Jørn Nielsen

Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel


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und als eventueller Zeuge für die Lügengeschichte, die wir uns aus den Fingern gesogen hatten. Die Augenärztin war eine fesche kleine Japanerin. Sie sprach Englisch und fühlte sich geehrt durch den Besuch des großen Schauspielers. Daß ich braune Augen haben mußte, lag an einer speziellen Filmrolle. Ich war schließlich nach Frankreich geholt worden, weil ich Ähnlichkeit mit einem längst verstorbenen König hatte. Darunter tat ich es nicht. Die Japanesin stellte immer neue Fragen, während ich in ein überdimensionales Fernglas schaute. Sie war glücklicherweise in Geschichte nicht sonderlich bewandert, und überhaupt – irgendein König Christian muß doch irgendwann einmal durch Frankreich geritten sein!

      Wir machten einen Abholtermin ab und fuhren weiter. Diesmal zum Friedhof. Aldo wollte mir Jim Morrisons Grab zeigen.

      Jens, Middelboe, Carlo und Gaukler wurden vor Gericht gestellt. Sie alle wurden der Beihilfe zum Mord und der Beihilfe zu meiner Flucht bezichtigt. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten von Anfang an versucht, so viele HA wie möglich mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Sie griffen zur Verschwörungstheorie und setzten aus Tatsachen und Mutmaßungen ihr Puzzlespiel zusammen. »Wir haben es mit einem Mord zu tun, der nach einem dermaßen komplizierten Plan durchgeführt worden ist, daß ein einzelner dazu niemals in der Lage wäre«, erklärte der Staatsanwalt. Daß es sich bei den Theorien der Polizei um pure Gedankenspinnerei handelte, ließ sich nicht beweisen. Ich war nicht anwesend, und meine Brüder konnten keine richtigen Aussagen machen. Sie waren durch die Solidarität gehindert – was die Staatsanwaltschaft wußte. Wenn sie die Wahrheit gesagt hätten, wären sie vermutlich freigesprochen worden, hätten dann aber mich ans Messer geliefert.

      Die meisten Theorien der Polizei bauten auf abgehörten Gesprächen auf. Aus siebenhundert Stunden, in denen unser Clubhaus überwacht worden war, hatten die Behörden, überaus bequem, einige Stunden zusammengeschnitten, die vor Gericht abgespult wurden. Die Polizei weigerte sich, den Verteidigern die unredigierten Aufnahmen auszuhändigen, und die im Gefängnis gemachten Bänder wurden zerstört. Die sind ohne Ermittlungswert für den Fall, entschieden die Behörden. »Man muß sich hier eins klarmachen. Die Angeklagten sind über siebenhundert Stunden lang überwacht worden, aber trotzdem hat die Polizei nicht eine einzige Aussage finden können, aus der klar hervorgeht, daß die Angeklagten den Mord zusammen mit Jönke geplant haben. Alles muß vom Staatsanwalt erklärt und ausgelegt werden. Keine einzige Bemerkung steht für sich allein«, sagte Erling Andresen, der Verteidiger eines der Angeklagten. Die Frage, ob im Gefängnis auch die Anwälte abgehört worden seien, wurde vom Chef der Mordkommission zurückgewiesen. Aber daß es überhaupt gestattet sein soll, in einem sogenannten Rechtsstaat zwei Stunden Zusammenschnitt aus über siebenhundert Stunden zu verwenden, ist mir ein Rätsel. Die Polizei lieferte ein von ihrer eigenen technischen Abteilung fertiggeschnürtes Bündel, die Stimmproben waren vernichtet worden. Der sogenannte Experte der Polizei erklärte, daß in den meisten Fällen kein Zweifel daran bestehen könne, wer wann was gesagt habe. Ein aufmerksamer Verteidiger, Jørgen Jacobsen, reagierte auf diese feste Überzeugung und bat einen der führenden Phonetiker Dänemarks um Hilfe. Professor Jørgen Rischel von der Universität Kopenhagen erklärte, der Großteil des durch Abhören gesammelten Materials sei von so schlechter Qualität, daß es verworfen werden müsse. Es war die Rede von Mutmaßungen und Rätselraten auf Seiten der Polizei, und der Polizist, der die Stimmproben hergestellt hatte, wurde als Dilettant bezeichnet.

