ihm hervor, die keinerlei Sinn ergaben. Mir brach das Herz, als ich zusehen musste, wie mein genialer Freund vor meinen Augen scheinbar den Verstand verlor. Als wir auf dem Boden aufsetzten, warf er sich gegen die Außentür der Kabine, riss sie fast aus den Angeln, und stolperte mit zitternden Knien hinaus in die Silvesternacht.
Er lief in einer unmenschlichen Geschwindigkeit voran. Warum Kalliope und ich ihn nicht einfach ziehen ließen, vermag ich nicht mehr zu sagen. Vermutlich folgten wir ihm aus dem verzweifelten, hilflosen Wunsch heraus, ihn irgendwie zur Vernunft bringen zu können, wenn wir ihn nur einholten. Wie getrieben hetzte Loxley immer tiefer in das Herz der Altstadt.
Meine Lungen brannten in der kalten Abendluft, und die seltsam verzerrten Umrisse der Gebäude um mich her gaben mir das Gefühl, durch einen Albtraum zu rennen. Mauern und Laternen flogen an mir vorbei, geisterhafte Schemen in purem Türkis. Irgendwann verlor ich jedes Gefühl in meinen Beinen und kannte nur noch das blinde Vorwärts. Das Leuchten wurde heller und heller, je weiter wir in das Zentrum der Stadt vordrangen. Und dann blieb Loxley plötzlich stehen.
Vor uns erhob sich der Turm der Round Church, einer der bekanntesten und schönsten Kirchen Cambridges. Zumindest hatte ich das bis zu jenem Abend geglaubt. Als Loxley aber das Portal öffnete und in die glitzernde Helligkeit eintrat, die sich dahinter auftat, fiel mir nach all den Jahren plötzlich der wahre Name der Round Church wieder ein: Church of the Holy Sepulchre. Kirche des Heiligen Grabes.
Obwohl mein Herz in meiner Brust hämmerte, als wolle es durch meine Rippen brechen, folgte ich Loxley, Kalliope an meiner Seite. Als sie meine Hand ergriff, spürte ich die Schwingungen, die ihren so zarten und zugleich starken Körper durchliefen. Wir durchschritten das Portal, wenngleich alles in uns sich dagegen sträubte, uns anflehte, stehen zu bleiben, dem Grauen, das dort drinnen wartete, den Rücken zuzukehren.
Im Inneren der Kirche schlängelten sich Adern pulsierender, türkiser Energie durch Mauerwerk, Boden, Wände, Decke. Ein Pochen wie das tiefe, langsame Schlagen eines gewaltigen Herzens dröhnte uns in den Ohren. Es mischte sich mit einem schrillen, wahnsinnigen Keckern. Entsetzt realisierte ich, dass es von Loxley kam. Er kauerte in der Mitte des Runds aus Säulen, das der Kirche ihren Beinamen eingebracht hatte.
Dort entsprangen die gleißend hellen Lichtadern. Vor Loxley formten sie etwas, das mein einfältiger Verstand nur als eine Art runder Tür im Boden zu interpretieren vermochte. Umgeben von Schriftzeichen, die keiner irdischen Sprache angehörten, bestand sie zur Gänze aus türkisfarbenem Kristall. Wie hypnotisiert starrte ich auf das pochende, lebendige Licht im Inneren, das nicht von unserer Welt sein konnte, und spürte den Sog, der mich zu ihm hinzog. Doch Kalliopes Hand hielt mich in dieser, unserer Realität fest.
Als Loxley die Hand ausstreckte, um die übernatürliche Tür zu öffnen, entrang sich der Automatin ein hoher, klagender Schrei. Im nächsten Augenblick riss sie an meinem Arm, zerrte mich fort. Ich stemmte mich mit aller Macht dagegen. Tief in mir sehnte sich etwas danach, zu sehen, was sich hinter jener Tür verbarg. Alle anderen Teile meines betäubten Bewusstseins jedoch brüllten in Schmerz und Angst auf, und sie waren es, die mich nach heftigem Kampf schließlich Kalliopes Drängen nachgeben ließen. Ich stolperte und fiel, als sie mich mit sich zog.
Und sah gerade in dem Moment auf, in dem Loxley das Tor zu einer anderen Welt öffnete. Kalliope ließ mir nur einen Wimpernschlag, um zu sehen, was dahinter lauerte. Dieser Bruchteil einer Sekunde reichte aus, um mein Gedächtnis in zwei Teile zu zerbrechen. Einer erinnert genau jedes Detail der Schönheit und unendlichen Grausamkeit der Kreatur, die sich uns dort offenbarte. Dieser Teil aber trennte sich für immer von meinem Bewusstsein, und ich wage nicht, nach ihm zu greifen und ihn zurückzuholen.
