Wasser für die Kessel, frisches Fladenbrot und die letzten Gerüchte aufgenommen. Die Blicke, die ihnen die Einheimischen zugeworfen hatten, waren eindeutig gewesen. Hass auf die Kolonialherren bei den einen, ein mitleidiges Bedauern bei den anderen, abhängig davon, wo ihre Loyalität lag. In einem waren sie sich einig: Niemand rechnete damit, die Marauder oder ihre Besatzung wiederzusehen.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, trotz der drückenden, schwülen Hitze. Angespannt öffnete sie den Rucksack und enthob ihm jene Speziallampe, die sich Fowler von einem exzentrischen Erfinder in der Schweiz hatte aufschwatzen lassen.
Fünfundachtzig britische Pfund hatten sie dafür in Zürich auf den Tisch gelegt. Mehr als das Jahresgehalt eines Fabrikarbeiters – und bis heute war sie noch nie zum Einsatz gekommen, hatte noch nie bewiesen, ob sie ihren horrenden Preis wert war. Ungefähr eine Elle hoch, mit einem aufwendig gearbeiteten, handtellergroßen Reflektor, dessen Brennweite mit einer Stellschraube geregelt werden konnte. Solide Schweizer Präzisionsarbeit, keine Frage. Aber das war nicht das Besondere.
Wenn sie wirklich all das vermochte, mit dem der geschäftstüchtige Sprüngli ihrem klugen, aber manchmal zu gutgläubigen Captain das Teil aufgeschwatzt hatte, dann hielt sie nichts weniger als eine Revolution in ihren Händen.
Sorgfältig öffnete sie die Rückseite der Lampe und schraubte einen der kleinen Messingzylinder ein. Ein leises Zischen verriet, dass die Membran durchstoßen war und das Gas in die Brennkammer strömte. Neugierig drückte sie den schweren, aus Horn gedrehten Knopf an der Seite, trieb ein Gestänge im Inneren der Brennkammer an einer Feuersteinplatte vorbei …
… und schnaufte erst mal enttäuscht. Das Gas hatte sich entzündet, wie erwartet, aber es gab kein Feuer, kein Licht, keine Helligkeit – nur ein ganz schwaches Glimmen. Nichts, was der Reflektor bündeln und auf sein Ziel werfen konnte. Zumindest nichts, was der Rede wert war. Allerdings auch nichts, was man vom Boden aus sehen konnte. Gut für sie.
Schulterzuckend zog sie das schwere Teleskop heraus und schraubte den Spezialfilter darauf. Vorsichtig, um das Gewinde nicht zu verschneiden. Ohne den helfenden, leitenden Lichtschein einer echten Fernlaterne, richtete sie die Lampe so aus, als ob sie den Dschungel unter ihr beleuchten wollte. Skeptisch und neugierig zugleich holte sie noch einmal tief Luft und setzte das Teleskop ans Auge.
Ein spitzer Schrei kam über ihre Lippen, ein unwillkürlicher Schreckenslaut, den sie gerade noch nach den ersten Silben abwürgen konnte. Ein Laut, der hoffentlich in den Geräuschen des Regenwaldes unter ihr unterging. Unbewusst war sie zurückgekippt, nur vom gnadenlos klammernden Griff ihrer Schenkel um den Sporn der Marauder in Position gehalten.
Sie sah.
Sie sah, wie noch nie in ihrem Leben zuvor.
Von einem grünlichen Schimmer begleitet, durchbrach ihr Blick die Dunkelheit, bohrte sich tief in jene Schatten, die normalerweise selbst bei hellem Tageslicht undurchdringlich waren. Dort, wo der unsichtbare Strahl des Sprüngliwerfers das Dickicht traf, konnte sie gestochen scharf die Details ausmachen. Nicht nur das, alles Lebendige schien zu glühen, ein diffuses, hellgrünes Licht abzugeben.
Sie sah die leuchtenden Schemen der kleinen Zwerghirsche durch das Unterholz hüpfen, die Silhouette einer mächtigen Raubkatze ihnen geschmeidig folgend. Gelassen, ruhig, ihrer Macht bewusst. Affen schliefen in den Bäumen rechts unter ihr, etwas Langes, Astdickes schlängelte sich durch das Unterholz – nur als vager Umriss zu erkennen, da es die gleiche Strahlkraft wie die Umgebung hatte.
Langsam legte sich ihre Faszination angesichts des technischen Wunders, und sie begann, sorgfältig den Dschungel abzusuchen. Ungefähr zwölf Meilen Nordnordwest lag eine größere Lichtung mit einem Dutzend Häuser. Nicht Hütten, Häusern, offenbar aus Stein erbaut. In diesem Teil des Subkontinents so fehl am Platze, dass sie unwillkürlich die Stirn runzelte. Die Anderen waren tatsächlich anders, und ihr Reich lag unmittelbar vor der Marauder.
