Vilém Flusser

Jude sein


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      VILEM FLUSSER

      Jude sein

       Essays, Briefe, Fiktionen

      Herausgegeben von

      Stefan Bollmann

      und Edith Flusser

      Mit einem Nachwort

      von David Flusser

      Edith Flusser übertrug die Texte 6, 7, 10-15, 24 und 25 aus dem Portugiesischen. Der Text »Die Brücke« wurde von Ines Karin Böhner aus dem Englischen übersetzt.

      Die Fußnoten stammen von den Herausgebern.

      © E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

      © Copyright 2000 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin Wien

      Alle Rechte vorbehalten.

      Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

      eISBN 978-3-86393-559-7

      Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-055-4

      Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im

      Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

      INHALT

       1. TeilSTATIONEN

       1Die Brücke

       2Brief an Dr. Joseph Fränkl, 16. Mai 1976

       3Vater

       4Romy Fink

       5Brief an David Flusser, 14. März 1973

       6Die Enttäuschung

       7Eine Frage von Modellen

       8Brief an David Flusser, 4. Februar 1990

       9Kann man sein eigenes Judentum überholen?

       2. TeilJUDE SEIN

       10Jude sein (1) – existentieller Aspekt

       11Jude sein (2) – kultureller Aspekt

       12Judentum als Quelle des Westens

       13Jude sein (3) – religiöser Aspekt

       14Judentum als Ritualisierung

       15Vom jüdischen Ritus

       3. TeilODI ET AMO

       16Vom Fremden

       17»Dostojewskij und das Judentum«

       18Selbstauslöser

       19Odi et amo

       20Judenstaat ’91

       4. TeilEINE JUDISCHE LITERATUR?

       21Juden und Sprache

       22Pilpul (1)

       23Pilpul (2)

       24Agnon oder das Engagement für den Ritus

       25Warten auf Kafka

       NACHWORT

      von David Flusser

       NACHWEISE

1. Teil

      1

      DIE BRÜCKE

      MEIN GROSSVATER hatte eine Fabrik für Anilinfarben für Lebensmittel wie zum Beispiel Würste und Eiscreme. Tatsächlich aber war es eher ein Ort, an dem verschiedene Pulver je nach den Wünschen der Kunden gemischt wurden. Die Farben waren in Form von Zuckersternen auf einem Pappkarton ausgestellt, und meine Schwester und ich haben die Sterne gewöhnlich gegessen, wenn mein Großvater nicht hinschaute. Die Fabrik mit dem französischen Schriftzug »Fabrique des colorants inoffensifs« (etwas unglaublich Elegantes im Prag zwischen den Kriegen) befand sich hinter dem Gebäude, in dem ich geboren wurde. Es war ein dreistöckiges Art nouveau-Gebäude, von dem meine Großeltern das erste Obergeschoß bewohnten, ein deutscher Richter mit dem tschechischen Namen Lastovicka das zweite und meine Eltern das dritte, wobei mein eigenes Zimmer auf die Fabrik und den Hinterhof hinaussah. Im Erdgeschoß gab es einen Barbier, und dieser kam jeden Morgen zu meinem Großvater, um ihn zu rasieren und ihm den Schnurrbart zu adjustieren. Doch die allerwichtigste Sache war die: Da gab es eine Brücke, die die Küche meiner Großeltern mit dem Dach der Fabrik verband, und das Dach war ein Garten! Ein Dachgarten gerade wie Semiramis Hängende Gärten. Das Dach war natürlich zementiert, doch es gab dort Blumenbeete, eine Schaukel für uns Kinder und mehr oder weniger eine Sommerlaube, in der meine Großeltern während des »Sukkoth« (des jüdischen Laubhüttenfestes) lebten – natürlich taten sie das nur symbolisch, da meine Großmutter Angst hatte, sich in den Nächten zu erkälten. Vom Garten aus führte eine Art Leiter in den Hof der Fabrik, doch diese Leiter zu benutzen, war uns Kindern verboten.

      Wann immer es einen Tag gab, an dem es nicht regnete, gingen wir von der Schule nicht direkt zu unserer Wohnung, sondern stattdessen zu der unserer Großeltern, geradewegs in die Küche und von dort über die Brücke in »unseren« Garten. Auf dem Weg durch die Küche stahlen wir uns gewöhnlich etwas zu essen, wenn wir uns von dem Dienstmädchen unbeobachtet glaubten. Erwischte sie uns dennoch, waren wir jedesmal wieder von dem Tropfen fasziniert,