Norbert Stöbe

KLEINER DRACHE


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gesehen, wie diese Frau ins Geschäft gegangen ist.«

      »Und dann?«

      »Bin ich zu mir nach Hause gefahren und wurde von der Mottendrohne angegriffen.«

      »Ich verstehe«, sagte Kung, obwohl er nichts verstand. Xialong ließ die Videoaufzeichnungen noch einmal ablaufen: Ankunft des Wagens, Betreten des Geschäfts, Durchquerung des Präsentationsraums, Empore. Beim dritten Mal zoomte sie auf das Gesicht der Frau. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Das war sie und war es auch wieder nicht.

      »Hast du mal einen Stick?«

      Xialong wühlte in einer Schublade, dann reichte sie ihm einen USB-Stick. Er beugte sich vor, schob ihn in die Tischbuchse, bewegte die Hand und überspielte den Videoausschnitt. Dann zog er den Stick heraus und hielt ihn an die Beule, die sich auf seiner Schulter unter dem T-Shirt abzeichnete.

      »Was machst du da?«, fragte Xialong.

      Kung legte den Stick auf den Tisch und zog sich das Sweatshirt über den Kopf. Die Beule war kreisrund wie der angeschwollene Stich eines Rieseninsekts.

      »Was ist das?«

      »Das ist die Zukunft.«

      »Die Zukunft?«

      »Ein Implantat«, erklärte Kung. »Irgendwann werden diese Dinger Bewusstseinserweiterungen sein, unsere Berater, Gefährten, Freunde. Im Moment sind sie praktische Datenspeicher, die man nicht verlegen kann. Und die einem so leicht niemand wegnimmt.« Er verschwieg, dass das Ding zusätzlich mit ein paar schlecht funktionierenden Sensoren ausgestattet war. »Ich glaube, wir haben genug gesehen«, sagte er. »Gehen wir?«

      »Noch nicht«, sagte Xialong.

      Ein Sauger eierte über den Boden, vorbei an den Kisten, die vor dem geschlossenen Tor gestapelt waren und darauf warteten, am nächsten Tag von Tsema ausgepackt zu werden. Das Gerät gab ein unangenehmes Geräusch von sich, ein leises Scharren, Kratzen, Wimmern wie von etwas Eingesperrtem.

      Xialong zog den Staubschutz ab. Der Bot stand reglos da, mit baumelnden Armen und hängendem Kopf. Ein Kabel führte zur Wand, wo im Regal grün die Kontrollleuchte der Strombuchse glomm. Nicht nur aufgrund ihrer Größe wirkte die Maschine irgendwie bedrohlich. Die schwarze Latexmaske, der rote, im Schein der Kopfleuchten kalt glänzende Mund und das Lederkorsett erzeugten die Wirkung eines Aliens, der jeden Moment zum Angriffsmodus übergehen mochte. Sie wirkte Respekt einflößend.

      »Ich habe vielleicht keine Freunde«, sagte Xialong entschlossen, »aber ich will auch nicht allein sein.«

      »Aber das da?«, sagte Kung.

      »Ist das neueste, leistungsfähigste humanoide Modell des Jiqiren-Konzerns, mit vollkommen natürlicher, hochflexibler Stimmmodulation und nur noch ganz aus der Nähe von einem Menschen zu unterscheiden. Natürlich muss sie etwas anderes anziehen.«

      »Sie?«

      »Dali, die Herrin. Und einen anderen Namen braucht sie auch.« Xialong zog den Stecker aus der Strombuchse und ließ es in die Achselgrube einschnappen. Nach kurzem Zögern schaltete sie den Bot ein. Ein kaum wahrnehmbarer Ruck ging durch die Maschine, dann hob sie den Kopf. In den Löchern der Gesichtsmaske hoben sich täuschend echte Lider. Dunkelbraune Augen schauten hervor, blickten nach rechts und nach links und richteten sich dann auf Xialong.

      »Null-null-null-null«, sagte die Xialong. »Kalibrierung.«

      »Bestätige: Kalibrierung.«

      »Neuer Name: Litse.«

      »Bestätige: Neuer Name Litse.«

      »Neues Passwort: Regenpfeifer.«

      »Bitte wiederholen Sie das neue Passwort.«

      »Regenpfeifer.«

      »Bestätige: Neues Passwort Regenpfeifer.«

      »Und sag bitte du zu mir, Litse.«

      »Bestätige: Ich sage du zu Ihnen.«

      »Zu dir.«

      »Bestätige: Zu dir.«

      »Kalibrierung beendet.« Xialong nickt zufrieden und wandte sich zu Kung herum, der die Prozedur wortlos beobachtet hatte. »Na?«, sagte sie nicht ohne Stolz.

