Ich, ein einfacher Hausdiener, der nach Wissen lechzte, und Gabriel Loxley, ein einsamer Lord, der nach einem Sinn in den Irrungen und Wirrungen der Welt suchte.
Beide stürzten wir uns in Erzählungen längst vergangener Kulturen, um im Fantastischen Zuflucht vor unseren ruhelosen Nächten zu suchen. Seine Begeisterung befeuerte meinen Lernwillen, und meine Neugier beflügelte seinen Intellekt. Loxley stürzte sich mit beinah ungesunder Hingabe in die Tiefen gedruckter Buchstaben, las bis zur Erschöpfung, notierte und analysierte. Einem Getriebenen gleich sammelte er immer weitere Bücher und Schriften an, bis sie sämtliche Zimmer seines prächtigen Stadthauses übernahmen. Bücherstapel wuchsen dort gleich wuchernden Pilzwäldern in die Höhe, mit jedem Tag schienen noch mehr aus dem Boden zu schießen. Selbst Kalliope vermochte irgendwann nicht mehr, Loxleys ausuferndem Chaos eine Logik abzugewinnen.
Loxley engagierte mich als seinen Butler, und wenn er erschöpft über den Pergament- und Papyrusseiten einschlief, brachte ich die alten Geschichten in Sicherheit – und ihn ins Bett. Während er sich traumlosem Schlaf hingab, tauchte ich in Fantasiewelten ein, erbaut aus jahrtausendealter Tinte und Tusche, wandelte auf Traumpfaden gefallener Götter und toter Kulturen. Entführten meine Träume mich nachts in diese unbekannten Universen, fand ich in ihren grotesken Formen seltsamen Trost – wie auch in der Nähe der Uhrwerksfrau Kalliope, die stets unweit meiner Kammer über ihren Meister wachte. An manchen Abenden, wenn sie scheinbar geräusch- und körperlos an meiner halb geöffneten Tür vorbeiglitt, hatte ich das Gefühl, sie selbst entspränge ebenfalls meinen weltfremden Träumen.
Irgendwann beschlossen Loxley und ich, dass uns bloße Theorie nicht mehr ausreichte. Wir wollten mit eigenen Augen die Orte sehen, an denen die Legenden und Überlieferungen aus unseren Büchern ihren Ursprung hatten. Wir wollten die Geburtsstätten dieser Zivilisationen selbst durchwandeln, ihre Überreste mit eigenen Händen berühren, die Luft alter Tempel atmen und ihr Aroma auf der Zunge schmecken. So begannen unsere Expeditionen, durch die Loxley sich einen Namen in Oxforder Kreisen machte. Und wegen derer wir heute im Studierzimmer des Dekans standen. Der schwieg Loxley nach dessen dreisten Worten eine geschlagene Minute lang mit starrem Blick an, erhob sich dann ruckartig – und hieb so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass ich zusammenfuhr. Loxley und Kalliope blieben ungerührt.
»Ich bin es leid, Loxley!«, ereiferte sich der Dekan. In seinen kalten Augen funkelte derselbe Hass, der all seine Gleichgesinnten bereits längst vereinnahmt hatte.
»Diesen verfluchten Cambridge-Stümpern fällt alles in den Schoß, während wir uns bucklig schuften und unsere Hirne zermartern wie Wahnsinnige! Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Und mir reicht es. Wir werden Cambridges Elfenbeintürme zum Einsturz bringen.«
Energisch schenkte er sich nun eigenhändig ein Glas Gin ein und stürzte es mit heftig zitternder Hand hinunter. Mit vor Gier und Erregung geweiteten Augen fuhr er an Loxley gewandt fort:
»Oxfords Grenzen stoßen bald an die von London. Und wir werden es schlucken. Cambridge mag unsere neue Kapitale sein, doch die alte wird ein Teil Oxfords. Damit sichern wir uns einen eigenen Hafen und die letzten Fabriken und Lehrstätten, die sich dort gehalten haben. Aber aus eigener Kraft – ich muss es leider gestehen – sind wir dazu nicht in der Lage. Zwanzig Jahre lang haben wir alles Menschenmögliche getan, um uns an die Spitze des Landes und des Empires zu setzen. Nun ist es an der Zeit, das Menschenunmögliche in Angriff zu nehmen. Und dafür sind Sie der selbst erklärte Experte, Loxley.«
Der Angesprochene hob die Augenbrauen. Kein einziges der Worte aus dem Munde des Dekans schien ihn auch nur im Mindesten überrascht zu haben.
»Was schlagen Sie vor, Dekan?«, fragte er leise.
Als sie den Tonfall Loxleys vernahm, lehnte Kalliope sich kaum merklich vor. Ich tat es ihr nach. Unser beider Gehör war inzwischen so fein auf ebendiesen Ton geeicht, dass wir mit ihm resonierten wie Stimmgabeln. Kaum unterdrückte Vorfreude schwang in ihm mit, ließ Loxleys Stimme vibrieren – und uns erschaudern.
