zurück nach Sizilien verzogen. Seine Mutter glich diese Kränkung dadurch aus, dass sie vier weitere Männer verschliss, die sie ihrem Sohn jeweils im Rhythmus der Gezeiten als „neuen Papa” vorstellte. Alessandro wusste nur zu gut, mit welch unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Mensch gesegnet war. Er konnte einen Gegner bis aufs Blut provozieren, so vertraut waren ihm die unterschiedlichsten Typen, die Extrovertierten wie die stillen Brüter, die aufbrausenden Exoten wie die filigranen Künstler, alle kannte er sie von zuhause.
„Ich fang immer erst an, mich darüber lustig zu machen, wie die spielen”, erklärte er mir einstmals in einer dieser ruhigen Stunden, die Spieler und Trainer gemeinsam bei einer Zigarette verbringen und in denen sie so offen reden wie nur selten. „Wenn das nicht hilft, beleidige ich erst seine Mutter, dann seine Schwester. Ich hab mich auch schon über die Krebserkrankung eines Vaters lustig gemacht, aber nur einmal. Meistens krieg ich dann irgendwann eine gescheuert, und der andere fliegt vom Feld.”
Alessandro war genau die Kategorie Straßenfußballer, die wir brauchten. Eine kleine, fette, italienische Diva, zickig bis zum Umfallen, mit billigem Goldkram behangen, am Ball aber ein Zauberer vor dem Herrn. Er schoss Tore, von deren Schönheit wir noch die Nacht darauf träumten. Nie werde ich vergessen, wie einstmals Kai Kanitz in einem dieser legendären Spiele auf den gegnerischen Torwart losstürmte und wie er versuchte, den Ball links an ihm vorbeizuschlenzen, wie er gnadenlos an einer famosen Parade scheiterte, und wie an der Außenlinie unser Torschrei erstickte. Der Torhüter reagierte wie ein Panther. Er war in Windeseile unten, nahezu unmöglich, aber so reaktionsschnell er sich auch zeigte, er konnte den Ball nur noch nach vorne abklatschen lassen. Alessandro kam aus der Tiefe des Raumes. Er hatte die Situation gerochen, seine Instinkte waren famos, und genau dafür hatten wir ihn geholt. Aber es wäre nicht Alessandro gewesen, wenn er den Ball einfach ins leere Eck geschoben hätte, ihm ging es nie darum, nur ein schlichtes Tor zu erzielen. Jeder seiner Aktionen merkte man an, dass er die Wichtigkeit, die Vehemenz und Brutalität dieser Derbys bis ins Mark verinnerlicht hatte. Auch damals, als er den Ball dem auf dem Boden liegenden Torhüter mit Vollspann aus etwa zwei Metern ins Gesicht schoss, bevor das runde Leder anschließend in einer galanten Flugkurve ins Tor trudelte. Ruhige Augenblicke, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, aber wo wir nur einen Augenblick später orkanartig auf den Torschützen losstürmten, wild und entschlossen, so ausgelassen feiernd wie nur ganz selten in unserem Leben.
Die Tiedtge-Brüder saßen direkt daneben. Zwei Jahre auseinander, zwei verschiedene Väter, selbst bei der Mutter waren wir uns nicht sicher. Während der Größere in ganz alter Manier als Wadenbeißer bekannt war, als Terrier und als Wasserschlepper, der seinen Job unterkühlt und effizient erledigte, der sich in einen Blutrausch spielen konnte, wenn es nötig war, und der die Übersicht behielt, wenn die Mannschaft ihn brauchte, handelte es sich bei dem Kleineren der beiden um den Typ Wühler und Vollstrecker. Einzig und allein sein Alter machte uns zu schaffen. Wir wussten nicht, ob er dieser Belastung standhalten könnte, es war seine erste Finalrunde, und so kaltschnäuzig er sich in den bisherigen Spielen auch zeigte; nicht wenige junge Spieler verlieren im entscheidenden Spiel ihre Nerven und haben sich anschließend nicht mehr unter Kontrolle. Ich streichelte ihm im Vorbeigehen väterlich über den Kopf, er grinste hoch und biss vorfreudig in seine Schnitte. Vielleicht war es gut, dass er sich an einem solchen Tag seine Unbekümmertheit bewahrte. Er würde noch früh genug merken, worum es hier ging.
Der Kollege Singh hatte sich mit einer anderen Bande an einen Tisch in die Ecke begeben. Es waren die schweren Fälle, diejenigen, die schon morgens Beschäftigung brauchten, all jene, die mit schlotternden Beinen aufgestanden waren und die wir ein wenig abkühlen mussten. Philipp Kerkes, Marc Fuhrmann und Kevin Kontermann, das Triumvirat aus Angst, Panik und Adrenalin.
Kerkes war unser Torwart. Er wurde von uns hinter vorgehaltener Hand und mit einem väterlichen Lächeln auf den Lippen „Porno-Kerkes” genannt. Sein Lieblingswitz bestand darin, den Mannschaftskameraden zu jeder Tages- und Nachtzeit sein Geschlechtsteil zu zeigen. Er war der Spaßvogel des Teams, jemand, der die Bande bei Laune halten konnte, aber er hatte zitternde Hände, und wir hatten niemand anderen, den wir ins Tor stellen konnten.