      »Was, na?«

      »Litse kann sogar Humor.«

      »Oh«, machte Kung. »Jetzt, wo du's sagst …«

      Xialong schaltete den Rechner aus. Das Display erlosch und verschwand in der Tischplatte. Sie gingen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, doch diesmal waren sie zu dritt. Im Verkaufsraum winkte Xialong in einem Anflug von Übermut in die Überwachungskamera. Sie spürte Litse hinter sich wie eine alte Freundin, die sie immer schon begleitet hatte, und ganz falsch war das nicht, denn Litse war jetzt auf sie geprägt und würde sie niemals im Stich lassen. Sie war nicht mehr allein. Und in diesem von Ungewissheit zitternden Moment hoffte sie, dass auch sie eine Zukunft haben möge. Sie versuchte, sie sich vorzustellen, doch es gelang ihr nicht.

      

      8

      Der Himmel über Lhasa war tiefblau, die Luft glasklar, und der Schnee auf den Bergen leuchtete so grell, dass es den Augen wehtat. Die Hänge, Grate und Gipfel wirkten überwirklich und so nah, als reichte eine kleine Willensanstrengung aus, um sich den Vögeln gleich emporzuschwingen und zu den friedlichen Buddhas, den lächelnden Bodhisattvas, den zornigen Dharmapalas und den grimmigen Himmelskönigen zu fliegen, die sich nicht ohne Grund diesen Ort zur Heimat gewählt hatten. Aber so überirdisch schön der Tag auch war, lag doch eine lastende Stille über der sonst so geschäftigen Stadt. Die Werkstätten und Läden der Tibeter hatten geschlossen, auch viele ansässige Chinesen waren ihrem Beispiel gefolgt. Der Verkehr war fast zum Erliegen gekommen. Auf den Gehsteigen, in den Gassen und auf den Plätzen waren kaum Menschen unterwegs, und die wenigen, die einander begegneten, nickten einander zu, als wären sie Freunde, die ein bedrückendes Geheimnis miteinander teilten.

      Es war, als wäre die ganze Bevölkerung der Stadt am Platz vor dem Potala-Palast zusammengeströmt, über dem wie Raubvögel die Drohnenfänger mit ihren Netzkanonen kreisten. In Wahrheit waren es nur einige Hundert, mehr Menschen hatten die eilig errichteten Straßensperren nicht überwinden können. Doch sie wirkten vervielfältigt in ihrem trauernden Schweigen, denn sie waren Stellvertreter all derer, die in diesem bewegenden Moment nicht zugegen sein konnten und doch auf eine geheimnisvolle, übernatürliche Weise anwesend waren.

      Die siebzehnte Gebetsmühle hatte am fünfzehnten Tag aufgehört, sich zu drehen.

      Der Kleine Mönch war tot.

      Fünfzehn Glaubensbrüder in ziegelroten Gewändern knieten an der Absperrung am Rand des Platzes, intonierten Mantras, die zugleich aus dem Bauch der Erde und dem Himmelsäther zu kommen schienen. Mit geschlossenen Augen, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, wippten sie zeitlupenhaft verlangsamt mit den Oberkörpern. Recht und links von ihnen standen zwei chinesische Polizisten mit geschultertem Gewehr, aufrecht, mit starrem Blick und einem Glitzern in den Augen, das vielleicht vom Wind kam, der in Böen von den Bergen herunterwehte, vielleicht aber auch nicht.

      Ein kleiner rot-weiß lackierter Kranwagen bog von der Straße zum Platz ein. Zwei Soldaten trugen das Absperrgitter weg, dann fuhr der Wagen durch die Lücke, beschrieb einen Bogen, hielt an und setzte zu der Gebetsmühle mit dem Kleinen Mönch zurück. Der Fahrer, bekleidet mit einem blauen Arbeitsoverall, stieg aus, in der Hand eine Fernbedienung. Der Kranausleger schwenkte über die Gebetsmühle und verlängerte sich. An seinem Ende befand sich kein Haken, sondern eine Art Tülle. Plötzlich schoss ein Netz heraus, das die tönerne Walze vollständig umschloss und dessen Öffnung lose auf dem Boden auflag. Zwischen den Netzfäden war eine dünne, undurchsichtige Folie zu erkennen. Der Kranwagenfahrer richtete die Fernbedienung auf das Netz, worauf es sich langsam zusammenzog. Dann hob der Kran die Gebetsmühle mitsamt dem Sockel an. Einen