Jørn Nielsen

Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel


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Decken hatten wir reichlich, und deshalb schlug ich vor, zwei davon über uns aufzuhängen. Wir konnten sie tagsüber hochklappen und vor dem Schlafengehen herunterlassen.

      Der Abend kam und die Sonne verschwand. Pirot bereitete das Essen mitten in der Hütte zu, um den Frost erst einmal auszusperren, wozu zwei Flaschen Rotwein das ihre beitrugen. Wir legten uns vollständig angezogen unter einen Berg aus Steppdecken. Zwischen uns, auf einem Stuhl, stand die Gasflasche und zischte höhnisch. Die Decken waren noch hochgeschlagen, deshalb konnten wir fernsehen. Von Abendtoilette konnte kaum die Rede sein. Die Wasserrohre waren schon längst geplatzt, und niemand hatte Lust, sich mehr als einige Meter von der Hütte zu entfernen. Wir nahmen Schnee zum Zähneputzen und zu anderen wichtigen Dingen. Es war eine Scheißarbeit. Um eine Tasse Tee zu kochen, mußten wir einen ganzen Eimer mit Schnee füllen.

      Nach drei oder vier Tagen in dieser Eishöhle wurde es kälter. Wir hätten nicht gedacht, daß es noch schlimmer werden könnte, aber jetzt wurden wir eines Schlechteren belehrt. Die Tage konnten wir überleben, und die Abende waren manchmal fast gemütlich. Aber wenn die Nacht kam, war Schluß mit jeglicher Gemütlichkeit. Selbst, wenn wir einen Pullover über den Kopf zogen, fror uns fast der Rüssel ab. Der Gasbrenner tat sein Bestes, war jedoch ebenso gefährlich wie die Kälte. Er fraß den Sauerstoff in unserem kleinen Iglu, und wir mußten ihn in regelmäßigen Abständen löschen. Wir gewöhnten uns an, im richtigen Moment aufzuwachen; ich habe keine Ahnung, wie wir das schafften. Wenn dagegen der Gasbrenner wieder angezündet werden mußte, war das Aufwachen kein Problem. »Ah, c’est froid«, jammerten wir unter unseren Dekkenbergen. Und unsere Zähne klapperten, bis wir den kleinen Brenner wieder anwerfen konnten. Dabei mußten wir jedesmal den kleinen elektrischen Heizapparat losbrechen. Die Gasflasche war ganz einfach daran festgefroren.

      Nachts bildete sich auf der Innenseite des Fensters eine mehrere Zentimeter dicke Eisschicht, und unser Wassereimer, der gleich vor den Decken stand, war durch und durch gefroren. Aufs Klo zu gehen war in diesen Tagen eine gewaltige Leistung.

      Der Morgen kam, und mit ihm die Sonne. Ich wurde von irgendeinem Lärm geweckt. Die Decken waren hochgeklappt und Pirot war verschwunden. Shit und Chanel, nobody can tell. Rückte da etwa die Gendarmerie an? Ich war angezogen, deshalb stand ich lieber gleich auf. Vorsichtig schaute ich aus der Tür. Rap, rap und rappeldirap. Eine große fette Ente kam um die Hausecke gewatschelt, dicht verfolgt von Pirot, der mit einzogenem Kopf und ausgestreckten Armen hinter ihr herrannte. »Kommen Sie doch, kommen Sie doch«, rief er, aus unerfindlichen Gründen auf deutsch. Ich ging ins Haus und legte mich wieder hin. Pirot fing die Rap-Maschine und brachte sie herein. Sie sprang ihm aus den Armen und jagte verängstigt hin und her, wobei sie die ganze Hütte vollschiß. »Schaff den Kackschnabel raus!«

      »Das ist doch was zu essen«, rief Pirot lachend und versuchte, den Scheißesprenger zu erwischen.

      »Wir haben genug zu essen, also fuck das Viech!« Pirot gab sich geschlagen und zog mit dem panischen Erpel davon.

      Nach dem Frühstück machte ich mich wieder an mein Buch. Ich kam gut voran und hatte jetzt fast achthundert Seiten zu Papier gebracht. Alles sah reichlich chaotisch aus. Ich verbesserte nur selten und schrieb einfach frisch von der Leber weg. Pirot trieb sich derweil in der Umgebung herum. Ab und zu tauchte er auf, wenn er irgendwo im Wald eine interessante Entdeckung gemacht hatte. Dann überließ ich mein Buch seinem Schicksal und trottete mit ihm hinaus.

      Abgesehen davon, daß mein Buch wuchs und wuchs, konnte ich über meinen Aufenthaltsort nicht viel Gutes sagen. Ich hatte es reichlich satt, mir den Hintern abzufrieren. Im Fernsehen gab es zu allem Überfluß nun auch noch Sondersendungen über das Wetter. Es handelte sich um den schlimmsten Eiswinter, den Frankreich seit dem Krieg erlebt hatte. Der Flughafen von Nizza war eingeschneit und der Hafen von Cherbourg vereist. Der Winter hatte das Land wirklich in seiner Gewalt, und jeden Abend berichteten die Nachrichten von neuen Todesfällen. Ganze Familien waren von Gasbrennern in die Luft gesprengt worden, andere waren in der tückischen Wärme sanft entschlafen. Wann immer die Behörden neue Warnungen losließen, tauschten Pirot und ich einen Blick und schauten danach die zwischen uns stehende Gasbombe an. »C’est terrible«, riefen wir wie aus einem Mund. Und der Teufel sollte mich holen, wenn ich mein Leben hier verbringen wollte. Dann lieber eine Runde Knast, da war es doch wenigstens warm. Ich beschloß, bei der nächsten Gelegenheit nach Paris zurückzukehren.