Im Nordosten, noch ein gutes Stück weiter entfernt, erkannte sie die Struktur eines mächtigen Bauwerks, vermutlich eines alten Palastes oder einer Tempelanlage. Eine Pyramide, das universelle Bauwerk aller alten Kulturen, jahrtausendelang überwuchert, unter dem Dschungel begraben. Von den weit ausladenden, miteinander verwobenen Baumkronen derart perfekt abgeschirmt, dass niemand ohne ihrer Spezialausrüstung sie erkennen konnte. Langsam dämmerte ihr, dass sie – abgesehen von den Anderen, natürlich – vielleicht der erste Mensch seit Jahrtausenden war, dem ein Blick auf dieses Bauwerk vergönnt war.
Oder auch nicht. Ein kleines Stück dahinter, auf einer Lichtung, die künstlichen Ursprungs sein konnte, erhob sich ein dunkles Gerippe aus dem Boden, ein angsteinflößendes Skelett. Es war jener Anblick, der jedem Luftschiffsfahrer, egal ob Leichtmatrose in der Handelsmarine oder Admiral auf einem Träger Ihrer Majestät, die Angst ins Gebein jagen konnte.
Ein ausgebrannter Zeppelin, ein wahrer Gigant, der hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Und dahinter …
… ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, ließ sie frösteln, die Zähne unwillkürlich aufeinanderschlagen. Es war, als revoltierte ihr Körper gegen das, was ihre Augen sahen.
Einen Schemen, einen Schatten, zu einer Form kondensiertes Nichts. Ein Umriss, größer als das Wrack, größer als der Tempel, in ständiger, fließender Bewegung, ein Schwarz in einer Umgebung, die mit ihrer Sehhilfe schwarz nicht kannte, nicht kennen durfte. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich auf die Silhouette zu konzentrieren, zerfloss sie, verwandelte sich und kehrte dann wieder in die Ausgangsform zurück – die eine vage Ähnlichkeit mit einem Elefantenkopf hatte.
Ein leises, sanftes Pfeifen aus der Laterne, ein kurzes Flackern vor ihren Augen – und dann nichts. Schwärze. Dunkelheit. Das Spezialgas war verbraucht, das Wunderlicht, das die Nacht durchbrochen hatte, erloschen. Langsam setzte sie das Teleskop ab und schüttelte den Kopf.
Was genau hatte sie gesehen?
Wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung, einen Streich, den ihr die müden Augen und die langsam versagende Lampe gespielt hatten. Genau. Das musste es sein. Auf keinen Fall durften jene Geschichten ihrer Großmutter einen wahren Kern beinhalten, die sie bis heute zu vergessen versuchte, wenn sie nächstens in ihrer Kajüte lag. Legenden aus Gondwana und Ur, Erzählungen aus der Zeit vor der Vergangenheit, Sagen über Götter, die schon alt gewesen waren, als Ganesh noch nicht erdacht worden war.
Sorgfältig verstaute sie Lampe und Fernrohr in ihrem Rucksack und kletterte zurück ins Innere der auf Sparflamme beleuchteten Kabine. Der Captain erwartete sie bereits, mit gut verborgener Erleichterung darüber, dass sie nicht in das Nichts unter ihnen gefallen war. Und mit kaum verhohlener Neugier, die er mit den beiden speziellen Gästen an Bord teilte.
»Das Teil funktioniert wirklich – ich konnte in der Nacht sehen wie am Tag, wenn nicht sogar besser! Wir haben ein Dorf vor uns, einen bis dato unentdeckten Tempel und, viel wichtiger, auch die Admiral Nelson! Etwas mehr als zwanzig Meilen von hier – vollkommen ausgebrannt.«
In seiner ruhigen, stoischen Art nickte Captain Nicolas Fowler nur kurz, aber ein verräterisches Zucken um den Mundwinkel verriet, dass ihm die Nachricht nicht gleichgültig war. Er hatte sich lediglich besser unter Kontrolle als gewisse andere.
»Bist du dir da sicher, Weib? Die Nelson ist ein Schwerer Kreuzer Ihrer Majestät! Drei Dutzend Kanonen, zwölf Raketenrohre, acht Ornithopter! Wenn sie im Kampf gegen diese Wilden wirklich runtergegangen wäre, wäre der halbe Dschungel verwüstet, wir würden …«
Sie ließ ihn nicht aussprechen. Hatte seine lüsternen Blicke, ebenso wie die herablassenden, ignoriert. Bis jetzt.
»Das heißt immer noch Lieutenant Kirwashi oder First Lieutenant, Commander. Und ja, ich bin sicher. Das Schlachtschiff ist gefallen, und der Regenwald rund um die Absturzstelle sieht reichlich unbeschädigt aus. Vielleicht können wir die Raketen sogar noch bergen.«
Der Zurechtgewiesene blinzelte einen Augenblick lang verwirrt, gefangen in jener Unsicherheit, die so viele Männer erfasste, wenn ihr tadelloses, aristokratisch britisches Englisch ihre dunkle Haut und beinahe schwarzen Augen Lügen straften.