Ronald Reng

Auf Asche


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die Damen tauschen.

      „Kontermann”, sagte ich und beugte mich zu ihm runter, so dass ich dem Teufelskerl direkt ins Gesicht blicken konnte. „Kontermann, du wirst dieses Team führen, auch wenn du vornehmlich damit beschäftigt sein wirst, dem kleinen Bastard die Knochen zu brechen. Ich will, dass der keinen einzigen Ball in den Fuß bekommt, keinen einzigen, verstehst du. Und in dem Moment, wo wir ihnen durch dich das Herz zerreißen, wirst du sie wie ein Vater über dieses Feld begleiten und uns den Sieg holen, Verstehst du das?”

      Kontermann wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte. Ich hatte seinen Punkt getroffen, aber dafür hatte man mich eingestellt, und ich wusste, wie man mit solchen Problemfällen umzugehen hatte, die Schlachten der Vergangenheit hatten schließlich auch an mir ihre Spuren hinterlassen. Aber eine Position war noch offen, die eleganteste Position, die Frage nach dem Stürmer unseres Teams.

      „Cocco”, sagte ich. „Cocco, wir werden dich womöglich erst in der zweiten Halbzeit bringen.”

      Die Mannschaft atmete durch. Kanitz konnte es nicht fassen, was ich dort tat, aber als Trainer war es nicht meine Aufgabe den Spielern zu erklären, was mein Plan war. Auch hier musste ich meine Autorität beweisen, und so sagte ich feierlich: „Klein-Tiedtge … du bist heute unser Mann.”

      „Das ist Wahnsinn”, sagte der Kollege Singh und keuchte eine weitere Gauloises durch seine Lungen. Die Mannschaften hatten sich gerade gegenüber aufgebaut, der Schiedsrichter faselte seine Fairness-Litanei hinunter und Joker fixierte uns durch seine Sonnenbrille hindurch. Ich konnte seine aggressiven Blicke auf meiner Haut spüren.

      „Wenn das schiefgeht …”, sagte ich. „… dann brauchen wir uns heute Abend im Lager nicht mehr blicken lassen.”

      Der Ball rollte los, die ersten Stafetten wurden gespielt. Kanitz kam nicht richtig ins Spiel, seine neue Aufgabe war ihm noch nicht vertraut, aber Kontermann spielte die Partie seines Lebens. Der Zehner lag nach 20 Sekunden das erste Mal im Gras, Kontermann tat so, als würde er über ihn fallen und rammte ihm dabei das Knie in die Seite.

      „Genau so, genau so!”, schrie ich und gab meinem Herzstück Szenenapplaus. „Ich will, dass Klein-Maradonna hier keinen Stich mehr bekommt, hast du mich verstanden!”

      Kontermann nickte und zeigte mir den Daumen, er hatte seine Rolle angenommen und er erfüllte sie wie ein Profi. Mein Plan ging auf. Dadurch, dass wir ihr Nervenzentrum ausschalteten, gelang ihnen nichts mehr. Unser Gegner wirkte konsterniert, überrascht von dieser Finte, nahezu chaotisch in der Grundorganisation. Es war fantastisch zu sehen, wie wir ihnen durch diesen taktischen Trick den Schneid abkauften.

      Aber auch wir konnten offensiv keine Akzente setzen. Kanitz war weit davon entfernt, all das leisten zu können, was wir von ihm verlangten, und auch wenn Fuhrmann und Tiedtge hinten grandiose Arbeit ablieferten, so stand vorne Klein-Tiedtge auf verlassenem Posten.

      In der Halbzeit versammelte ich meine Mannschaft um mich herum, sah in all diese erschöpften Gesichter, strich über Köpfe und kräuseliges Haar, verteilte Hanuta an jeden, der es gerade brauchte. Nervennahrung und überall diese Anspannung in den Gesichtern. Ein Siebenmeter-Schießen wollte ich unbedingt vermeiden, Porno-Kerkes war noch nicht so weit, und wir konnten von Glück sagen, dass noch kein Ball auf sein Tor gekommen war. Eine verflixte Situation, die ich zu meistern hatte wie viele Männer vor mir, von Shankley bis Hitzfeld.

      Ich weiß bis heute nicht, warum ich diesen Gedanken hatte, wahrscheinlich hatte er mit einer Möwe zu tun, die in elegantem Flug an uns vorbeisegelte und schlussendlich punktgenau landete, ja, wahrscheinlich war es das, was mich zu meiner nächsten taktischen Meisterleistung führte. Ich hatte den Schlüssel endlich gefunden.

      „Männer …”, sagte ich. „Wir spielen ab jetzt nur noch hoch und weit. Hoch und weit! Habt ihr das verstanden?”

      „Das ist es, Trainer …”, zischte der Kollege Singh nachdenklich. „Das ist es. Wildberg, sie sind ein Teufelskerl!”

      „Ich weiß”, sagte ich zitternd, übermannt von dem eigenen Genie, bevor ich mich wieder zum Spielfeld umdrehte.

