Igor Bezrodny, der 1997 im Alter von nur 67 Jahren starb, war ein namhafter Vertreter der russisch-jüdischen Geigenschule. Beim Leipziger Bach-Wettbewerb hatte er 1950 den ersten Platz belegt und begann 1957 am Moskauer Konservatorium zu unterrichten. Erst nach 15 Jahren Lehrtätigkeit wurde er 1972 zum Professor ernannt. Igor Bezrodny war ein begnadeter Pädagoge. So ließ er seinen Schülern relativ viele Freiheiten und unterstützte sie dabei, sich selbst Ziele zu setzen, bei deren Erreichen er ihnen half. Sein Schüler Funke erinnert sich an ein unvergessliches Erlebnis: Beide hörten dem Geiger Henryk Szeryng zu, und Christian sagte zu seinem Lehrer beeindruckt: „Das ist wirklich ein großer Geiger!“. Daraufhin schaute ihn Bezrodny ernst an und sagte: „Sie sind auch ein großer Geiger!“.
Igor Bezrodny und Christian beim Bachwettbewerb 1968 in Leipzig (Zeitungsausriss, Sächsische Zeitung Dresden)
Begründer der russisch-jüdischen Geigenschule, von der wir heute sprechen, war der 1845 in Ungarn geborene Leopold Auer. Er hatte eine enge Verbindung zu Deutschland, studierte auch bei Joseph Joachim (1831–1907) und wirkte ab 1868 als Professor am Petersburger Konservatorium. Ab 1911 lebte er bei Dresden; 1930 starb er in Dresden-Loschwitz. In seinem langen Leben hat er ungezählte Schüler unterrichtet und galt als einer der bedeutendsten Violinpädagogen.
Weltbekannte Geiger entstammen dieser Schule. Genannt seien hier beispielhaft Jascha Heifetz, Nathan Milsztein, David und Igor Oistrach, Itzhak Perlman, Isaac Stern, Gidon Kremer oder Leonid Kogan. Nicht alle weltbesten jüdischen Meistermusiker haben in Moskau studiert, kommen aber aus dieser Schule. Funke erinnert sich: „An einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen. Der weltbekannte Geiger Nikolai Znyder gastierte zum ersten Mal bei uns im Gewandhaus. In der ersten Probenpause habe ich ihn angesprochen und gefragt: ‚So wie Sie geigen, können Sie das nur in Moskau erlernt haben‘. Er verneinte dies mit dem Hinweis, dass er in Wien studiert habe. Sein dortiger Lehrer Boris Kuschnir aber war im Moskauer Studentenwohnheim mein Nachbar aus dem Nebenzimmer. So schließt sich also wieder der Kreis.“
In jüdischen Musikerkreisen gab es aber das Bonmot, dass das Moskauer Konservatorium „die größte Synagoge der Welt“ sei, und die Studenten kamen tatsächlich aus der ganzen Welt.
Igor Bezrodny gab seinem begabten Schüler auch Gelegenheit, in Konzerten aufzutreten, in denen er ihm seinen Part im zweiten Teil überließ. Den Stellenwert einer Ausbildung in Moskau mag auch belegen, dass sogar Yehudi Menuhin, weltberühmter Geiger und Förderer des Nachwuchses, sich dort geigerisch weiterbilden lassen wollte.
Wenn man das jugendliche Alter der Studenten betrachtet, ist es nicht verwunderlich, dass im Moskauer Wohnheim auch Unfug gemacht wurde.
So bauten die Jungen die hohlen Zimmerschlüssel mithilfe von abgebrochenen Streichholzkuppen zu Knallkörpern um und erfreuten sich an deren langem Nachhall im Treppenhaus. Allerdings: Zimmertüren öffneten sich, und der Kommentar von Kommilitonen war „Die Deutschen schießen schon wieder!“.
21 Jahre nach Kriegsende waren Reaktionen dieser Art auch von jungen Leuten nicht ungewöhnlich.
Die Auslandsstudenten in der sowjetischen Hauptstadt erhielten regelmäßige „Vergatterungen“ in der DDR-Botschaft, vor denen sich der junge Funke nach Möglichkeit drückte. 1970 hatte er die Vorbereitung auf den Silbelius-Wettbewerb für wichtiger erachtet, als an einem dieser Treffen teilzunehmen. Er gewann in Helsinki den dritten Preis (bei 30 Teilnehmern) und erinnert sich an einen Empfang für die Wettbewerbsteilnehmer, bei dem Präsident Urho Kekkonen allen höflich die Hand gab. Damit hat Funke bestimmt mehr für die Anerkennung der DDR getan als durch die Anwesenheit bei einer Versammlung. Doch die Nichtteilnahme des Musikstudenten an ihrer Veranstaltung erboste die Moskauer „Diplomaten“ derart, dass man Funke daraufhin das Leistungsstipendium entzog. Das Stipendium selbst wurde im Übrigen zu einem Teil von den Eltern getragen.