Alles, was mir bleibt, ist das Bild der verschwommenen Schemen eines türkisfarbenen, sterngesprenkelten Nebels. Einer Galaxie, aus der Millionen glänzender, leuchtender Augen zu uns emporsahen – Funken sprühend und mit einer derartigen Gier, dass es mir den Atem nahm. Ich erinnere mich an wolkenhafte Arme, die in etwas ausliefen, das einem Skorpionstachel wohl am nächsten käme, und doch nichts mit jenen irdischen Wüstenbewohnern unserer Welt gemein hatte. Ich erinnere mich an den Schrei, mit dem ich Loxley zu warnen versuchte, und der meine Kehle schmerzen ließ. Und ich erinnere mich an den entsetzlichen Ausdruck purer Ekstase, der Loxleys Gesicht zu einer unmenschlichen Fratze verzog. Dann streckten sich die Arme dieses Gott gewordenen Sternennebels nach ihm aus und Loxley lächelte ihm verzückt entgegen. Mein Geist splitterte unter dem Druck des Grauens.
Dann riss Kalliope mich herum und schleppte mich fort.
Kalliope muss mich damals aus der einstürzenden Stadt getragen haben. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Kabinenboden unseres Luftschiffes. Die Uhrwerksfrau stand über mir an der verglasten Front des Schiffes und starrte in die Ferne. Als ich mich mühsam aufrappelte und ihrem Blick folgte, sah ich den schwarzen Krater, der einmal Cambridge gewesen war. Auch aus der Entfernung spürte ich die hungrige Leere, die nun an seine Stelle getreten war, und die ich als die Überbleibsel eines nebulösen, kosmischen Schreckens erkannte. Dieser Schrecken, dem wir das Tor zu unserer Welt geöffnet hatten, war über die Stadt hergefallen und hatte sie restlos vernichtet – angelockt von der summenden Energie und dem blühenden Leben in den Straßen.
Wie wir später herausfanden, hatte dieses Grauen sich danach gen Westen gewandt, wo eine ebenso mächtige Stadt wartete, geboren aus Hass und kranker Ambition. Warum dieser Gott, dessen Macht über Jahre hinweg in das Fundament Cambridges gesickert war, sich mit diesen beiden Städten zufriedengab, werde ich nie verstehen. Alles, was ich damals, am Bug des Luftschiffs stehend verspürte, war eine Mischung aus tiefer Trauer und unendlicher Dankbarkeit. Mein engster Freund, mein Herr und Gefährte war mir genommen worden. Doch mir war mein Leben geblieben. Und noch mehr.
Ich warf einen letzten Blick auf den Fleck, der England für alle Zeit brandmarken sollte, und schloss Kalliope in die Arme.
Ivan Ertlov: Das Dorf der Anderen
Vorsichtig, langsam, vor allem aber lautlos schob sich die Marauder durch die dunkle, schwüle Nacht. Mit nicht einmal Vierteldampf, und damit nur einem Bruchteil der zwölftausend Pferdestärken, die die beiden Kessel auf die Schrauben bringen konnten. Ihre größten Stärken, Geschwindigkeit und Wendigkeit, konnte sie so nicht ausspielen. Dafür durchquerte sie den Luftraum leise.
Captain Fowler nickte im Zwielicht der abgedunkelten Gondel seiner ersten Offizierin stumm zu, deutete nach vorne. Der dichte Regenwald unter ihnen war erfüllt mit anderen, fremdartigen, teilweise bizarren Geräuschen.
Lieutenant Kirwashi verstand ihn auch ohne Worte. Behände warf sie sich den schweren Lederrucksack über die Schultern, klappte das Fenster auf und kletterte auf der Gondel nach vorne, bis auf den breiten Sporn mit dem aufwendig geschnitzten Narwal. Als sie sich mit beiden Beinen fest verankert hatte, schloss sie die Augen und holte tief Luft.
Der wilde, ungezähmte und teilweise noch unkartografierte Regenwald unter ihr verbreitete einen ganz speziellen, würzigen Duft, den sie gierig in ihre Lungen sog. Temperaturen und eine Luftfeuchtigkeit, die ihren europäischen Kollegen Schweißströme von Stirn und Achseln laufen ließen, kümmerten sie nicht. Dies war ihre Welt – oder zumindest eine ihrer Welten. Und im Zweifel zog sie das grüne Herz Indiens jedem britischen Schlosspark im Sommer, jedem noch so extravaganten Landsitz einer ihr nachstellenden Lordschaft vor.
Nein, der indische Subkontinent war ihr Zuhause, ihre Heimat. Aber nicht dieser Teil. Das verbotene Land hatte es ihre Großmutter genannt, unkartografiert nannten es die Eierköpfe der Royal Geographic Society, das Reich der Anderen die für indische Verhältnisse seltsam großwüchsigen, oft grotesk muskulösen Bewohner der wenigen Dörfer am Rand.
Ein Stück Land östlich von Sundarnagar, dichtes, dunkles Grün, überwucherte Ruinen aus längst vergangenen Zeitaltern. Schleichend hatte sich die Stimmung verändert, als sie den beruhigend wegweisenden Godavarai-Fluss hinter sich gelassen und Richtung Norden geflogen waren. Das Grün des Blätterdaches war dunkler, entsättigt, kränklicher geworden, die Schatten und die Dunkelheit