Norbert Stöbe

KLEINER DRACHE


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müssen wir überlegen, wie es jetzt weitergeht«, sagte Kung. Ihr Weinen machte ihn verlegen, und jetzt, da die Wirkung des Neeze nachließ, beschlich ihn kalte Angst. Auf einmal erschien es ihm durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass auch er die unsichtbare Grenze zwischen Unbeteiligtem und Mittäter längst überschritten hatte, auch wenn nach wie vor unklar war, worum es überhaupt ging. »Du musst irgendwo untertauchen«, sagte er. »Erst einmal zur Ruhe kommen. Bei einem Freund.«

      »Ich habe keine Freunde«, schniefte sie.

      »Das glaube ich nicht. Jeder hat doch Freunde – ich meine, jeder außer mir. Zumindest irgendwelche Bekannte, die er um einen Gefallen bitten kann.«

      Xialong schüttelte den Kopf und überlegte angestrengt. Ihr Lover Choum? Sie hatte mit ihm geschlafen, doch sie kannte ihn nicht, und er kannte sie nicht. Er wollte morgen nach Honkong zurückfliegen. Würde er bereit sein, die Rückreise zu verschieben, wenn sie ihn um Hilfe bäte? Und was könnte er überhaupt für sie tun, außer sie mit verlegenen Allgemeinplätzen beschwichtigen? Er war hier ein Fremder, kannte sich nicht aus.

      Dann vielleicht Tse Ma, ihre Nachbarin aus dem Wohnturm, deren Ameisen sie manchmal fütterte, wenn sie verreist war? Außer ein paar Bemerkungen über das erstaunlich komplexe System der Plexiglasröhren, die ihre ganze Wohnung durchzogen, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Zhang Sammo hatte sie noch nie privat getroffen, die Angestellten kannte sie nur aus dem Geschäft. Sa Sun, die Tochter ihres Englischlehrers, mit der sie einige Male ausgegangen war, hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal übers Com. Und ihre Mutter … ihre Mutter war vorerst nicht zu erreichen. Abgesehen davon wusste sie ihre Comadresse nicht, kannte nicht einmal ihre Mailadresse auswendig, das hatte alles Ken für sie arrangiert, und das, was von ihm noch übrig war, war auf ihrem Com gespeichert, das sie bei Onkel Wu liegen gelassen hatte und das jetzt vermutlich in den Händen der Leute war, die ihn entführt oder verhaftet hatten. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, am Tor des Kleinen Himmels zu klingeln und darauf zu hoffen, in der Wohnung ihrer Mutter jemanden anzutreffen, der ihr helfen konnte. So wie die Dinge standen, wäre das zu gefährlich gewesen. Und sonst … sonst gab es niemanden. Sie hatte keine Freunde. Sie war reich, erfolgreich, zu Großem bestimmt – und doch mangelte es ihr am Grundlegendsten, Einfachsten, Allgegenwärtigsten des Lebens – an Freundschaft. Sie war allein. Das war merkwürdig, und noch merkwürdiger war, dass es ihr all die Jahre über nichts ausgemacht hatte, ja, dass es ihr nicht einmal aufgefallen war. Sie hatte in einem wohltuenden, betäubenden Nebel gelebt. Jetzt lichtete sich der Nebel, und zum Vorschein kam eine neue Welt, auf die sie nicht vorbereitet war.

      »Wir müssen ins Geschäft«, sagte sie unvermittelt.

      »Was?«

      »Wir müssen ins Geschäft«, wiederholte sie. »Jetzt gleich.«

      Das Himmlische Geschöpfe hatte drei Eingänge: das Kundenportal an der Straßenecke mit dem kleinen Platz davor, das Lieferantentor, das zum Innenhof hinausging, und den unauffälligen Beschäftigteneingang neben dem Schaufenster, der in ein schmales Treppenhaus führte. Exakt drei Personen hatten zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu Himmlische Geschöpfe: Zhang Sammo, der stellvertretende Geschäftsführer, Tsema, der Lagerchef (für den Fall, dass eine dringende Lieferung außerhalb der Geschäftsstunden eintraf), und Xialong. Normalerweise identifizierten sie sich mit der ID-App des Coms, doch darauf konnte sie nicht mehr zugreifen, da sie das Com in Onkel Wus Wohnung zurückgelassen hatte, und es hätte wohl auch nicht mehr funktioniert. Der Annäherungssensor, der ihre Anwesenheit bemerkt hatte, verlangte bereits zum dritten Mal mit metallisch schnarrender Stimme: »Bitte identifizieren Sie sich!« Xialong wusste, dass nach der sechsten Aufforderung bei der zuständigen Überwachungsfirma ein automatischer Alarm ausgelöst werden würde. Dann würde es keine zehn Minuten dauern, bis ein Wagen hier eintreffen würde.

