auf damit, das ist widerlich«, sagte Xialong. »Also, ist sie jetzt gefährlich oder nicht?«
»Tut mir leid«, sagte Kung. »Also, ich schätze, sie ist immer noch auf dich geprägt. Aber sie ist jetzt frei. Sie ist ein freier Bot. Solche wie sie werden von der Regierung gejagt und stillgelegt.« Er stand auf und zog das Kabel aus der Wartungsöffnung im Rücken des Bots.
»Okay«, sagte Xialong. »Regenpfeifer. Wartungsmodus beendet. Steh auf.«
Litse spannte sich an, stemmte sich hoch und richtete sich kraftvoll auf. Sie wendete den Kopf nach rechts und nach links, nach oben und nach unten. Täuschte sich Xialong, oder war ihr Blick jetzt wacher als zuvor? Lag vielleicht sogar so etwas wie Erstaunen darin? Hatte die Prägung tatsächlich Bestand, wie Kung es behauptet hatte? Oder würde Litse nach wie vor so harmlos und vorhersagbar sein wie einer dieser mechanischen Trottel, die einem beim Shoppen wie ein Hündchen auf den Fersen folgten? Doch es hatte keinen Sinn, Fragen zu stellen, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten ließen. Litse war nur ein weiteres Fragezeichen unter vielen. Sie wusste nicht einmal, wo sie morgen sein und wo sie heute Nacht schlafen würde.
Seufzend packte Xialong die Klamotten aus, die sie kurz zuvor in einem Minikaufhaus mit Kungs Geld gekauft hatte: billige schwarze Unterwäsche, zwei bambusfarbene T-Shirts, eine Jeans, ein dunkelgraues Sweatshirt und eine schwarze Nylonjacke mit vielen Taschen.
»Zieh das an«, sagte sie und reichte Litse die Kleidungsstücke. Kung beobachtete einen Moment lang mit offenem Mund, wie sie den Slip anzog, dann sagte er unvermittelt: »Hast du dir schon mal überlegt, dass deine Doppelgängerin ein Bot sein könnte?«
»Meine Doppelgängerin?«
»Die Person auf dem Video, die deine Stelle in der Firma und vermutlich auch anderswo eingenommen hat.«
Xialong hatte sie beinahe vergessen. Es war, als gäbe es eine verborgene Kraft, die sie immer dann, wenn sie ermüdete oder sich ablenken ließ, in den Geisteszustand vor der Abfolge von Katastrophen zurückschnappen ließ, die ihr Leben in den Grundfesten erschüttert hatte, in die Zeit, die ihr bereits unendlich fern erschien und in der alles einfach und übersichtlich gewesen war.
»Ein Bot?«, sagte sie. »Nein, ausgeschlossen. Das hätte ich gemerkt.«
»Auf dem Video? Bist du sicher?«
»Ja«, sagte sie beinahe trotzig. »Schließlich stellen wir die Dinger her. Es gibt Unterschiede in der Mimik und im Bewegungsablauf, die fallen nur Experten auf. Aber sie sind vorhanden.«
»Aber wer ist sie dann?«
Xialong zögerte. Die Erkenntnis setzte langsam ein, dann traf sie sie mit Wucht. Bis jetzt hatte sie es nicht gewusst, doch auf einmal kam es ihr unwiderlegbar logisch vor. Die Folgerung, die sich daraus ergab, zertrümmerte das Gefüge ihres Lebens. Der Boden wankte, die Fundamente barsten, zerfielen zu Staub. Es war, als habe sie sich und die Welt bis jetzt durch eine verzerrende Brille betrachtet, und nun, da die Brille zersplittert war, erkannte sie das Vertraute nicht mehr wieder. Es gab keinen Sinn mehr, keinen Halt, nirgends. Sie schwankte, ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.
»Xialong?«
Sie atmete schnaufend in ihre Hände, sie wollte nicht weinen. »Sie ist ein Klon«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Die Person, die mich verdrängt hat und mir nachstellt, ist meine …«
»Deine …«
»Meine Schwester!«
»Du hast eine Zwillingsschwester?«
»Nein. Sie ist meine Klonschwester. Es gibt nur diese Erklärung. Und wenn sie ein Klon ist, bin ich auch einer. Ja, ich bin ein Klon. Ein Klon!« Sie schluchzte.
