weitergehen würde. Ich schlug vor, ein wenig Reiseproviant einzukaufen und etwas zu trinken. Meine Güte, Ferien in Frankreich, dachte ich und stieß mit der Bande an.
Wir kamen sehr spät zum Bus zurück und mußten uns mit Plätzen im Untergeschoß zufriedengeben. Egal. Wir hatten einen Tisch zwischen den Sitzen, packten die Flaschen aus und waren richtig lustig. Ich hatte einen ganzen Liter Rum gekauft und schwor, daß ich bis Paris nicht schlafen würde. Bald senkte sich die Dunkelheit über uns, während wir uns die Autobahn entlangfraßen. Wir langten beim Alk fröhlich zu und unterhielten uns lebhaft. Aber dann fiel einer nach dem anderen aus. Abgesehen von mir, der um keinen Preis einschlafen durfte, wollten die meisten am nächsten Morgen Paris ausgeruht gegenübertreten. Am Ende waren nur noch der israelische Schwarze und ich übrig. Der restliche Bus schnarchte vor sich hin, und wir beide waren auch schon kurz davor. Ich blieb allein, und es war eine unmögliche Aufgabe, mich wachzuhalten. Die Flasche war zwar eine gute Gesellschaft, aber jeder Schluck kam mir jetzt vor wie eine Schlaftablette.
Als ich aufwachte, war es hell. Wir hatten eine weitere Grenze passiert und befanden uns jetzt in Frankreich. Die gütigen Zollbeamten hatten es nicht übers Herz gebracht, uns zu wecken. Meine Augen! Sie waren gereizt und ich kam mir vor, als habe irgendwer einen Eimer Sand hineingekippt. Shit! Die Kontaktlinsen! Ich hätte damit doch nicht schlafen dürfen. Hoffentlich würde es nicht schlimmer werden. Und auf keinen Fall durfte ich mir etwas anmerken lassen.
Wir hielten vor einer Autobahnraststätte. Obwohl ich einen Schweinehunger hatte, wäre ich lieber ohne Pause nach Paris weitergefahren. Aber leider war nicht ich der Reiseleiter, deshalb war jetzt Frühstück angesagt. Ehe ich zum Essen ging, versuchte ich, etwas mit meinen Augen zu machen. Ich wagte nicht, die Linsen herauszunehmen – und das sollte sich später als kluge Entscheidung erweisen. Ich spritzte mir Wasser in die Augen, aber das half nichts. Meine Reisekameraden hielten mich für verkatert, als sie mein verbissenes Gesicht sahen. Vielleicht war ich das ja auch, aber darauf achtete ich nun wirklich nicht. Für mich gab es nur meine Augen, die ganze Zeit kreisten meine Gedanken um meine verdammten Augen. Ich trug die Linsen jetzt seit mehr als dreißig Stunden und hatte acht damit geschlafen. Wenn ich mir nur keine bleibenden Schäden geholt hatte!
Aufbruch. Der Fahrer teilte mit, daß wir in zwei Stunden Paris erreicht haben würden. Erleichtert machte ich es mir im Bus gemütlich. Wir hatten uns jetzt Plätze ganz oben erschlichen. Die Aussicht war vermutlich überwältigend, aber ich konnte sie nicht genießen.
Paris. Die Stadt der Liebe, aber mir war das alles umwerfend egal. Wir wichen dem Schnellstraßennetz um die Innenstadt aus und ruckelten durch die Vororte. Triste Mietskasernen und palastähnliche Bauten. Irgendwer entdeckte in der Ferne den Eiffelturm, und der Israeli neben mir bot Bonbons an. Mehrere von meinen Reisegefährten wollten mit mir durch die Stadt ziehen, aber das mußte ich ablehnen. Meine Guckapparate taten inzwischen dermaßen weh, daß ich nicht länger zur Tarnung einen Kater vorschützen konnte. Ich machte die starke französische Sonne für alles verantwortlich. Eine ziemlich bescheuerte Erklärung, aber sie war ja nicht zu widerlegen. Wir hielten vor allerlei Hotels und endlich kamen dann wir an die Reihe. Ich wurde mit einem von den Typen, die ich schon in Odense kennengelernt hatte, auf ein Zimmer gesteckt. Ehe wir nach oben gingen, bat ich den Portier, telefonieren zu dürfen. Ich wählte die Nummer und wartete. »Allo, allo«, sagte jemand. »Hello, my friend; I am arrived at the hotel.«
»Okay, I pick you up.«
Auf meinem Zimmer nutzte ich die Wartezeit, um mich von meiner zweitgrößten Plage zu befreien. Paris war heiß, und mein Anzug klebte inzwischen so fest wie Karlsons Kleister. Eine Runde Duschen und leichtere Bekleidung halfen. Fünfzehn Minuten nach meinem Anruf wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Ich öffnete, und ein lächelnder Bruder trat ein. Wir umarmten einander. Nur wenige meiner französischen Brüder sprachen Englisch, aber glücklicherweise gehörte dieser dazu. Mein Zimmerkamerad kam vom Balkon herein, wir nahmen Abschied voneinander und ich verließ das Hotel.
