Matthias Gretzschel

PEKING


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94 Passagiere sind an Bord. Sogar drei Tage weniger benötigt die deutlich größere GREAT WESTERN, die noch am gleichen Tag überraschenderweise in New York eintrifft. Aufgrund einiger Missgeschicke im Vorfeld hat der Dampfer zwar nur sieben Passagiere an Bord, aber schon für die nächsten Fahrten sind die 128 Plätze meist ausgebucht. Hinzu kommen noch einmal 20 Betten im Vorschiff für die Diener, die ihren Herren im Bedarfsfall bei rauer See die Spucktüten reichen müssen. Mit der GREAT WESTERN setzt sich der Dampfer als schnelles Verkehrsmittel im Passagierverkehr über den Atlantik nach und nach durch. Beim Frachtverkehr sieht das noch anders aus.

      Ferdinand Laeisz verfolgt diese Entwicklung mit großem Interesse. In seinen Erinnerungen schreibt er über die Situation zur Jahrhundertmitte: „Die Dampfschiff-Reederei vermochte in diesen Jahren überhaupt keine Seide zu spinnen, da sie wohl noch zu teuer arbeitete. Auch die erste deutsche Dampfschiff-Fahrt zwischen Hamburg und England, bei welcher ich mich beteiligt hatte, lieferte ein ungünstiges Resultat, und im Oktober 1858 kam die schreckliche Nachricht von dem Verbrennen unseres Packetfahrt-Dampfers AUSTRIA auf hoher See mit einem Verlust von mehreren Hundert Menschenleben, unter welchen ich besonders den wackeren Capt. Heidtmann, meinen Freund von der Krimreise, betrauerte.“

      Laeisz ist kein Segelschiff-Traditionalist, sondern sieht die enormen technischen Errungenschaften und Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts durchaus positiv. Wie stark er an den Innovationen der Industriellen Revolution interessiert ist, zeigt sich unter anderem daran, dass er die Weltausstellungen in London (1851), Paris (1855) und Wien (1873) besucht und begeistert darüber berichtet. Auf diesen großen internationalen Leistungsschauen wird die jeweils modernste Technik präsentiert und ein Fortschritt beschworen, der offenbar durch nichts zu bremsen ist.

      Aber Laeisz ist bei aller Technikbegeisterung auch ein kühler Rechner, der alle Vor- und Nachteile gegeneinander aufwiegt. Und dabei kommt er zu dem Resultat, dass schnelle Segelschiffe beim Frachtverkehr von Massengütern viel profitabler sein können als die Dampfer jener Zeit, jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen. Auch das ist Resultat der Innovationen jener Zeit, die heute als Industrielle Revolution bezeichnet wird. Denn die enorm dynamische Entwicklung führt im Lauf des 19. Jahrhunderts nicht nur zur stetigen weiteren Verbesserung von Dampfschiffen, sondern verändert auch die Konstruktion und Konzeption von Segelschiffen, die zu dieser Zeit noch ein erhebliches Entwicklungspotenzial haben. Das betrifft zunächst das Material. Nachdem die Schiffsrümpfe seit Jahrtausenden aus Holz gefertigt worden sind, steht nun mit Eisen ein in diesem Bereich völlig neues Material zur Verfügung. Eisen kann zwar im Gegensatz zu Holz nicht schwimmen, doch ein aus vernieteten Eisenplatten hergestellter Schiffsrumpf ist widerstandsfähiger als einer aus Holz. Das beweist schon der erste aus Eisen hergestellte Großsegler, der passenderweise IRON SIDES heißt und 1838 von der Liverpooler Werft Jackson & Jordan gebaut wird.

      Ferdinand Laeisz verfolgt die Entwicklung in Schiffbau, setzt allerdings zunächst weiterhin auf seine Holzschiffe, deren Konstruktion er immer weiter optimieren lässt, vor allem mit einem Ziel: Geschwindigkeit. Kaffee aus Costa Rica, Erze aus Mexiko und Chile sowie Guano aus Peru gehören zur Fracht, die die Laeisz-Schiffe in Südamerika an Bord nehmen. Doch bald wird etwas anderes zum Hauptgeschäftsfeld: die Salpeterfahrt.

      Die Hinterlassenschaft einer Salpetermine in Chile. Die Arbeiter mussten hier oft unter menschenverachtenden Bedingungen schuften.