Fuhrmann war Choleriker, jemand, der das Geschrei zum Überleben brauchte, der damit aber auch ein gesamtes Team verunsichern konnte. Nicht selten packte er Mitspieler während hitziger Partien beim Nacken und keifte sie wutschnaubend an. Er rannte wild gestikulierend durch den Strafraum und schrie seinen Kameraden hinterher, warum sie ihn nicht angespielt hätten. Er zeigte ihnen den Vogel und winkte missmutig ab, wenn wir ihn in den letzten Minuten als Kämpfer gebraucht hätten.
Bei Kontermann sah die Lage ein wenig anders aus. Er hatte das Problem, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten musste, und dabei konnten ihm seine kniehohen Buffalos nicht helfen, so gerne er sie auch trug und so viel Spott sie ihm auch einbringen mochten. Vater Kontermann spielte einige Jahre in der Oberliga, das war das Erbe, das es anzutreten galt, und nicht wenige Kinder von großen Fußballern sind an diesen Ansprüchen zerbrochen. „Du wirst sie anführen wie ein Löwe”, flüsterte der Kollege Singh ihm ins Ohr, eine raffinierte Psychologie, nicht zuletzt der Grund, warum ich ihn an meiner Seite haben wollte. „Du wirst sie wie ein Vater übers Feld leiten. Und unter deiner Führung werden wir diesen Titel gewinnen.”
Das war es also, unser Team. Es saß hier im Morgengrauen, starrte an die Wand oder bleckte langsam die Zähne. Es wurde immer fokussierter und zielstrebiger, nur noch wenige Stunden bis zu den Finalen („Finalen” ist irgendwie ein verwirrender Begriff. Geht auch „Endspielen”?). Ich pfiff das Team zusammen, setzte mich zu ihm an den Tisch, wartete einen Augenblick, bis sich alle versammelt hatten, und sagte „Männer …”, bevor ich eine kurze Pause machte und langsam und bedächtig, den Umständen angemessen, anfügte: „Heute ist es an der Zeit, Geschichte zu schreiben …”, während die Sonne in ihrer einzigartigen Kühnheit Richtung High-Noon kroch.
Am Abend vorher hatten der Kollege Singh und ich an der Theke des „De Klok” gesessen. Hier war der Schmelztiegel dieser Insel, und auch wenn man es diesem urig-roten holländischen Backsteinhaus nicht auf den ersten Blick ansah, dort, wo die Gäste Dreiband-Billard in schicken Anzügen spielten, die Kellner noch die Uniform trugen, die bereits ihre Väter und Großväter getragen hatten und samtrote Kissenbezüge den Lichtkegel des Kristallleuchters dumpf reflektierten, so waren sie hier doch alle versammelt, grausame Männer vor dem großen Finale, im Whiskeydunst und zwischen Rauchschwaden vereint. Der Vorstand eines jeden Teams war vor Ort, die Erzfeinde saßen zusammen an der Theke, ignorierten sich beharrlich und kamen im Laufe der Nacht doch ins Gespräch.
Ein paar Plätze weiter saß Joker mit seiner Bagage. Er war der Trainer des Erzfeindes, seit Jahren schon, wir kannten uns aus dem Effeff. Vor einiger Zeit hatten wir noch Freundschaftsspiele gegeneinander bestritten, aber nachdem unserem Torwart in einem dieser Spiele das Wadenbein gebrochen worden und es im Anschluss daran zu einem wilden Handgemenge gekommen war, bei dem von Klapptisch bis Zeltgarnitur alles hatte herhalten müssen, gingen wir uns so lange aus dem Weg, bis der Spielplan es nicht mehr zuließ, den anderen stillschweigend zu meiden.
Wir nannten ihn Joker, weil er ein paar unglaubliche Gemeinheiten auf Lager hatte. Einstmals rotzte er vor dem Spiel einem unserer Spieler direkt vor die Füße und schrie: „Solltest du kleiner Affe heute tatsächlich glauben, meinen Jungs einen einschenken zu müssen, reiß ich dir den Kopf ab, verstanden?” Ein anderes Mal trat er vor unseren Torhüter und sagte ihm, dass es ihm bis heute ein Rätsel sei, warum dessen Mutter ihn einstmals nicht abgetrieben hätte, etwas, was den damals noch jungen Kerkes sehr beunruhigte und ihm auch noch den letzten Nerv raubte.
Ich schlug ihm auf die Schulter, sagte: „Na, du dämliches Arschloch!” und setzte mich neben ihm auf den Hocker.
„Die Herren Singh und Wildberg, willkommen.” Er sagte dies mit dieser nasalen, zynischen Stimme, welche uns aus vielen Jahren nur allzu bekannt war. „Ich hab euch ein wenig beobachtet. Die Kollegen Fuhrmann und Kontermann scheinen ja immer noch eher auf der grenzdebilen Strecke unterwegs zu sein, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.”
Der Kampf ging schon jetzt los, daran ließ sich nichts ändern. Ich warf einen Blick durch die Kneipe, bevor ich mir dachte, dass es an der Zeit wäre, die härtere Gangart anzuschlagen: „Ich hab gehört, deine Olle ist gestern