Meine ersten zehn Tage in Paris verbrachte ich auf dem Rücken. Nachdem ich die Kontaktlinsen herausgepflückt hatte, explodierten meine Augen vor Schmerz. Die ersten beiden Tage waren die schlimmsten. Fast blind lag ich auf einem Sofa, während die Augentropfen aus der nächstgelegenen Apotheke ihre Wirkung taten. Dröhnende Kopfschmerzen und ein ununterbrochen rotzender Rüssel gaben sich alle Mühe, um die Lage noch zu verschlimmern. Die Wohnung, in der ich mich aufhielt, gehörte einem Bruder, der in Urlaub gefahren war. Sie war kühl und geräumig, die Fenster waren von breiten Blenden verdeckt. Die Brüder kümmerten sich wunderbar um mich. Sie brachten Lebensmittel und kochten für mich. Die ganze Zeit sorgten sie für Medizin und saubere Tücher. Zuerst wurde mein rechtes Auge normal und ich konnte es wieder ertragen, aufrecht zu sitzen. Das linke Auge war schwerer betroffen. Mein Bruder hatte einen großen, blasenartigen Knubbel entdeckt, als er die Linse herausgefischt hatte.
Nachdem ich wieder auf die Beine gekommen war, fing ich an, mich zu orientieren. Bisher war, abgesehen von den Brüdern, das Tag und Nacht laufende Radio meine einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen. Ich hauste in einem großen modernen Wohnkomplex im Stadtteil Crimée. Die Wohnung lag im Erdgeschoß. Sie hatte nach hinten eine Terrasse und zur Straße hin einen Balkon. Es war ein sehr gut ausgerüstetes Nest, und nach den Dekorationen zu urteilen, schwärmte mein Bruder für den Wilden Westen. Cowboyhüte. Peitschen, Speere, Bogen und Bilder aus Dodge City und vom Little Big Horn schmückten die Wände. In einer Ecke standen zwei handgefertigte Sättel, für den Fall, daß man von Reitlust überfallen wurde. Was mir jedoch nicht passierte. Ich versuchte lieber, Französisch zu lernen. Ich konnte an die zehn Wörter, und nachdem ich mich vor den Fernseher gesetzt hatte, ging mir auf, wie wenig englischsprechende Menschen mir begegnen würden. Die Franzosen waren ein Volk, das auf seine eigene Sprache Wert legte.
Willkommen daheim«, rief ich vom Balkon. Mein Bruder war unten auf seiner Harley vorgefahren, und ich empfing ihn nun in seiner eigenen Wohnung. Er und seine Frau sahen müde aus, sie waren ohne Pause von Nizza hergefahren und hatten nicht einmal mehr die Kraft, ihr Gepäck ins Haus zu bringen. Alain und ich waren uns einmal im Ritz in New York City begegnet. »Du riechst nach Ziegen!«
»Was für einen Duft hast du denn nach so einer Fahrt erwartet?«
Ich begrüßte Alains Ol’lady, die, anders als er, soeben einem Rolls-Royce entstiegen zu sein schien. Eine tolle Frau mit einem tollen Namen. Sie hieß Martine. Alain und ich wurden unserem Schicksal überlassen und setzten uns ins Wohnzimmer. Ich holte zwei kalte Bier aus dem Kühlschrank, und dann gab es keine stumme Sekunde mehr. Alain gehörte zu den französischen Brüdern, die am besten Englisch sprachen. Er arbeitete seit vielen Jahren als DJ bei einem Radiosender.
Während die dänische Polizei nach mir suchte, nippte ich in den kleinen Straßencafés im Stadtteil Les Halles an meinem Pastis. Jeden Tag brachten meine Brüder mich an neue Orte und bescherten mir neue Erlebnisse. Ich wurde vor dem neuen und in meinen Augen entsetzlichen Centre Pompidou gezeichnet. Ich sah Triumphbogen, Champs-Élysées und Place de la Concorde. Paris war eine einzige große Sehenswürdigkeit. Abends standen Restaurantbesuche auf dem Programm. Meine Brüder schienen es sich in den Kopf gesetzt zu haben, mir alle Lokale der Stadt vorzuführen. Es gab jede Menge Sprachprobleme. Vor allem, wenn ich mit Leuten unterwegs war, die nur Französisch sprechen konnten oder wollten. Ein Problem war, daß ich Knoblauch nicht vertragen konnte. Anfangs war es für mich unmöglich, meine Zunge zu einem »Knoblauch? Nein danke« zu verdrehen. Statt dessen suchte ich mir ein Bild dieses tückischen kleinen Gewürzes. Ich schnitt es aus, malte einen roten Kreis darum und zog einen roten Querstrich hindurch. Mein privates Verbotsschild, das ich jedesmal vor meinen Teller auf den Tisch stellte. Die Kellner fanden es ungeheuer komisch, meine Brüder begnügten sich damit, die Augen zu verdrehen. »C’est difficile.« Schwierig oder nicht, ich genoß das Leben. Nach dem Essen gingen wir oft in die Disko.
Eins meiner Lieblingslokale war ein kleines gemütliches Restaurant namens El Grotto. Es lag im Keller an einem der vielen Plätze der Stadt, und die Atmosphäre war geprägt von spanischem Stuck und Kerzen. »Was darf ich Ihnen anbieten, Monsieur?« Es war die Wirtin, eine schmächtige kleine Frau in Schwarz, die mich auf französisch ansprach. Ich lächelte breiter als der breiteste Straßenkreuzer und fragte, ob sie Englisch spreche. Ich war zum ersten Mal in diesem Lokal, und meine Begleiter