Kung hockte sich unbeholfen neben sie und streichelte ihr Haar. »Klone sind verboten«, sagte er hilflos. »Es gibt bestimmt eine andere Erklärung.«
Ein ersticktes Auflachen hinter den Händen vor, dann hob sie ruckartig den Kopf. »Verboten!«, sagte sie mit schriller Stimme. »Ist das hier etwa nicht verboten?« Sie schwenkte den Arm durch sein dunkles Hackerverlies. »Ist es etwa nicht verboten, jemanden mit einer Drohne auszuschalten? Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, dass Klone verboten sind und stillgelegt werden, wenn man sie erwischt? Was soll ich denn jetzt machen? Wo soll ich denn jetzt hin?«
Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Kommt der Ausschnitt vorne oder hinten hin?«
Xialong hob den Kopf und starrte Litse an, die das T-Shirt in Händen hielt und es hilflos hin und her wendete.
»Nach vorn«, sagte Kung, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. »Wohin denn sonst?«
Als Litse das T-Shirt überstreifte, mit dem Ausschnitt an der richtigen Körperseite, neigte Xialong den Kopf an Kungs Ohr und flüsterte: »Ist das jetzt ein Zeichen von Entscheidungsfreiheit oder von eingeschränkter Intelligenz?«
Er lachte, froh darüber, dass sie noch scherzen konnte.
»Okay«, sagte er. »Ich glaube, du solltest das jetzt erst mal verarbeiten. Ich geh nach nebenan und versuche, ein bisschen Geld von deinem Konto abzuziehen, einverstanden?«
Xialong nickte, und Kung verschwand mit dem HeadGear hinter dem Vorhang, der seinen Arbeits- vom Privatbereich trennte. Er brauchte nicht lange, um sich in Xialongs von ihrer Doppelgängerin usurpiertes Konto einzuloggen und fünfundvierzigtausend Yuan auf ein Konto bei einer virtuellen Bank zu überweisen. Xialong hatte ihn gebeten, das Geld in Bitcoin zu konvertieren, doch er hatte einen besseren Vorschlag.
»Nimm X-Coin«, sagte er. »Bitcoin ist tot, glaub mir.«
»Von X-Coin habe ich noch nie gehört.«
»Weil es neu ist: besserer Algorithmus, ressourcenschonenderes Mining. In einem halben Jahr spricht die ganze Welt davon.«
»Bist du sicher? Ganz sicher?«
Er hob die Schultern. »Was ist schon sicher auf dieser Scheißwelt? Aber wenn ich Geld hätte, würde ich’s in X-Coin tauschen.«
Xialong hatte keine Ahnung, weshalb sie Kung vertraute. Aber vielleicht ging es auch gar nicht um Vertrauen, sondern um Mut und die Bereitschaft, alle Gewissheiten hinter sich zu lassen und daran zu glauben, dass etwas Neues möglich war.
»Dann tu’s.«
Er tätigte die Transaktion und überspielte das Digitalgeld auf einen USB-Stick. Jetzt hätte er zu Xialong zurückgehen, ihr den Stick übergeben und sie verabschieden können, was für seine eigene Sicherheit vielleicht am besten gewesen wäre. Doch die doppelte Versuchung – der Noser und das Neeze auf dem Nachttisch und der in seinem Kopf unablässig weiterblinkende weiße Block – waren einfach zu groß. Er gönnte sich eine mittelkleine Dosis, und als er leicht geworden war und sein Schlafverlies weit und prachtvoll, loggte er sich in den Tempel der Drei Wahrheiten ein und wählte das Vertrauen, den Raum, in dem Mei ihn erwartete, immerzu und auch jetzt wieder. Er hatte ihr so viel zu erzählen.
Als Kung hinter dem Vorhang hervorkam, hatte er eine Reisetasche dabei. Xialong, die in der Zwischenzeit ein wenig geschlafen hatte, blickte ihm fragend entgegen.
»Ich komme mit«, sagte er.
»Das kannst du nicht machen«, sagte sie schnell.
»Ich hab nachgedacht da drinnen«, entgegnete er. »Wenn sie bei Onkel Wu waren, werden sie über kurz oder lang auch bei mir anklopfen. Und glaub mir, hier gibt es einiges zu finden.« Er stellte die Tasche ab, setzte sich vor die Bildschirmwand, holte den Stick mit den X-Coins aus der Schublade und steckte ihn in die Buchse. Er überspielte etwas, dann hielt er den Stick an sein Schulterimplantat. Den Stick warf er auf den Boden und trampelte darauf herum. Dann steckte er einen zweiten Stick ein. Ein an- und abschwellendes Winseln kam aus den Lautsprechern, auf den Displays wurden die aus dem ganzen Land zusammengetragenen Trauerfeiern für den Kleinen Mönch von einem roten Symbol mit blinkendem Eingabefeld