      Als der Versorgungstrupp auftauchte, war Aldo dabei. Er sah auf den ersten Blick, daß ich stocksauer war. Sogar mitten in Paris waren die Leute kurz vor dem Erfrieren. »Ça va, Pat?« rief er mit einem schlecht verhohlenen Grinsen.

      »C’est terrible. C’est tres, tres terrible. Ce n’est pas possible ici!« Er konnte sein Grinsen nicht unterdrücken, und ich meins auch nicht. Aber eins stand fest. Für mich war das Pfadfinderleben damit überstanden.

      Nach einem kleinen Umweg landete ich wieder bei Fafa und Robert. Es war ein Wechsel zum Besseren. Allein schon wieder ein Bad nehmen zu können war das Risiko wert. Ansonsten hielt die Gefahr sich in Grenzen. Paris hatte über zehn Millionen Einwohner, und die Gegenden, in denen die Polizei mich vermutete, lagen weit von Les Halles entfernt.

      Frankreich war noch immer von Eis bedeckt. Wir mußten dicke Socken und Pullover tragen, sogar in dieser modernen Wohnung. Fafa und Robert machten Winterurlaub, und ich mußte die Wohnung hüten – und die beiden Töchter. Von der älteren sah ich nicht viel. Sie war läufig, wie die meisten jungen Leute in diesem Alter. Anders verhielt es sich mit der jüngeren. Emanuelle kam jeden Tag mit mindestens fünf Freundinnen aus der Schule. Ich – der ausländische »Schriftsteller« – sollte vorgeführt werden. Sie stellten alle möglichen Fragen über Bücher, und ich antwortete in meinem gebrochenen Französisch, so gut ich das konnte. Die jungen Leute waren vor allem von den vielen Seiten auf meinem Schreibtisch beeindruckt. Ich saß zehn Stunden pro Tag an der Arbeit und erst wenn Emanuelle das Abendessen servierte, ließ ich die Feder sinken.

      Einer meiner dänischen Brüder schaute vorbei. Die Wiedersehensfreude war größer als groß, und die Schreiberei wurde bis auf weiteres an den Nagel gehängt. Die Polizei war natürlich weiterhin auf der Suche, es gab immer neue Razzien. Der Prozeß gegen vier Brüder, die wegen des Makrelenmordes in Untersuchungshaft saßen, rückte immer näher. Alle ließen mich grüßen. Niemand wollte, daß ich der Geiseltaktik der Polizei nachgab. Ich sollte nur nach Hause kommen, wenn ich das selber wollte. Eine besonders gute Nachricht … Der Black Sheep MC, zweifellos Dänemarks zweitbester Biker-Club, hatte sich um Aufnahme in den Hells Angels MC beworben. Der Druck, den die Polizei auf unseren Club ausübte, steigerte unsere Kampfeslust und sorgte dafür, daß wir frisches Blut brauchten. Der Black Sheep MC war bereit und wurde zum Hangaround-Club. Nachdem wir die Neuigkeiten abgehakt hatten, nahmen wir uns die Zukunft vor. Mein Bruder und ich überflogen meine Schreiberei. Er kommentierte, und ich konnte einige Details notieren, die ich übersehen hatte. Wir glaubten beide, daß das Buch sich gut verkaufen würde.

      Der Prozeß gegen das Hamburg-Chapter wurde wiederaufgenommen. Viele Themen sollten dabei zur Sprache kommen, in einigen Fällen ging es um wirkliche kriminelle Sachverhalte, in anderen um den ziemlich vagen Vorwurf der Beteiligung an organisierter Kriminalität. Über diese Dinge wurde mehr oder weniger unabhängig vom Verbot des Vereins verhandelt.

      Zum ersten Mal war damit in der Geschichte der BRD ein nichtpolitischer eingetragener Verein verboten worden, und nun wollte das Innenministerium das ohne Gerichtsbeschluß verhängte Verbot festnageln. Die Hells Angels dagegen wollten den Fall der höchstmöglichen Instanz vortragen, dem Bundesverwaltungsgericht. Die Sache drohte, unüberschaubare Ausmaße anzunehmen. Wenn vor dem normalen Gericht verhandelt werden würde, könnte es sieben oder acht Jahre dauern, bis überhaupt ein Urteil fiele. Deshalb beschlossen der Hells Angels MC Hamburg, dessen Anwälte und die Anwälte des Innenministeriums, das Bundesverwaltungsgericht anzurufen.

      Ich wollte mir neue Augen kaufen. Ich brauchte einfach Kontaktlinsen, die für mich bestimmt waren, nicht für irgendeinen hergelaufenen Schauspieler. Die Linsen, die ich auf der Fahrt nach Frankreich benutzt hatte, hatte ich weggeworfen. Ich wollte nicht noch einmal riskieren, mir die Augen zu verderben. Aldo holte mich ab, und nach einem Mittagessen mit kurzer Beratung ging es los.

      Die Augenarztpraxis lag in einem besseren Stadtviertel. Wir