Edgar Rice Burroughs

Tarzan – Band 1 – Tarzan und die weiße Frau


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      Er war schon fast zehn Jah­re alt, als er an­fing, zu er­ken­nen, dass ein Un­ter­schied zwi­schen ihm und sei­nen Ka­me­ra­den be­stand. Sein klei­ner, von der Son­ne ge­bräun­ter Kör­per ver­ur­sach­te ihm plötz­lich ein tie­fes Scham­ge­fühl, denn er er­kann­te, dass er voll­stän­dig un­be­haart war, wie eine Schne­cke oder ein Rep­til.

      Er ver­such­te die­sem Übel­stand ab­zu­hel­fen, in­dem er sich von Kopf bis zu den Fü­ßen mit Lehm be­klei­de­te, aber die­ser trock­ne­te und fiel ab. Au­ßer­dem fühl­te er sich so un­be­hag­lich da­bei, dass er sich lie­ber schäm­te, als die Un­be­quem­lich­keit wei­ter auf sich zu neh­men.

      In dem hö­her ge­le­ge­nen Land­strich, in dem sich sein Stamm auf­hielt, war ein klei­ner See und in des­sen kla­ren stil­len Was­ser sah Tar­zan zu­erst sein Spie­gel­bild.

      An ei­nem schwü­len Tag der tro­ckenen Jah­res­zeit ging er mit ei­nem sei­ner Vet­tern an das Ufer, um zu trin­ken. Als sie sich hin­über­beug­ten, spie­gel­te die ru­hi­ge Flä­che bei­der Ge­sich­ter wie­der: die wil­den, schreck­li­chen Ge­sichts­zü­ge des Af­fen, ne­ben de­nen des ari­sto­kra­ti­schen Spröss­lings ei­nes al­ten eng­li­schen Hau­ses.

      Tar­zan war ent­setzt. Es war schon schlimm ge­nug, un­be­haart zu sein, aber wie konn­te er nur eine sol­che Ge­sichts­bil­dung ha­ben! Er wun­der­te sich, dass die an­de­ren Af­fen ihn über­haupt noch an­sa­hen.

      Die­ser klei­ne Schlitz von ei­nem Mund und die­se win­zi­gen, klei­nen Zäh­ne! Wie küm­mer­lich sa­hen die­se aus ne­ben den mäch­ti­gen Lip­pen und den ge­wal­ti­gen Fän­gen sei­ner glück­li­che­ren Brü­der! Und die­se klei­ne, schma­le Nase, so dünn, dass sie halb ver­küm­mert aus­sah. Er er­rö­te­te, als er sie mit den schö­nen, brei­ten Nüs­tern sei­nes Ge­fähr­ten ver­glich. Wel­che groß­ar­ti­ge Nase! Sie be­deck­te ja das hal­be Ge­sicht. Es muss doch ge­wiss schön sein, so statt­lich aus­zu­se­hen, dach­te der arme klei­ne Tar­zan.

      Aber als er in sei­ne ei­ge­nen Au­gen sah, da war er noch mehr ent­setzt: ein brau­ner Fleck, ein grau­er Kreis, und dann rei­nes Weiß! Fürch­ter­lich! Die Schlan­gen hat­ten nicht ein­mal so häss­li­che Au­gen wie er.

      Er war so sehr in die Be­trach­tung sei­ner Ge­sichts­zü­ge ver­tieft, dass er nicht hör­te, wie das hohe Gras sich hin­ter ihm teil­te und ein großer Kör­per sich ver­stoh­len durch den Dschun­gel schlich. Auch sein Ka­me­rad, der Affe, hör­te nichts, denn er trank, und das Geräusch sei­ner sau­gen­den Lip­pen und das Gur­geln über­tön­ten die lei­sen Schrit­te des Ein­dring­lings.

      Kei­ne drei­ßig Schrit­te hin­ter den bei­den duck­te sich Sa­bor, die Rie­sen-Lö­win, in­dem sie den Schwanz hin und her warf. Vor­sich­tig be­weg­te sie ihre große Tat­ze vor­wärts, und sie setz­te sie ge­räusch­los nie­der, ehe sie die an­de­re hob. So schlich sie nä­her. Ihr Bauch be­rühr­te fast den Bo­den. Sie glich ganz ei­ner großen Kat­ze, die den Sprung auf ihre Beu­te vor­be­rei­tet.

      Jetzt war sie bis auf etwa zehn Fuß an die zwei klei­nen, ah­nungs­lo­sen Spiel­ka­me­ra­den her­an­ge­kom­men. Sorg­fäl­tig zog sie ihre Hin­ter­fü­ße un­ter ih­ren Kör­per, wäh­rend die star­ken Mus­keln sich sicht­lich un­ter dem herr­li­chen Fell be­weg­ten.

      Sie lag fast flach auf der Erde. Nur die obe­re Krüm­mung des glän­zen­den Rückens war sicht­bar, als sie sich zum Sprun­ge an­schick­te.

      Nun we­del­te sie nicht mehr mit dem Schwei­fe; ru­hig und ge­ra­de lag er hin­ter ihr.

