Norbert Stöbe

KLEINER DRACHE


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      Tschoulao stemmte die Hände in die Seite und betrachtete sein Werk voll Genugtuung, dann steckte er das Drachenarmband in die Tasche und ließ sich per Sprachwahl mit seinem Vertrauensoffizier verbinden.

      »Ich möchte Anzeige erstatten«, sagte er, als die Automatenstimme sich meldete. »Es geht um einen Nachbarn.«

      

      7

      Es war später Abend, doch davon war in Kungs gruftartiger Behausung nichts zu merken. Hier herrschte ewiges Halbdunkel, in dem die Displays und Kontrollleuchten glommen wie das Cockpit eines Raumfahrzeugs. Es war, als habe sich das normale Leben auf einen anderen Planeten zurückgezogen, und die einzige Verbindung zwischen dieser zeitlosen Kapsel in der Leere des Raums und dem Alltag der Menschen seien schmale Funkbänder und flackernde Bilder, die umso unverständlicher erschienen, je länger man sie anschaute. Sie gehörten einer fremden Welt an, in der andere, undurchschaubare Regeln galten.

      Xialong war es recht. Der schummrige Raum mit seinen bunten Punktlichtern übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, ganz so, als wären mit den momentanen Sorgen auch die dahinter verborgenen Probleme verschwunden.

      Kung wusste, dass dies ein Irrtum war.

      »Gib mir mal dein Com«, sagte er.

      »Das hab ich bei Onkel Wu gelassen, weil es nicht mehr richtig funktioniert hat. Ist übrigens das Gleiche wie deins.«

      »Meins ist ein Plagiat.«

      »Oh.«

      »Jedenfalls müssen wir das holen.«

      »Holen?« Hieß das, sie durfte nicht bei Onkel Wu bleiben? Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie gehofft hatte, er werde sie solange bei sich aufnehmen, bis sich alles geklärt hätte. Und dass es sich aufklären würde, glaubte sie noch immer. Die verstörenden Geschehnisse der letzten Stunden würden sich als böser, aber letztlich substanzloser Albtraum entpuppen, und sie würde wieder einschwenken auf die schnurgerade in die Zukunft weisende Bahn, der sie ihr Leben lang gefolgt war. Anders konnte es nicht sein. Es wäre ebenso absurd gewesen, als wenn auf einmal zwei Sonnen am Himmel gestanden hätten.

      Kung seufzte. Sein Gesicht war ein heller Fleck, zusammengesetzt aus kleineren bunten Flecken. Er schwenkte den Teebecher in der Hand, ohne zu trinken.

      »Also, wie ich das sehe, hat jemand deine Identität angenommen und deine Passwörter und Log-ins geändert. Du hast gemeint, dieser Sammo habe deine Anwesenheit im Geschäft bestätigt?«

      »Das hat der Polizist gesagt. Ich habe nicht mit ihm gesprochen.«

      »Dafür gibt es zweierlei Erklärungen: Entweder Sammo steckt mit dem Identitätsdieb unter einer Decke und hat der Polizei gegenüber gelogen, oder er wurde von ihm getäuscht.«

      »Aber wie denn getäuscht? Dann müsste er ja so aussehen wie ich.«

      »Und wenn er das tut?«

      »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

      »Ich mir auch nicht.« Kung stellte die Wasserflasche ab, seine Finger zuckten. Gierig starrte er den Noser an, der zwischen zerknautschten PB-Tüten und einer aufgeklappten Plastbox mit Speicherelementen lag, die wie metallisierte Käfer aussahen.

      »Trotzdem«, sagte er. »Jemand hätte dich erkennen müssen. Die Angestellten waren im Geschäft. Sie hätten wissen müssen, dass du nicht in deinem Büro warst.«

      »Der Polizist hat mit Sammo gesprochen, und dann wollten sie mich festnehmen.« Xialong sah ihn flehentlich an, dabei kannte sie ihn gar nicht. Dieser hagere, nervöse Bursche mit der bleichen, fadenscheinigen, welken Haut war ihr fremd und unheimlich, und trotzdem hatte sie das Gefühl, er sei der Einzige, der ihr helfen konnte. Offenbar war ihre Lage verzweifelter, als sie sich eingestehen mochte.

