– folgten, schienen in der tödlichen Kälte für alle Zeiten konserviert.
Das Ziel unserer Suche, ein uralter, mannshoher Schrein, stand im Inneren eines gigantischen Walgerippes. Zu beiden Seiten des aus schneeweißem Stein erbauten Altars ragten gigantische Rippenbögen auf und bildeten ein Kathedralengewölbe aus Knochen und Eis.
Ich spürte sofort, als wir Fuß auf den einst heiligen Boden setzten, dass sich Zeit und Raum hier anders verhielten. Die Luft um uns herum fühlte sich seltsam dünn an, doch erwies sie sich nicht als schlechter atembar. Vielmehr schien sie weniger dicht, als müsse man nur die Hand ausstrecken, um aus unserer Realität in eine andere zu greifen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Grenzen von Horizont, Schneewehen und Walknochen ineinanderflossen.
Ohne dem bizarren Flirren in der Luft um uns herum Beachtung zu schenken, stürmte Loxley in seinem unbegrenzten Eifer bereits voran. Mir aber stellten sich die Nackenhaare auf. Auch Kalliope folgte unserem Herrn nur zögernd in das eisige Sanktum.
Als wir uns Loxley näherten, tastete ich mit meiner Hand unwillkürlich nach der der Automatin. Er war vor dem Schrein auf die Knie gefallen und studierte die schamanischen Zeichen, die den blanken Stein bedeckten.
Ich weiß nicht, wie lange er dort verharrte, mit bloßen Fingern über die bizarren Muster fuhr und Unverständliches vor sich hin murmelte. Wie ich bereits zu Anfang gespürt hatte, verhielt sich die Zeit hier anders. Mich überkam das Gefühl, in eine Art wachen Schlafes abzudriften, während Loxley und Kalliope, die von Wind und Wetter völlig unberührte Oberfläche des Schreins untersuchten.
Ich stand da und starrte, gefangen und isoliert auf einer Insel zwischen Hier und Jetzt. Ich beobachtete und hatte zugleich das Gefühl, beobachtet zu werden, als verbargen sich in der Dunkelheit um uns her Hunderte Augen, die wissend auf uns herabsahen.
Erst, als der Schrein wie von einer Axt gespalten entzweibrach, schien mich etwas in meine Realität zurückzureißen. Benommen schüttelte ich den Kopf und kämpfte gegen den Drang an, mich einfach fallen zu lassen und lange, unendlich lange zu schlafen.
Als sich meine Wahrnehmung wieder klärte, hockte Loxley vor mir im Schnee und durchwühlte panisch die plötzlich grauschwarzen Überreste des Schreins. Er förderte zwei rundliche, schwarze Gegenstände von der Größe eines Straußeneis zutage. Kalliope wich vor ihnen zurück, als er sie ins Licht hob, machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ wortlos die Gebetsstätte.
Loxley bemerkte es nicht einmal. Er sah nur grimmig auf den zerfallenen Schrein und seine Fundstücke hinab, als seien sie eine persönliche Beleidigung seiner Ehre. Auch schien er nicht zu registrieren, wie leer sich dieser Ort plötzlich anfühlte. Das merkwürdige, wabernde Eigenleben, das ich bei unserer Ankunft so deutlich gespürt hatte, war fort. An seine Stelle war etwas getreten, dem ich zuvor schon einmal im Traum begegnet war. Mein Herz zog sich zusammen und meine Kehle schnürte sich zu, als ich es wiedererkannte. Die hungrige Leere leckte an unseren Fersen, bereit, uns zu verschlingen.
Mit einem Schrei purer, ureigenster Angst packte ich den katatonischen Loxley und zerrte ihn auf die Füße. Wir liefen, immer schneller, immer panischer, bis wir Kalliope erreichten. Mit Schrecken blickte sie uns entgegen – und dem was uns verfolgte. Ich schaute nicht zurück. Stattdessen klammerte ich mich verzweifelt an Kalliope, die meine Hand festhielt und erst anhielt, als mehrere Meilen zwischen uns und dem Schrein lagen.
An jenem Abend kauerten wir eng aneinandergedrängt an einem notdürftigen Lagerfeuer. Stundenlang versuchte Loxley die seltsamen schwarzen Steinurnen, die er gefunden hatte, zu öffnen, oder den Schriftzeichen, die sich um ihre Mitte rankten, einen Sinn abzugewinnen. Doch er war in einer Sackgasse angelangt. Da, endlich, gestand sich Loxley ein, was ich schon längst geahnt hatte. Er musste sichtlich mit sich ringen, um die Worte über die Lippen zu bringen, und als er sie schließlich äußerte, verschluckte das Heulen des arktischen Windes sie beinahe: »Wolfe, alter Freund … ich weiß nicht weiter.«
Mit einem Mal schienen alle Dämme Loxleys zu brechen. All die aufgestaute Frustration und Enttäuschung brachen sich mit ungebändigter Gewalt Bahn. Entgeistert sahen Kalliope und ich zu, wie er aufsprang, wetternd und zeternd. Auf und ab hetzend, raufte er sich die Haare, packte in seinem Zorn eine der Urnen und schleuderte sie mit aller Kraft gegen einen Felsen. Das Klirren, mit dem das Gefäß zu Bruch ging, hallte unnatürlich laut durch die plötzliche Stille. Selbst der Wind schien zu verstummen. Loxley, die Fäuste geballt und die Zähne gefletscht, starrte böse in Richtung der Scherben. Und stutzte. In diesem Moment sah ich es auch.