      »Und jetzt?«, flüsterte Kung, nervös von einem Bein aufs andere tretend. Sie standen dicht beieinander, und er bekam mit, dass sie mindestens zwei Tage lang nicht geduscht hatte. Er war in dieser Beziehung unempfindlich – gegen sich selbst und andere.

      »Es gibt ein Failsafe«, sagte Xialong.

      »Ach ja? Und wie funktioniert das?«

      »Kombinierte Stimm- und Gesichtserkennung.«

      »Nicht gerade der neueste Standard.«

      Xialong grinste. »Override«, sagte sie. Das Sensorfeld färbte sich dunkelgrün, und einen Moment lang spiegelte es ihr Gesicht, dann klickte das Schloss, und die Tür sprang auf. Sie zwängten sich in den schmalen Flur. Xialong zog die Tür hinter sich zu.

      Kung holte die Kopfleuchte aus seinem Rucksack, setzte sie auf und schaltete sie ein. Auch für Xialong hatte er eine Kopfleuchte eingepackt. »Und wenn jemand das Passwort geändert hätte?«, sagte er, als er ihr das elastische Band über den Kopf streifte.

      »Das war kein Passwort, sondern ein Systembefehl.«

      Kopfschüttelnd stapfte er hinter ihr über die schmale Fluchttreppe zur ersten Etage hoch. Vom Geländer der Empore aus blickte er in den dunklen Geschäftsraum hinunter. Die Bots ruhten unter ihren grauen Staubhüllen, schlafende Maschinen, von den draußen vorbeifahrenden Autos und der Straßenbeleuchtung in ein unstetes Halblicht gehüllt. Xialong hatte inzwischen die Tür zu ihrem Büro geöffnet, ebenfalls mittels Gesichtsidentifizierung. Sie kicherte leise; die Heimlichtuerei machte ihr offenbar Spaß.

      Kung hingegen war beklommen zumute. Er kam sich vor wie ein Einbrecher, und auch wenn dieses Gewerbe eine gewisse Verwandtschaft zum Hacken aufwies, war das hier doch etwas grundlegend anderes. Es war die Realität, und wenn man erwischt wurde, reichte es nicht aus, die Datenleitung zu kappen.

      Xialong hatte inzwischen hinter dem Schreibtisch auf ihrem Sessel Platz genommen. Ein Display fuhr hoch und beleuchtete fahl ihr Gesicht. Auf einmal sah sie aus wie eine Schauspielerin – wie eine Agentin in einem Thriller. Ihre Finger flogen über die Tastatur.

      »Du kannst zehn Finger?«, fragte Kung.

      »Du nicht?«

      Nein, konnte er nicht. Das chinesische Schreibsystem mit Umschrifteingabe und Auswahl des Zeichens aus der Ergebnisliste hatte er nie gemocht. Er verwendete eine amerikanische Tastatur im Zweifingersystem mit zusätzlicher Spracheingabe.

      Während Xialong auf den Bildschirm starrte und hin und wieder eine Handgeste für die Kamera vollführte, behielt er den Verkaufsraum und die Straße im Auge. Der Autoverkehr war stark, doch es waren relativ wenige Fußgänger unterwegs. Zwischen ihnen bewegten sich die kleineren Bots, die keinen Unterschied kannten zwischen Tag und Nacht und für ihre Besitzer Aufträge ausführten, während diese schliefen. Sie kauften ein, holten Pakete ab, entsorgten Müll und führten Hunde aus. Fast konnte man meinen, sie seien die eigentlichen Bewohner dieser Stadt, die ihren vermeintlichen Herren nur dann einen kurzen Auftritt gestatteten, wenn die Sonne die Staubglocke erhellte.

      Ein erstickter Aufschrei kam vom Schreibtisch. Er ging hinüber. Xialong fixierte das Display, die Hand vor den Mund geschlagen.

      »Was hast du?«, fragte er und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er spürte, wie sich etwas in ihr verflüssigte. Auf dem Display liefen die Bilder von vier Überwachungskameras. Xialong zeigte auf einen Punkt der Zeitschiene. Das Bild sprang um.

      »Da!«, sagte Xialong. »Siehst du?«

      Im linken oberen Fenster war der Eingang des Geschäfts zu sehen. Eine schwarze Schwebelimousine hielt auf dem Vorplatz, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus. Hinten stieg eine Frau aus: Xialong, bekleidet mit einem hellen, eng geschnittenen Kostüm. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, schaute ein wenig verwirrt oder abgelenkt zur Seite, dann trat sie durch die Glastür in den Präsentationsraum. Im zweiten Kamerafenster durchquerte sie den Raum, nickte nach rechts und links Angestellten zu. Kurze Zeit später tauchte sie auf der Empore auf.

      »Das bist du«, sagte Kung.

      »Nein«, widersprach Xialong und deutete auf die Zeitliste. »Das war vorgestern um siebzehn Uhr zwölf. Ich habe das Geschäft am