Kein Zweifel, uns erwartete eine neue Expedition. Und wenn ich mir die beiden Männer vor mir besah, beide von ihren eigenen Dämonen getrieben, erfüllte mich die Sicherheit, dass dieses Abenteuer sich von unseren bisherigen unterscheiden würde. Wie grundlegend, war mir noch nicht klar. Doch tief in meinem Innersten muss ich gewusst haben, dass wir erstmals tatsächlich finden würden, wonach wir immer gesucht hatten. Nur fürchtete ich mich mit einem Mal vor dieser Vorstellung.
Ich erinnere mich, kurz verstohlen Kalliopes Blick gesucht zu haben, in der Hoffnung, sie teile meine plötzliche Furcht. Doch ich kann heute nicht mehr sagen, ob sie meinen stummen Hilferuf hörte.
»Ich will«, hob der Dekan an, »dass Sie eine jener überirdischen Kreaturen finden, von denen Sie so oft in Ihren Abhandlungen berichten. Falls sie wirklich existieren, müssen wir uns ihre Macht zunutze machen. Was immer nötig ist, Loxley, solange es nur dem Sisyphosdasein Oxfords ein für alle Mal ein Ende setzt!«
Und so kam es, dass Loxley, Kalliope und ich am 19. März 1859 ein Luftschiff der Oxforder Universität bestiegen und uns aufmachten, einen Gott zu wecken.
In mir rang kindliche Vorfreude mit einer mir unerklärlichen Angst. Doch statt auf Letztere zu hören, folgte ich Loxley, stellte mich im Angesicht aller drohenden Gefahren in meiner Naivität blind und taub. So sehr mich seine Begeisterung für die größenwahnsinnige Mission des Dekans auch erschütterte, hatte ich doch noch nicht die Hoffnung aufgegeben, auf dieser Expedition endlich die heiß ersehnten, unglaublichen Wunder zu schauen, die wir uns in gemeinsam durchwachten Nächten ausgemalt hatten. Meine Neugier, die mich einst auch zu Loxley geführt hatte, überwog und ertränkte meine Zweifel. Mein Leben hatte seit unserer ersten Begegnung in seinen Händen gelegen, und es widerstrebte mir, mein Vertrauen aufgrund einer vagen Furcht aufzugeben, ganz gleich, wie sehr sie in meinem Inneren wütete und tobte.
Zugleich gab mir Kalliopes Beisein Sicherheit. Solange ich ihre anmutige Gestalt nahe wusste, konnte nichts geschehen, sagte ich mir.
Wir begannen unsere Suche in den Ruinen Petras, der alten, in meterhohen Fels gehauenen Wüstenstadt. Unser Weg führte über glühenden Sand und durch tödlich kalte Nächte – doch fündig wurden wir nicht. Zwar stießen wir auf Überreste alter Tempel. Doch schon bei Berührung der geborstenen Steine erfüllte uns die Gewissheit, dass ihr Zauber längst verflogen war.
Hoffnungsvoll wandten wir uns gen Osten. Auf den Hochebenen Tibets hoffte Loxley, Hinweise auf eine versunkene Stadt zu finden. Erzählungen nach sollte sie an den felsigen Steilhängen in den abgelegensten Teilen des Himalajas hängen, geformt aus gigantischen Steinblöcken und aufgetürmt zu grotesken Gebilden. Doch noch ehe wir die verheißene Bergkette erreichten, zwang uns ein unerwarteter Schneesturm zur Landung.
In derselben Nacht träumte ich vom Ziel unserer Suche und wachte schweißgebadet auf, nicht sicher, was real und was Produkt meiner Fantasie war. Im Traum hatte ich die gigantische Stadt betreten und sie gespenstisch leer vorgefunden. Die Leere selbst schien dort ein Bewusstsein entwickelt zu haben, und einen unstillbaren Hunger, der mich nach nur drei weiteren Schritten ins Innere mit Haut und Haar verschlungen hatte.
Kalliope, die mich aus meinen panischen, krampfhaften Windungen geweckt hatte, hörte sich meine Schilderungen still an, um dann entschlossen ans Steuer des Luftschiffes zu treten. Loxley geriet am nächsten Morgen außer sich, als er erfuhr, dass sie des Nachts den Kurs geändert und uns aus den Tiefen des Gebirges hinausmanövriert hatte. Doch Kalliope rückte nicht von ihrer Entscheidung ab, und irgendwann sah sich Loxley angesichts ihres stoischen Schweigens zur Aufgabe gezwungen.
Auch im indischen Dschungel und den Wäldern Neuseelands fanden wir nicht, wonach Loxley suchte. Weder uralte Maoridörfer noch von Schlingpflanzen überwucherte Mayatempel brachten die erhoffte Offenbarung. Er schien ein konkretes Ziel zu verfolgen, schien nach Spuren eines ganz bestimmten Gottes oder Wesens zu suchen, von dem er uns jedoch nichts erzählte. Loxley wurde ruhelos, und seine Nervosität steigerte sich mit jedem Ort, den wir unbehelligt verließen.
Fast sieben Monate nach unserem Aufbruch erreichten wir die Arktis im nördlichen Teil Grönlands. Hier schien Loxleys letzte Hoffnung zu liegen.
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