenfalls die Hand aus, doch Kalliope kehrte ihm den schmalen Rücken zu und reichte stattdessen mir das zweite Glas. Sichtlich verärgert verschränkte der Dekan daraufhin die Hände auf der Schreibtischplatte. Loxley nippte an seinem Gin, betrachtete sich in der spiegelnden Oberfläche des Glases und strich sich das wilde, blonde Haar glatt.

      Erst, als er ausgiebig gekostet und mit dem Anblick seiner selbst zufrieden zu sein schien, antwortete er dem Dekan, den Blick weiterhin auf das Glas gerichtet. »Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass Ihr Wettrennen mit Cambridge nicht gewonnen werden kann. Sie wollen sich endlich einen Vorteil verschaffen. Dass die Cambridger nicht mehr nach irdischen Regeln spielen, scheint endlich auch zu Ihnen vorgedrungen zu sein.«

      Er schenkte mir sein schalkhaftestes Lächeln und zwinkerte Kalliope zu, ehe er seinem Gegenüber ins Gesicht sah.

      »Sie wollen, dass ich nach etwas suche, das Sie in diesem Krieg der Universitäten voranbringt. Etwas, das nicht von dieser Welt ist – möglicherweise nicht einmal aus diesem Universum. Liege ich da richtig?«

      Die Selbstsicherheit Loxleys jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich kannte seine Leidenschaft für sein Fachgebiet – das Übernatürliche, das Unbegreifliche, die Kryptotheologie und das schlicht Außerweltliche. Doch in letzter Zeit schien er zügelloser geworden zu sein, und ich wusste noch nicht recht, ob mir dieser Sinneswandel behagte.

      Loxley und ich hatten beide in unserer Jugend intensive Studien betrieben. Unsere geteilte Begeisterung und tiefe Faszination für Kulte und das Okkulte hatte uns ursprünglich zusammengeführt. In der Bodleian Library hatten sich unsere doch sehr verschiedenen Wege eines Tages gekreuzt, an einem glänzend lackierten Tisch im warmen Licht der vielleicht letzten Gaslampen des Landes. Das kalte, arktisch-blaue Licht der elektrischen Laternen hatte es – zumindest damals – noch nicht ins Allerheiligste der altehrwürdigen Bibliotheken geschafft. Und so kam es, dass im müden, gelben Schein der