– „Oh, ‘tschuldigung: Trainer, ey!“
Nun gut, am Anfang war ich vielleicht etwas streng: „Trainer, darf ich mal zur Toilette?” – „Okay, aber auf dem Hinweg kurze Sprints, auf dem Rückweg Sidesteps. Und beim Pinkeln selber auf der Stelle tänzeln, um nicht kalt zu werden.” – „Ich muss aber groß!” – „Da kannst du immer noch im Takt die Knie anheben!”
Über Kinderfußball sagt man gern: Du kriegst so viel zurück! In meinem Falle ist es so, dass ich das, was ich „zurückbekomme”, sogar beruflich verwerten kann. In meiner Mannschaft wächst nämlich nicht nur astreiner Fußballnachwuchs heran, sondern mindestens ein talentierter Komiker. Und der heißt Yussuf.
Im letzten Sommer ging es in der ersten Runde des Kreispokals gegen den SV Phönix, gegen den man niemanden in Bochum großartig motivieren muss, denn die spielen in Gelb-Schwarz. Aus einem 0:1-Rückstand machte mein Haufen junger Hunde tatsächlich noch ein umjubeltes 2:1. Nach dem Spiel wurden aus den elfjährigen Kampfschweinen wieder elfjährige Kinder, die sich gar nicht vom Schauplatz ihres Triumphes trennen konnten und noch eine Runde „Fangen/Verstecken” anhängten. Der Sportkamerad Kerim versteckte sich dabei in einer Papier-Mülltonne, was seinen Mannschaftskollegen Yussuf zu der Bemerkung veranlasste: „Guck mal, Frank, der Kerim ist schon zu Hause!”
Völlig überraschend kam der Scherz nicht. Schon drei Monate vorher hatte der Bülent Ceylan von Bochum eine Pointe platziert, die bemerkenswert mit den kulturellen Unterschieden in einer multiethnischen Fußballmannschaft mitten im Ruhrgebiet spielte.
Zu Beginn unseres E-Jugend-Turniers im Juni hatte ich mich in unserer Kabine aufgebaut und den Jungs erklärt, dass sie sich um die Verpflegung keine Gedanken machen und zwischen den Spielen garantiert nicht auf das am Vereinskiosk angebotene, leistungsmindernde Junkfood zurückgreifen müssten. Das Trainerteam habe, unterstützt von einer fleißigen Mutter, Gesundes besorgt: „Wir haben Bananen und wir haben Brötchen. Die Brötchen sind belegt mit Wurst und mit Käse. Natürlich nicht mit Schweinefleisch!” Das veranlasste einen Spieler zu dem Ausruf: „Höhöhö! Schweinefleisch!” Um nur ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, fügte der Trainer hinzu: „Es gibt eben Menschen, die essen bestimmte Dinge aus religiösen Gründen nicht.” Darauf Yussuf: „Stimmt, ich esse keine Bananen!” Und mit einem Seitenblick auf den Coach fügte er hinzu: „Trainer, ey!”
Ich kann diesen Job nur empfehlen.
Axel Formeseyn
Sonst noch wer ein Bier?
Es ist Sonntagmorgen in Hamburg-Altona. Offenbar hängt es von der Qualität der Fußballspiele ab, wann sie angepfiffen werden. Die Champions League beginnt um 20 Uhr 45, die Bundesliga um 15 Uhr 30, die Zweite Liga um 14 Uhr, unsere Erste auch, unsere Zweite um 12 und ganz unten – bei uns – fängt die Scheiße an. Um 10 Uhr. Ich spiele bei Altona 93, in der dritten Herrenmannschaft. Auf Grand. In der Betonliga Hamburg.
Wer bei Trost ist, schläft jetzt noch. Meine Freundin zum Beispiel. Nur vereinzelte Fischmarktbesucher und Besoffene schlendern auf dem Weg nach Hause an unserem Platz am Trenknerweg vorbei. Ansonsten sind bis auf Werner Biskup nach seinem Zug durch die Gemeinde mal wieder keine Fans da, als ich mit der geschulterten Sporttasche die rumplige Sportanlage betrete. Ich stoße die Tür zu unserer Kabine müde auf. „Moin.” Keine Antwort. Ich greife in die Trikottasche. Für mich sind einmal mehr nur noch Nummern jenseits der 11 oder die 2 übrig. Grrr. Ich sollte definitiv früher aufstehen, wenn ich als der technisch weitaus beschlagenste Spieler unserer Truppe Wert darauf legen will, auch einmal die 10 tragen zu dürfen.