      Die aus abgelagertem Vogelkot (Guano) bestehenden natürlichen Vorkommen von Salpeter, chemisch Natriumnitrat, werden in der Atacamawüste im heutigen Nordchile in großem Maßstab abgebaut und nach Europa verschifft. Allerdings sind die Arbeitsbedingungen für die dort Beschäftigten beispiellos schlecht. Die Minengesellschaften beuten die Arbeiter gnadenlos aus, Gesundheits- und Arbeitsschutz gibt es so gut wie gar nicht, die Bezahlung erfolgt zum Teil mit Gutscheinen, die nur in den firmeneigenen Läden eingelöst werden können. Die Nachfrage nach Salpeter ist riesig. Die Bedeutung des Rohstoffs, der vor allem für die Herstellung von Düngemittel und Sprengstoff genutzt wird, lässt sich beinahe mit der vergleichen, die das Öl im 20. Jahrhundert gewinnen wird. Kein Wunder, dass diese Ressource Begehrlichkeiten weckt und zu erheblichen Interessenskonflikten in Südamerika führt. So kommt es 1879 zum Salpeterkrieg, der zwischen Chile, Peru und Bolivien blutig ausgetragen wird. Als 1884 dann endlich die Waffen schweigen, erweist sich Chile als Gewinner. Im Vertrag von Valparaíso wird Chile die gesamte Region zugesprochen, in der man das „Weiße Gold“ abbaut. Und mit dem Abbau geht es jetzt erst richtig los, finanziert übrigens nicht nur mit US-amerikanischen Kapital, sondern auch in großem Umfang mit deutschen Investitionen. Der Transportbedarf von und nach Deutschland ist jedenfalls enorm, die Route allerdings extrem anspruchsvoll, denn sie führt von Europa aus über den Atlantik um das gefährliche Kap Hoorn an der Südspitze Amerikas zur Pazifikküste und dann nach Norden hinauf in die chilenischen Häfen Valparaíso, Iquique oder Antofagasta. Dass Laeisz im Jahr 1886 die Salpeterfahrt zum Hauptgeschäft seiner Reederei macht, ist ein geschickter Schachzug, denn auf den Ostasienrouten wären seine Segler seit der 1869 erfolgten Eröffnung des Suezkanals nicht mehr konkurrenzfähig. Durch den Kanal müssten die Windjammer geschleppt werden, und das Rote Meer wäre für sie aufgrund seiner zahlreichen tückischen Korallenriffe ein allzu gefährliches Revier. Auf der ungleich längeren traditionellen Route um das Kap der Guten Hoffnung würden die Großsegler hingegen hoffnungslos ins Hintertreffen geraten.

      Ganz anders verhält es sich auf der Südamerikaroute, die die Segler von Laeisz mitunter sogar schneller, auf jeden Fall aber deutlich kostengünstiger als die konkurrierenden Dampfer zurücklegen.

      Wie das konkret aussieht, belegen die folgenden Zahlen: Normalerweise braucht ein hölzerner Segler von Lizard Point, dem südlichsten Punkt Englands, bis nach Chile etwa 120 Tage, die 1873 gebaute PATAGONIA schafft es unter Kapitän Hellwege in nur 81 Tagen. Solche oder ähnlich schnelle Fahrten sind aber nur möglich, weil es sich bei den Laeisz-Schiffen um „bis ins letzte durchkonstruierte Ausgeburten kaufmännischen Zweckdenkens“ und „technische Präzisionsinstrumente ihrer Zeit“ handelt, wie der Hamburger Schifffahrtsexperte Hans Georg Prager es formuliert.

      Die Bark PROFESSOR ist vier Jahre alt, als sie 1869 als erstes eisernes Schiff in die Laeisz-Flotte aufgenommen wird. Dass es sich lohnt, auf Eisen zu setzen, zeigt sich schon bald, denn die PROFESSOR schafft es in 81 Tagen vom Kanal nach Valparaíso – und ist damit genauso schnell wie die PATAGONIA auf ihrer Rekordfahrt. Auch die POLYNESIA, die 1884 als zweites Eisenschiff in Dienst gestellt wird, erfüllt die Erwartungen des Reeders, der mit der Bark PARNASS 1878 das letzte hölzerne Schiff erwirbt. Die PARNASS ist extrem schnell und schafft die Strecke vom Kanal nach Chile in nur 70 Tagen, doch die Eisenschiffe sind noch schneller. So schafft die PLUS 1886/87 die Strecke in nur 61 Tagen – allerdings unter besonders günstigen Rahmenbedingungen. Das Segelschiff „manövrierte wie eine Jacht und pflügte durch das Wasser wie ein Klipper. Aber so waren viele der Laeisz-Schiffe, große wie kleine“, schreibt der australische Seefahrer und Abenteurer Alan Villiers bewundernd über die PLUS, die das letzte Eisenschiff in der Flotte ist. Die POTRIMPOS, die 1887 bei Blohm & Voss gebaut wird, ist ungefähr genauso groß wie die PLUS, ihr Rumpf besteht aber nicht mehr aus Eisen, sondern aus Stahl. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist es dank neuer Technologien möglich geworden, immer hochwertigeren Stahl herzustellen, der allerdings zunächst ziemlich teuer ist. In einem 1881 erschienenen Fachartikel über die „Anwendung des Stahles im Schiffbau“ heißt es: „Bedeutend verringert werden die Kosten eines Stahlschiffes dadurch, dass dasselbe bei gleicher Größe und gleicher Festigkeit mit einem eisernen Rumpf wegen der höheren Bruchfestigkeit des Stahles um 18 bis 20 Prozent leichter erbaut werden kann, also ein geringeres Eigengewicht ergibt und daher bei gleichem Tiefgange eine größere Nutzlast zu tragen vermag, so dass schon hierdurch der Reeder binnen Kurzem die höheren Kosten gedeckt sehen würde. Vor allen Dingen aber gewährt ein Stahlschiff gegenüber einem eisernen eine viel höhere Sicherheit bei etwaigen Kollisionen oder Strandungen. Es sind Fälle vorgekommen, dass Stahlschiffe auf Felsen liefen, ohne anderen Schaden zu erleiden, als dass eine zuweilen allerdings bedeutende Verbiegung der Schiffshaut sowie der zunächst gelegenen Spanten und Bodenstücke stattfand, dass aber kein Leck entstand, selbst bei Stößen, welche ein eisernes Schiff unfehlbar zum Sinken gebracht haben würden. Die große Zähigkeit des Stahles ist es,