      Neue Abschriften und Stimmproben mußten her. Diese Arbeit wurde Professor Rischel und einem weiteren polizeilichen Experten übertragen, dem Goldenen Ohr. Der Prozeß ächzte nun schon in allen Fugen, und der Staatsanwalt wand sich: »Es liegt wirklich nicht in meinem Interesse, diese Menschen zu verurteilen, wenn sie unschuldig sind. Es ist die Aufgabe der Anklagebehörden, die Wahrheit zu finden. Wenn sie unschuldig sind, dann ist das alles, was ich wissen will.«

      Aber bei den Hells Angels kam jeder Zweifel dem Staatsanwalt zugute. Trotzdem bewirkte das neuredigierte Abhörmaterial, daß Carlo und Gaukler von der Anklage auf Beihilfe zum Mord freigesprochen wurden. Beide wurden wegen Fluchthilfe verurteilt. Das normale Strafmaß in solchen Fällen lag bei etwa fünfzig Tagen Haft, in diesem Fall aber gab es ein Jahr für Carlo und ein Jahr und drei Monate für Gaukler. Da sie schon neun Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten, wurden beide auf der Stelle auf freien Fuß gesetzt.

      Middelboe und Jens wurden der Beihilfe zum Mord für schuldig befunden und zu sieben beziehungsweise zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Das war eine Ironie des Schicksals. Die Verschwörung, von der hier dauernd die Rede war, hatte die Polizei angezettelt, und der Prozeß hatte mit einem gediegenen Justizirrtum geendet.

      Helle wartete in einer abhörsicheren Telefonzelle in Dänemark auf die letzten Neuigkeiten aus Paris. Und wer wollte nicht gern etwas von zu Hause hören! Nachdem Carlo und Gaukler auf freien Fuß gesetzt worden waren, war im Club ein heißes Fest gestiegen. Die neun Monate Isolation mußten sofort aus dem Körper vertrieben werden. Alle unsere Bekannten waren empört über die strengen Strafen, die gegen Jens und Middelboe verhängt worden waren. Sie wollten natürlich in Revision gehen, aber in Dänemark war ein Revisionsbescheid vom Landesgericht nicht viel wert. Die Schuldfrage war entschieden, und das Oberste Gericht konnte nur das Strafmaß festlegen.

      Helle war glücklich darüber, daß der Prozeß überstanden war. Sie war als Zeugin vorgeladen gewesen, und Gerichtsverhandlungen waren nicht gerade ihr Fall.

      »Weißt du was?«

      Nein, nein, das tat sie nicht.

      »Ich bin fertig mit dem Buch.«

      »Wirklich? Wie lang ist es denn geworden?«

      »An die 993 Seiten. An einigen Stellen habe ich noch Seiten angefügt, an anderen habe ich gestrichen.«

      Helle freute sich für mich. »Ist es gut geworden?«

      »Ich glaube, schon. Es liegt hier vor mir. Ich habe es mitgebracht, um es nach Hause zu schicken.«

      »An wen denn?«

      »Einen Verlag, der Tiderne Skifter heißt.«

      »Ist der gut?«

      »Keine Ahnung. Ich verlasse mich da auf das Urteil meiner Freunde.«

      »Hast du auch die Vorgeschichte geschrieben … war das schwer?«

      »Eigentlich nicht. Ich habe Zeitungsartikel benutzt und ein wenig gedichtet.«

      Den letzten Schliff hatte ich dem Buch durch die Beschreibung des Mordes an Makrele verpaßt. Es war eine fast unverzichtbare Einleitung für ein Buch wie meins. Und bei einer Verhandlung würde sie keine Rolle mehr spielen.

      »Du riskierst lebenslänglich, wenn du nach Hause kommst.«

      »Ich glaube nicht, daß ich so bald nach Hause kommen werde. Meine Berater finden, ich sollte wegfahren. Weit weg … und das Leben genießen.«

      Ein Langstrecken-Seufzen kam aus dem Hörer. »Ich kann die Vorstellung, daß du so lange eingesperrt wirst, ja auch nicht ertragen …«

      »Du bist ein Schatz.«

      »Ich liebe dich.«

      »Das weiß ich. Und ich kann nur sagen, ganz meinerseits, gute Frau.«

      »Wohin fährst du?«

      »Das darf ich nicht verraten.«

      Aldo hatte die Kontaktlinsen abgeholt. Anders als ihre Vorgängerinnen lagen sie in einem hübschen kleinen Etui. Und sie waren weich! Makreles Witwe hatte meine Augen als die grausamsten und bösesten Augen bezeichnet, die sie je gesehen hatte, und wir erfanden sofort einen passenden Slogan. Weiche Linsen für harte Augen!

      Ich hatte mich zum Weggang aus Paris bereit erklärt und war deshalb in Wartestellung gegangen. Ich hatte die Wohnung von Fafa und Robert verlassen und mich von allen meinen französischen Freunden verabschiedet. Es war ein wenig langweilig, ganz isoliert zu wohnen, aber es mußte sein. Um keine Zeit zu verlieren, machte ich mich gleich an ein neues Buch. Bei den vielen Erlebnissen, die ich in meinem Hirnkasten verstaut hatte, konnte ich einfach losschreiben. Ich nannte es »Drei – vielleicht zwanzig« und in Dänemark erschien es später unter dem Titel »Im Knast«.