Außerhalb der Kabine ist ein beherztes Rülpsen deutlich zu hören. Die Tür geht auf. Kulle ist jetzt auch da. Unser – das hört er gerne – „Sturmführer”. Er komme grad direkt vom Saufen, tut er lauthals kund: „Bei solchen Anstoßzeiten lohnt sich das Hinlegen doch eh nicht, Männer!” Fertig sieht er zwar aus, mit Saufen ist er es aber noch lange nicht. „Hat jemand noch ein Bier für den Meister über?” Man kommt ob solch obskurer Fragen kaum zum Lächeln, da meldet sich aus der anderen Ecke der Kabine unser knapp 70-jähriger Linksverteidiger Uwe zu Wort. „Für dich doch immer, Chef! Ist aber leider nicht mehr kalt!” Ob kaltes Bier, ob warmes Bier, Kulle nimmt es damit nicht so genau. „Du hast mir grad das Leben gerettet, Kumpel! Sportfreunde, wir trinken auf ,Uns Uwe‘, unseren besten Mann!” Und er setzt sich neben besagten „besten Mann”, umarmt diesen theatralisch, zerzaust ihm nebenbei die Haare und prostet dann jedem Einzelnen von uns zu. Wir nicken stumm zurück. Im Gegensatz zu unserem Trainer, der soeben mit ernster Miene hereinspaziert ist und Kulle anraunzt: „Sach mal, bissu wahnsinnig?! Was glaubst du eigentlich, wo du hier bis‘?! Unser Saisonziel heiss’ Aufstieg! Da kann ich keine Besoffenen bei gebrauchen!” Betretenes Schweigen. Rülps! Das war Uwe. „‘schuldigung, Coach!” Der verlässt wütend die Kabine. Die Tür knallt zu. Uwe fragt in die Runde: „Außer Kulle sonst noch wer ein Bier?”
Als wir den Platz betreten, ist immer noch kein Schiedsrichter in Sicht. Nicht das erste Mal müssen also wir als Heimteam einen der Unseren auswählen, der sich eineinhalb Stunden lang von verkaterten Betonfußballern anpöbeln lassen darf. Klar, dass sich niemand um den Job reißt. Muss auch keiner. „Kulle, dich kann ich auffem Platz heude sowieso nich’ gebrauchen. Du machst das!”, legt unser Trainer fest. Meine Hoffnung, der Auserwählte möge sich ob seines fragwürdigen Zustandes zurückhalten und abwinken, verpufft wie die meisten unserer Angriffe: wirkungslos. Neu-Schiri Kulle baut sich vor uns auf, nimmt einen erneut tiefen Schluck aus der Pulle und kündigt lauthals an: „Heute hagelt es Rote Karten, Leute! Und zwar nicht für uns!”
Unser Coach rollt mit den Augen und schickt alle zum Warmmachen. Das übliche Pflichtprogramm vor dem Spiel sieht bei uns allerdings kein sportwissenschaftlich fundiertes „Dehnen” oder „kurze Sprints”, sondern Lattenschießen und Ballhochhalten vor: Einmal auf den Fuß, einmal auf die Erde, einmal auf den Fuß, einmal auf die Erde. Muss man auch erst mal hinkriegen. Während einer kurzen Verschnaufpause sehe ich unseren heutigen Gegner sich hochprofessionell in Reih und Glied warmmachen. Es sind die vierten Herren von Teutonia Hamburg, die, seien wir mal ehrlich, so rein gar nicht teutonisch aussehen. Und die fünfzehn dunklen Schnauzbärte vom Bosporus haben sich offensichtlich eine Menge vorgenommen.
Neben dem Platz klatscht sich auf Teutonia-Seite die womöglich größte Delegation in der Geschichte des deutschen Amateurfußballs ab: Masseur, Teammanager, Co-Trainer, Trainer, Präsident, Mäzen, Zeugwart, Platzwart, Tankwart, bummelig acht Ersatzspieler und zusätzlich noch eine unübersichtliche Anzahl an Fans, die allerlei Bohei neben dem Platz machen. Zu allerlei Bohei auf dem Platz kommt es, als auch den Teutonen klar wird, dass ausgerechnet dieser „dicke Mann mit die zu kleine Trikot” das Spiel zu leiten gedenkt. Kein Wunder, gibt sich dieser „dicke Mann mit die zu kleine Trikot” doch so überhaupt keine Mühe, seine Sympathien zu verhehlen: „Dritte Herren, bleibt cool! Teutonia hat doch längst verloren. Lasst das mal den Kulle machen!” Was die Offiziellen und Fans des Gegners klar und deutlich hören können, schließlich ruft er es mehr in deren Richtung, als dass er es uns verschwörerisch zuflüstert. Logisch, dass auf der anderen Seite „eine krasse Betrug!” gewittert wird. Das kann ja was werden heute …
Das Spiel beginnt mit Verzögerung, schließlich muss sich Kulle („Aber nur unter Protest!”) nach dem ganzen Tohuwabohu zunächst noch eine Trainingsjacke über sein Altona-Trikot drüberziehen, wegen „unparteiisch” und so. Selbstredend, dass wir trotzdem Anstoß haben und es schon bei der ersten brenzligen Situation lichterloh brennt – zumindest die Teutonen auf und neben dem Platz tun dies: „Der Ball war aus, Schierri!” Doch der „Schierri” lässt sich nicht beirren: „Weitermachen! Immer weitermachen!” Schon wenige Sekunden darauf drehen die teutonischen Türken das nächste Mal frei. Kulle hat auf Freistoß für Altona entschieden. „Das ist doch die große Scheiße hier! Ein Betrug ist das!” So geht das alle paar Sekunden. Wir lassen uns, na logen, auch nicht die Butter vom Brot nehmen. Im Schnacken, Lamentieren, Arme Rumfuchteln und „Was willst du denn, hä!?”-Brüllen sind wir ganz groß!
Es ist fast Mittag, als Rechtsverteidiger Dieter auf seine Uhr schaut und um Weiterspielen bittet. „Seht zu, Leute! Meine Alte wartet