Ein sanftes, für das bloße Auge kaum wahrnehmbares Leuchten ging von der Stelle aus, an der die Überreste der Urne gelandet waren. Ein türkisfarbenes Glitzern hing in der Luft. Vorsichtig näherten wir uns den Bruchstücken. Wir beide kannten die Form und Farbe der Kristallpartikel, die dort langsam in die kalte Nachtluft aufstiegen.
Zum zweiten Mal an jenem Tag sah ich Loxley auf die Knie fallen. Aber diesmal schienen seine Beine aus Erleichterung, aus erlöster Glückseligkeit nachzugeben. Loxley ließ die Finger durch den Kristalldunst gleiten. Dann schaute er zu mir auf. Seine blauen Augen leuchteten, und mich beschlich der Verdacht, dass sie ein sanfter, türkiser Schimmer erhellte.
Entsetzt griff ich nach seiner Hand. Und spürte, dass mir der Mensch, mit dem ich so viel durchgestanden hatte und der mir so vertraut war, in ebenjenem Moment entglitt. Diese Reise hatte zunächst an seinem alten Selbst genagt, dann hatte sie begonnen, immer größere Stücke seines Geistes abzubeißen – und drohte nun, ihn gänzlich aufzufressen.
Doch mir blieb keine Wahl, als zu nicken und ihm zu folgen, als er mit schrillem Lachen hervorstieß: »Cambridge, Wolfe! Die Lösung lag die ganze Zeit vor unserer Nase, aber ich Tor habe es nicht erkannt! Auf nach Cambridge!«
Die Heimreise nach England verbrachten wir in bleischwerem Schweigen. Kalliope mied sowohl mich als auch Loxley. Letzterem sah sie nicht mehr in die türkisblauen Augen, seit wir die Arktis verlassen hatten. Sie fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Nähe, schien jedoch aus Treue an seiner Seite bleiben zu wollen.
Wir erreichten das letzte Ziel unserer Odyssee am Silvesterabend des Jahres 1859. Der Anblick, der sich uns bot, als die riesenhafte Masse Cambridges endlich am Horizont erschien, hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Es war ein klarer Tag, und wir konnten weit landeinwärts blicken, dorthin, wo eine blaugrüne Kuppel aus Dunst und Rauch die Silhouette Cambridges verhüllte. Schon aus hundert Meilen Entfernung konnte man sie sehen: die Horden. Unzählige Gestalten entströmten der Stadt, doch anfangs ließ sich unmöglich erkennen, worum es sich dabei handelte.
Als wir zum Landeanflug auf Cambridge ansetzten und in den Sinkflug gingen, wurde offenbar, was es mit diesen Flüchtlingskolonnen auf sich hatte: Die Glut der untergehenden Sonne spiegelte sich feurig in zahllosen metallenen Gesichtern. Tausende und Abertausende von Automaten marschierten zügigen Schrittes die Landstraßen entlang. In alle Richtungen zogen sie aus, schneller und ausdauernder, als es ein Mensch vermocht hätte. Sie trugen nichts bei sich als die Uniformen, die ihnen ihre Meister auf die kalten Leiber hatten schneidern lassen.
Der Marsch der Uhrwerksmenschen hatte trotz seiner unerbittlichen Gleichmäßigkeit etwas Gehetztes. Verstohlen beobachtete ich, wie Kalliopes Augen den schier endlosen Zügen ihrer Brüder und Schwestern folgten, bis sie am Horizont verschwanden. Eine innere Unruhe schien sie befallen zu haben, doch wie so oft schwieg sie nur, wandte sich ab und begann, den Kurs unseres Schiffes gemäß Loxleys Anweisungen zu korrigieren.
Wir tauchten in die Dunstschwaden über Cambridge ein und stellten zu unserer Überraschung fest, dass dort vermeintlich alles seinen normalen Gang zu gehen schien. Einzig einige Fabrikarbeiter und Polizisten bemühten sich vergeblich, die eigenartige Flucht der Automaten aufzuhalten. Niemand sonst schenkte ihnen Beachtung. Ebenso wenig wie den Kristallen, die in ihrer Größe um ein Vielfaches gewachsen zu sein schienen und so hell glühten wie nie zuvor. Im widerlichen, blendenden Licht der Partikel verloren die Gebäude der Stadt jegliche Kontur und Tiefe. In meiner Wahrnehmung bestand Cambridge nur noch aus sattem Türkis und tiefstem Schwarz. Der unerschütterlichen Kalliope gelang es dennoch spielend, unser Schiff zum Lufthafen zu lenken und uns sicher zu Mutter Erde zurückzubringen.
Loxley