Jørn Nielsen

Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel


Скачать книгу

der Abrechnung auf dem Programm. Das System gegen Blondie sowie gegen Dirty und Hansi, die wegen Mitwirkung vor Gericht gestellt werden sollten.

      Brüder aus ganz Europa waren zusammengeströmt, um den Prozeß zu verfolgen. Um Menschen, die in unserer Szene als Freiheitskämpfer betrachtet wurden, Unterstützung und Sympathie zu erweisen. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten schon in den Wochen vor der Verhandlung eifrig versucht, eventuelle Jurymitglieder energisch zu manipulieren. Die Staatsanwaltschaft hatte es bereits einmal, in einem Drogenfall, geschafft, anonyme Zeugen zu benutzen. Mit dieser Praxis wollten sie jetzt weitermachen, und das Parlament hatte noch kein Gesetz dagegen verabschiedet. Alles begann mit der Schlacht um die anonymen Zeugen, und die juristische Auseinandersetzung endete vor dem höchsten Gericht. Dort wurde die Erlaubnis erteilt, zwei Zeugen anonym aussagen zu lassen.

      Blondie und sein Verteidiger gingen im Prozeß zum Gegenangriff auf die Behauptungen über Zeugenbedrohung über, die die Staatsanwaltschaft aufgestellt hatten. H. C. Abildtrup wollte nicht antworten, als Blondie fragte, wer denn irgendwelche Zeugen bedroht habe. Wenn die Behauptungen des Staatsanwalts zuträfen, warum seien dann gegen die Urheber der Drohungen keine Ermittlungen eingeleitet worden? Den Zeitungen gegenüber erklärte der Oberstaatsanwalt, sie hätten die Zeugen nicht noch weiteren Unannehmlichkeiten aussetzen wollen.

      Der Prozeß fand unter massivem Polizeiaufgebot statt. Die Zuschauer wurden durchsucht und mußten eine mit einem Metalldetektor versehene Tür passieren. Auf den Straßen in der Nachbarschaft des Gerichts kam es zu mehreren Zwischenfällen, als Kuhfladen auftauchten, um zu demonstrieren und zu provozieren. Im Saal ging es friedlicher, aber nicht weniger dramatisch zu. Blondie und die anderen Brüder erklärten, wie sie die Schlacht im Søpromenaden erlebt hatten. Und dann kamen die vielen Zeugen an die Reihe. Während der Zeugenbefragungen mußten die Angeklagten und das Publikum den Saal verlassen. Die Angeklagten konnten in einem Nachbarraum über Lautsprecher verfolgen, wie über sie verhandelt wurde. Alle Zeugen wurden von der Verteidigung mehrmals gefragt, ob sie bedroht worden seien. Niemand war bedroht worden, aber mehrere hatten Angst vor einer Aussage, weil sie in den Zeitungen gelesen hatten, daß Grund zu solchen Ängsten bestehe.

      Die überlebenden Kuhfladen, die im Søpromenaden dabeigewesen waren, waren ebenfalls vorgeladen worden. Als sie später das Gericht verließen, stießen sie auf eine kleine Gruppe ausländischer Engel, die gern eine Runde plaudern wollten. Die Kuhfladen nahmen die Beine in die Hand und suchten Zuflucht auf der Wache in der Store Kongensgade. Hells Angels jagen Zeugen stand am nächsten Tag in mehreren Zeitungen. Blödsinn! Die Leute, um die es ging, kamen aus der Szene und hatten sich selbst in den Konflikt eingemischt. Für uns waren sie keine Zeugen, sondern Feinde.

      Die letzten Zeugen – die anonymen – wurden vernommen und witzigerweise brachten sie die extremsten Aussagen. Zum Beispiel wollten sie gesehen haben, wie Blondie mit Flaschen zuschlug, und das war eine glatte Lüge. Für den Fall bedeutete es nichts, denn Blondie hatte bereits ausgesagt, daß er die beiden Kuhfladen mit einem Messer erstochen hatte. Nach den letzten Vernehmungen und einem Besuch des Tatorts zog der Staatsanwalt die Behauptung eines vorher abgesprochenen Mordes zurück. Er setzte statt dessen alles dafür ein, Dirty und Hansi wegen Mitwirkung verurteilen zu lassen. Blondie wurde wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs zu sechzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Dirty und Hansi bekamen vier beziehungsweise fünf Jahre. Diese harte Strafe hatten sie einer ziemlichen Erweiterung des Begriffs Beihilfe zu verdanken. Beide wurden der Körperverletzung mit Todesfolge für schuldig befunden. Ein keiner Schritt auf dem Weg zu der kollektiven Strafe, die Polizei und Staatsanwaltschaft so gern eingeführt hätten.