      Niemand kann mehr sagen, was in diesem Moment genau passierte. Es waren erbarmungslose Minuten gewesen, ein Flachschuss zog knapp an unserem Tor vorbei, ein langer, hoher Ball klatschte an die gegnerische Latte. Kontermann war immer noch damit beschäftigt, den gegnerischen Zehner in Grund und Boden zu stampfen, Kanitz kam immer noch nicht in die Partie. Wir hatten sie unter Kontrolle, aber von einem Tor waren wir immer noch weit entfernt. Und dann vollzog sich der Traum direkt vor unseren Augen.

      Fuhrmann bekam einen Abklatscher von Kerkes vor die Füße, er warf einen kurzen Blick in Richtung gegnerisches Tor, dann jagte er die Rakete übers Feld. Das Runde flog wie eine Möwe in Richtung des gegnerischen Strafraums, Klein-Tiedtge lümmelte auf dem Boden herum und sortierte Gänseblümchen, ich hörte ein dumpfes „Tiedtge, du Penner, konzentrier dich aufs Spiel!”, den Kollegen Singh hatte es wohl auch aus den Latschen gerissen, aber ich befand mich nur noch in der Twilight Zone zwischen Adrenalin und Wahnsinn. Der Ball machte eine weite Flugkurve, Tiedtge sprang auf und drehte sich um. Und es sind diese Momente, in denen ein Spieler Weltklasse beweist und mit untrüglichem Gespür für die Situation genau dann da ist, wenn man ihn braucht. So einer war Klein-Tiedtge, ich ahnte es, und schlussendlich wusste ich es auch.

      Es kam einem wie Ewigkeiten vor, als Tiedtge den Ball galant annahm und sich anschließend um die eigene Achse drehte, nur noch er und der Torwart, auf der Uhr vielleicht noch zwei Minuten. Ein kurzer Blick, das rechte Eck war frei. Mit einem leichten Schlenzer umkurvte der Ball den Torwart, wie lange brauchte er, bis er endlich am Pfosten vorbei und ins Netz rauschen würde?

      An den Rest erinnere ich mich kaum noch. Ich spürte nur noch, wie sich etwas um meinen Hals warf und ich zu Boden fiel, danach sah ich die Füße meiner Spieler im Spurt auf das Spielfeld stürmen. Um mich herum war nur noch grenzenloses Geschrei und ungeheurer Jubel, wilde Ekstase, die man nie wieder vergisst. Erst als ich mich halbwegs sortiert hatte, erkannte ich den Kollegen Singh auf mir liegen, in aller Liebe, die dieser Sport hervorzaubern kann, und hörte, wie er schrie: „Da ist das Ding, Kollege, da ist es!”

      Und als ich von dort aus in den Himmel starrte, entdeckte ich diese weiße Möwe und hatte das Gefühl, als wenn sie mir zunicken würde. Es war dieser Augenblick, als ich kapierte, dass wir soeben Geschichte geschrieben hatten.

      Ein großer Moment.

      Ein erhabener Moment.

      Mein größter.

      Jens Kirschneck

       War richtig so

      Kann es sein, dass Fußballer flächendeckend an der Glasknochenkrankheit leiden? Man möchte es annehmen, wenn man wieder mal sieht, wie ein Profi nach allenfalls leichtem Körperkontakt zu Boden geht, als habe ihn ein Blattschuss einer doppelläufigen Schrotflinte erwischt. Unsere Redaktionspraktikantin, die in ihrer Freizeit Rugby spielt und danach oft so aussieht, als habe sie sich am Wochenende durch mehrere Wirtshausschlägereien gearbeitet, begegnet dem Gebaren der Kicker mit Fassungslosigkeit. Aktive, die sich nach jeder Berührung wälzen wie eine zweitklassige ukrainische Bodenturnerin, würden im Rugby soziale Ächtung erfahren. Im Fußball hingegen ist die Wehleidigkeit gesellschaftlich legitimiert, es wird gejammert, gewinselt und noch im Flug die nötige Auswechslung angezeigt, wie es die Spezialität des früheren Bielefelders Fatmir Vata war.

      Bedauerlich, wenn das Vorbild des Profitums bis an die Basis durchschlägt. So hatten wir in unserem Wilde-Liga-Team einen Kollegen, der einst nach jedem harmlosen Zweikampf mit dem gellenden Schrei „Kniescheibenbruch!” zusammenklappte. Ein anderer lief, nachdem er bei einem Kopfballduell einen leichten Cut über dem Augen erlitten hatte, über den halben Platz und rief: „Das ist so gemein! So gemein!” Na ja, wahrscheinlich Schock, wollen wir mal nicht zu streng mit ihm sein. Trotzdem lobe ich mir jene, die auch im Angesicht schwerer Verletzungen Würde und Contenance bewahren. Einmal fiel in einem Spiel ein Akteur der gegnerischen Mannschaft so unglücklich, dass irgendetwas Blödes mit seinem Arm passierte, jedenfalls stand der Unterarm lotrecht vom Oberarm ab, leider in die