      »Trink einen Schluck«, sagte Kung, der vergessen hatte, ihr Tee anzubieten. Er schob ihr seine Wasserflasche hin. »Ich verschwinde mal eben nach nebenan. Wenn ich zurückkomme, gehen wir zu Onkel Wu, holen deine Sachen und das Com, und dann probiere ich, in deine Accounts reinzukommen. Wird schon klappen.« Er sprang auf, schnappte sich den Noser vom Tisch und verschwand in der Vielzwecknische. Er zog das Fläschchen mit dem Neeze aus der Tasche, klappte den Toilettendeckel hoch, ließ die Hose herunter und setzte sich auf die Schüssel. Der Noser sah aus wie eine Miniaturbrille mit runden, dicken Gläsern. Er klappte ihn auf und träufelte je fünf Tropfen auf die luftdurchlässigen Schwämme, dann steckte er die Flasche ein, klappte den Noser zu und drückte ihn in die Nasenlöcher.

      Und atmen – durch die Nase ein, durch den Mund aus.

      Ein … und aus.

      Ein … und … aus.

      Das inwendige Zittern hörte auf. Irgendetwas entspannte sich im Unterleib, er pinkelte in die Schüssel, ein glockenhelles Rieseln, ein anstrengungsloser Zeugungs- und Schöpferakt. Köstliche Ruhe breitete sich in ihm aus. Er war bei sich. Er war ganz. Und doch schwang in diesem großen, leeren Raum, der er war, eine Art Sehnsucht, ein zarter Wunsch mit: sich anzuvertrauen, seine stille Ekstase zu teilen. Er streckte die Hand zum Waschbecken aus, doch das HeadGear war nicht da, er hatte es nicht mitgenommen, als er – vor wie langer Zeit? – hierhergekommen war.

      »Kung?«

      »Ja?«, antwortete er automatisch.

      »Was machst du? Ich glaube, ich hab Angst.«

      Die Frau nebenan, er hatte ihr etwas versprochen.

      »Das brauchst du nicht«, sagte er. »Ich bin gleich fertig.« Er richtete sich auf, zog die Hose hoch, packte Neeze und Noser ein und spülte.

      »So!«, sagte er zu laut, zu energisch, als er wieder ins große Zimmer trat. Am liebsten hätte er sich auf die Schenkel geklopft und einen kleinen Egotanz hingelegt, ahnte aber, dass er Xialong damit noch mehr beunruhigt hätte. »Auf zu Onkel Wu!«

      Der Dschungel leuchtete. Diffuses grünliches Licht strahlte von den Fassaden der Glücklichen Familie aus. Sie schienen in einem Rhythmus zu atmen, der als Welle an den Gebäuden entlang floss, an der rechten Seite im Dunkel der Nacht verschwand und sich von links her erneuerte. Die Blattteppiche waren so dicht gestaffelt und die oberschenkeldicken Lianen so eng miteinander verwoben, dass man meinte, ins Innere eines hypertrophen Organismus zu blicken. Die Flaschenblüten mit ihrem roten Aufdruck glichen Symbionten, die sich über die Stängel von unsichtbaren Organen nährten.

      Vor dieser morbiden vegetabilen Pracht wirkte der graue Wagen am Straßenrand unwirklich, und die kleinen Gestalten der Zuschauer, die sich vor dem Eingang des dritten Turms der Glücklichen Familie versammelt hatten, erschienen wie Zwergengeister, die sich jeden Moment verflüchtigen mochten. Doch es verhielt sich genau umgekehrt: Der Wagen war wirklich, und die beiden Anzugträger, die einen alten Mann auf den Rücksitz stießen, waren es auch, desgleichen der dürre Typ mit dem Strohhut, der ein wenig abseits der Gaffer stand und ein paar Worte mit dem rauchenden Fahrer wechselte, bevor der sich hinter das Steuer setzte und mit den Anzügen und dem Alten davonfuhr.

      »Ich glaube, es ist schlimmer, als wir gedacht haben«, sagte Kung, dann bemerkte er, dass Xialong erstarrt war, ihr Gesicht eine verzerrte Fratze der Angst.

      »Na komm«, sagte er leise. »Lass uns hinsetzen.« Er geleitete sie durchs Tor in den Park und setzte sich mit ihr auf eine dunkle Bank unter einem Gingkobaum. In einem vergessenen Holzkäfig zirpte laut eine Zikade, und der kleine Menschenauflauf, der durchs Gesträuch und den Zaun undeutlich zu erkennen war, verlief sich allmählich. Außer ihnen hielt sich kein Mensch im Park auf.

      Als Kung der jungen Frau an seiner Seite behutsam den Rücken streichelte, löste sich ihre Erstarrung, und sie begann, heftig zu zittern. »Das ist meine Schuld«, schluchzte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Sie sind hinter mir her, und jetzt haben sie Onkel Wu …«

      »Sie?«, sagte Kung. »Wer sind ›sie‹?«