      Ei­nen Au­gen­blick hielt sie inne, als ob sie in Stein ver­wan­delt wäre, und dann sprang sie mit ei­nem schreck­li­chen Schrei auf. Nun hät­te man den­ken kön­nen, das wäre von ihr un­klug ge­han­delt, denn ohne die­sen Schrei hät­te sie si­che­rer über ihre Op­fer her­fal­len kön­nen. Aber Sa­bor, die Lö­win, war eine klu­ge Jä­ge­rin. Sie kann­te das un­glaub­lich fei­ne Ge­hör und die er­staun­li­che Schnel­lig­keit des jun­gen Dschun­gel­vol­kes, und sie wuss­te, dass sie den mäch­ti­gen Sprung nicht ohne Geräusch aus­füh­ren konn­te. Der wil­de Schrei aber soll­te nicht eine War­nung sein, son­dern die ar­men Op­fer vor Schre­cken läh­men, wenn auch nur für eine Se­kun­de, die ihr ge­nüg­te, um ihre ge­wal­ti­gen Kral­len in das wei­che Fleisch zu schla­gen und sie am Ent­flie­hen zu ver­hin­dern.

      Was den Af­fen be­traf, so war ihr Kunst­griff rich­tig. Der klei­ne Kerl duck­te sich einen Au­gen­blick zit­ternd, und die­ser Au­gen­blick wur­de zu sei­nem Ver­der­ben.

      An­ders war es mit Tar­zan, dem Men­schen­kind. Sein Le­ben in­mit­ten der Ge­fah­ren des Dschun­gels hat­te ihn ge­lehrt, un­er­war­te­ten Vor­fäl­len mit Selbst­ver­trau­en zu be­geg­nen, und die Fol­ge sei­ner hö­he­ren Geis­tes­kräf­te war ein schnel­les Den­ken, das weit über den Fä­hig­kei­ten der Af­fen stand.

      So reg­te der Schrei der Lö­win das Hirn und die Mus­keln des klei­nen Tar­zan zum au­gen­blick­li­chen Han­deln an.

      Vor ihm lag das tie­fe Was­ser des Sees, hin­ter ihm der si­che­re Tod, ein grau­sa­mer Tod un­ter den Klau­en und zwi­schen den Fän­gen der Lö­win.

      Tar­zan hat­te einen Ab­scheu vor dem Was­ser, so­weit es nicht dazu diente, sei­nen Durst zu stil­len. Sei­ne wil­de Mut­ter hat­te ihn auch ge­lehrt, das tie­fe Was­ser des Sees zu mei­den, und hat­te er nicht erst vor ei­ni­gen Wo­chen die klei­ne Ree­ta un­ter der glat­ten Flä­che ver­sin­ken se­hen, so­dass sie nie wie­der zu ih­rem Stamm zu­rück­kehr­te?

      Aber von zwei Übeln wähl­te Tar­zan rasch ent­schlos­sen das klei­ne­re, und noch ehe Sa­bors Schrei an das Ende des stil­len Dschun­gels ge­drun­gen war und noch be­vor das Tier sei­nen Sprung halb aus­ge­führt hat­te, war Tar­zan in das kal­te Was­ser ge­sprun­gen, das über sei­nem Kop­fe zu­sam­menschlug. Er konn­te nicht schwim­men, und das Was­ser war sehr tief, aber er ver­lor auch nicht einen Au­gen­blick das Selbst­ver­trau­en und sei­ne Fin­dig­keit, die Kenn­zei­chen ei­nes hö­he­ren We­sens wa­ren.

      Bei dem Ver­such, auf die Ober­flä­che zu ge­lan­gen, be­weg­te er schnell Hän­de und Bei­ne, und wahr­schein­lich mehr durch Zu­fall als durch Ab­sicht ahm­te er die Stö­ße ei­nes schwim­men­den Hun­des nach, so­dass er in ein paar Se­kun­den die Nase über Was­ser hat­te. So fand er, dass, wenn er sich wei­ter so be­weg­te, er wei­ter im Was­ser fort­kam.

      Er war freu­dig über­rascht über die­se neue Fä­hig­keit, die er sich so schnell an­ge­eig­net hat­te, wenn er auch kei­ne Zeit hat­te, wei­ter dar­über nach­zu­den­ken.

      Jetzt schwamm er am Ufer ent­lang, und dort sah er das wil­de Tier, das ihm nach­stell­te, über den leb­lo­sen Kör­per sei­nes klei­nen Spiel­ge­nos­sen ge­duckt.

      Die Lö­win be­ob­ach­te­te Tar­zan ge­spannt; sie er­war­te­te of­fen­bar, dass er ans Land zu­rück­kehr­te.

      Der Kna­be hü­te­te sich aber wohl da­vor. Er er­hob viel­mehr sei­ne Stim­me zu dem Hil­fe- und Warn­ruf, der bei den Af­fen üb­lich war.

      Gleich dar­auf kam eine Ant­wort aus der Fer­ne, und in we­ni­gen Mi­nu­ten schwan­gen sich vier­zig bis fünf­zig große Af­fen schnell und ma­je­stä­tisch durch die Bäu­me, dem tra­gi­schen Schau­platz ent­ge­gen.

      Al­len vor­an war Kala, denn sie hat­te die Stim­me ih­res lie­ben Kin­des er­kannt, und bei ihr war die Mut­ter des klei­nen Af­fen, der jetzt tot un­ter der