      Nachdem ich mich in Paris drei Monate lang amüsiert hatte, kam ich langsam zur Ruhe. Es passierte immer noch genug, aber mein Dasein nahm doch mehr und mehr die Formen eines normalen Lebens an. Ich fing wieder an zu schreiben. Vor allem vormittags, wenn Martine zur Arbeit und der Kleine in die Schule gegangen waren, griff ich zum Griffel. Alain tauchte erst am späten Nachmittag aus dem Schlafzimmer auf. Wenn er sah, daß ich mit meinem Buch beschäftigt war, wandte er sich sofort seinem eigenen Hobby zu. Alain war ein ungewöhnlich begabter Lederarbeiter. Er stellte alles her, vom Gürtel bis zur Satteltasche. Seine Auftragsliste war so lang wie sieben magere Jahre, und daß jetzt ein Schriftsteller in seinem Wohnzimmer saß, spornte ihn zur Tat an. Wir genossen diese kreative Atmosphäre beide und konnten stundenlang arbeiten, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Wenn ich den Tag nicht am Schreibtisch verbrachte, wurde ich von Brüdern oder Prospects abgeholt. Wir hatten den Louvre besucht, um uns nach »Belphegore« umzuschauen, und hatten auch in Notre Dame vorbeigeschaut, um einen Blick auf den Glöckner zu werfen. Die Frauen meiner Brüder fuhren mit mir nach Versailles. Vor allem die gewaltigen Gärten, die das Schloß umgaben, beeindruckten mich. Die alten Sonnen-, Regen- und Schneematschkönige hatten es sich wahrlich gemütlich gemacht.

      Auf einer meiner vielen Expeditionen fand ich ein kleines Stück Dänemark. Aldo hatte mir früher schon erzählt, daß es auf den Champs-Élysées ein dänisches Restaurant gab. Wir waren oft mit dem Auto die Champs-Élysées hinuntergefahren, aber eines Tages beschloß ich, zu Fuß zu gehen. Ich war zusammen mit einem Prospect, der ein brauchbares Englisch sprach. Mein Französisch wurde immer besser, aber es war doch gut, einen Ortskundigen bei sich zu haben. Nachdem wir uns die Nase an zahllosen Reisebüros und Boutiquen platt gedrückt hatten, stand ich plötzlich mit großen Augen vor Platten mit dänischem Smørrebrød, Kuchen und kleinen Wikingern. Es war alles andere als klug von mir, aber ich brauchte etwas Dänisches. Die Verkäuferin, eine junge Blondine, war eine waschechte Dänin. Sie erzählte mir, daß in der Gegend tatsächlich eine Menge Dänen wohnten. Hinter dem Laden gab es ein dänisches Restaurant und in einer Seitenstraße eine dänische Kirche. Ich kaufte zwei Kuchen und dankte für die Auskünfte. Der Prospect wurde ins Restaurant geschleppt. Zweimal Frikadellen mit brauner Soße und Kartoffeln.

      Helle war gekommen und würde zehn Tage bei mir verbringen. Wir hatten uns schon lange darauf gefreut, Paris zusammen zu erleben, und jetzt war es soweit. Willkommensmahlzeit in der Gegend des Hotel de Ville. Der Kellner empfing uns mit Pastalächeln und hieß uns auf italienisch willkommen. Er bombardierte Helle mit charmanten Komplimenten, während wir unsere Mäntel ablegten. Hier gefiel es uns wirklich. Ich war schon einmal hier gewesen und wußte, daß dieses Lokal selbst die Schneekönigin zum Schmelzen gebracht hätte. Wie gut, daß Helle ohnehin schon Rehaugen hatte.

      Alain und Martine waren mitgekommen, und am Tisch warteten Fafa und Robert. Bei einem netten Essen wollten wir über eine Wohnung reden. In Alains Wohnung wurde es doch etwas eng, und ich brauchte Luftveränderung. Ehe wir uns setzten, wurde vorgestellt und nach rechts und links herumgeküßt. Das war eine Sitte, an die ich mich noch immer nicht gewöhnt hatte. Jetzt war Helle diejenige, die der unmäßigen französischen Küsserei ausgesetzt wurde. Alain, der wie üblich mit irgendeinem Bekannten ins Gespräch gekommen war, kam dazu, und wir konnten bestellen. Fafa und Robert sprachen gut Englisch, deshalb hatte unser Mundwerk keine Ruhe. Das Essen war wunderbar, der eisgekühlte Rotwein ebenso. Die Regale vor den Restaurantwänden quollen vor Weinflaschen geradezu über. Die vielen Flaschen verstärkten das Glühen des Kaminfeuers, und sanfte italienische Musik im Hintergrund kündigte einen heißen Abend an.

      Am nächsten Tag zogen wir bei Fafa und Robert ein. Wir lebten beide aus dem Koffer, und deshalb hatten wir den Umzug rasch hinter uns gebracht. Unser Weg führte uns vom Stadtrand ins Herz von Paris. Das Stadtviertel Les Halles war eine Gegend, wo alt und neu einander begegneten. Die alten Markthallen waren abgerissen und durch ein modernes Einkaufszentrum ersetzt worden. Von außen machte das nicht viel her, doch drinnen führte eine Treppe zu einer dreistöckigen Einkaufsmeile. Bei den oberen Treppen und Terrassenanlagen schossen neue Wohnkomplexe in die Höhe, keiner jedoch höher als sechs Stock. Helle Betonfassaden und jede Menge Glas, es sah wirklich nicht schlecht aus. Die vielen engen Straßen und Gassen mit ihren alten Häusern bohrten sich wie Keile in die Plätze und vertraten das Paris, das wir aus Geschichtsbüchern kannten. Die meisten Straßen waren für Autos gesperrt, trotzdem herrschte ein lebhafter Verkehr. Trotz ihrer weltberühmten Metro schwirrten Franzosen und Französinnen lieber mit dem Auto durch die Gegend, und die Stadt war ein einziges Verkehrschaos. Die Pariser waren Weltmeister in unmöglichem und verbotenem Parken. Was ihre Autos anging, so kannten sie keine Hemmungen. Sie parkten munter auf dem Bürgersteig, vor Hydranten, in Zweierreihen und mitten