Im Zusammenhang mit diesem Wettbewerb erinnert sich Funke: „Als frisch gekürter Preisträger des Sibelius-Wettbewerbes kam ich überglücklich und im ‚siebten Himmel‘ schwebend in Berlin-Schönefeld auf dem Flughafen an. Es war Winter, und ich hatte mir von meinem Preisgeld diese damals schicke Ausstattung geleistet - heute verpönt und verfolgt von Leuten, die uns ja eigentlich dahin zurückschicken wollen, wo man so etwas als sehr nützlich empfand - in die Steinzeit. Außerdem war das die richtige Kleidung für die Moskauer Frostgrade. Beim Zoll angelangt, wurde ich schnell auf den Boden zurückgeholt. Ein DDR-Bürger in diesem Aufzug - höchst verdächtig. Mein Koffer wurde bis auf den letzten Krümel umgekehrt und ich auf das Peinlichste befragt, woher wohl das Geld dafür stammen könne. Einen Kassettenrecorder durfte ich zwar behalten, aber die Tonbänder mit meinen Aufnahmen vom Wettbewerb durfte ich nicht einführen. Auch der spätere Einspruch des Ministeriums für Kultur zeitigte keinen Erfolg. Erst auf meinen Einwand, dass ich soeben, ähnlich wie beim Sport, einen Preis errungen hatte, wurde der Tonfall der Uniformierten etwas freundlicher. Die Tonbandkassetten durfte ich dann wieder ausführen, nach Moskau, von wo ich sie dann einzeln nach und nach in die Heimat ‚geschmuggelt‘ habe. Von Moskau kommend, waren die Kontrollen eben vergleichsweise harmlos.“
Der stolze junge Mann im warmen Pelz-Outfit
Bei den Teilnahmen an Wettbewerben, so „Tschaikowski“ 1966, „Bach“ 1968, „Montreal“ 1969 und eben „Sibelius“ 1970 gehörte Christian Funke stets zu den Preisträgern. Er beobachtete allerdings, dass es durchaus, offen oder verdeckt, Absprachen zwischen den Jury-Mitgliedern geben musste. Die sowjetischen unter ihnen waren stets darum bemüht, dass ein Russe oder zumindest Sowjetbürger gewinne. Natürlich ist dazu anzumerken, dass die russischen Geiger zweifelsohne immer mit die Eliten darstellten. So nützte es dem jungen Funke auch nichts, dass in Montreal 1969 nach seiner Sarasate-Darbietung der berühmte, damals 77-jährige Joseph Szigeti aufsprang, ihm applaudierte und „Bravo!“ rief.
Es fanden aber auch Wettbewerbe ohne Beteiligung sowjetischer Geiger statt, bei denen Funke berechtigte Chancen hatte, den 1.Preis zu gewinnen. Er war ja nach den oben genannten Wettbewerben stets nach den Russen der nächste Preisträger gewesen. So beschloss Igor Bezrodny, ihn zum Beispiel auf den Paganini-Wettbewerb in Genua und den Carl-Flesch-Wettbewerb in London vorzubereiten. Doch die Teilnahmen wurden Funke vom Ministerium für Kultur der DDR untersagt mit der Begründung, dass der Jury-Vorsitzende Yehudi Menuhin Zionist sei. Die politische Großwetterlage war in den sechziger und. siebziger Jahren eben stets großen Schwankungen unterworfen. Doch gesellschaftliche beziehungsweise politische Ereignisse dienen den Behörden wohl immer und überall als willkommener Vorwand für ihre teils fragwürdigen Entscheidungen.
In diesem Zusammenhang gab es in Christian Funkes jungem Künstlerleben merkwürdige Begebenheiten. So war die Teilnahme am Musikwettbewerb in Montreal damit verbunden, dass er sein Visum in Westberlin, 1969 noch beim „Alliierten Kontrollrat“, abholen musste. Der begleitende Ministeriumsmitarbeiter lugte in sein Portemonnaie - ihm über die Schulter allerdings auch Christian Funke -, und stellte fest, dass er wohl das Westgeld für die Passgebühren vergessen habe. Das stimmte aber nicht. Nun schaut man anderen Leuten nicht unerlaubt in die Geldbörse, doch sein Verhalten war dem Mitarbeiter offensichtlich peinlich. Funke erhielt sein Visum, allerdings mit dem für ihn befremdlichen Eintrag „staatenlos“. Das hing damit zusammen, dass die DDR zu diesem Zeitpunkt von den meisten westlichen Ländern diplomatisch noch nicht anerkannt war. Christian Funke wurde Preisträger beim Internationalen Musikwettbewerb in Montreal, wieder nach den Russen. Sein Kommilitone, der Pianist Peter Rösel, hatte sich ein Jahr zuvor den 2. Preis erspielt.
Christian Funke vermutet als Beweggründe dafür, dass seine chancenreiche Teilnahme an internationalen Wettbewerben offenbar unerwünscht war, das wahrscheinliche Wirken von Violinprofessoren aus den Musikhochschulen der DDR. Dafür spricht auch, dass er nach seiner Rückkehr vom Studium durchaus nicht besonders wohlwollend aufgenommen wurde. Obwohl doch die Sowjetunion der „große Bruder“ der DDR war,