(das heißt: Kiddusch* und kein Schinken, aber nicht koscher) und reich, ohne es zu zeigen, das heißt Aktien, Häuser, Gold, aber was man damals wohl »bescheidene Lebensführung« nannte, also keine Villas und großen Autos.
Meine Großeltern hatten drei Kinder. Wilhelm (nach dem ich heiße), Ludowika (nach der meine Schwester hieß) und meine Mutter Melitta. (Diese Namen allein sind Hinweise auf den viktorianischen Kulturkreis.) Mein Onkel Wilhelm war Violinist und lebte in London. Auf ausdrücklichen Wunsch meines Großvaters kehrte er im September 1914 nach Prag zurück, rückte ein, und fiel beinahe sofort bei Nisch in Serbien. Er starb unverheiratet, und mein Großvater hat seinen Tod nie überwunden. Meine Tante Ludowika (angeblich ein Untam**) war selbstverständlich gut österreichische Krankenschwester im Krieg, und starb, unverheiratet, am 18. Oktober 1918, am Tag der Revolution, an spanischer Grippe. Als also mein Vater meine Mutter heiratete, war sie die einzige Tochter und Erbin. Man kann sich den Skandal vorstellen, ein linker Intellektueller heiratet Fräulein Basch und will seine Ideen nicht aufgeben, obwohl mein Großvater Basch meinen Vater sofort zum »stillen Teilhaber« seiner Fabrik machte und ihn wahrscheinlich auch anderswie »bestechen« wollte. Ich glaube, das war die stumme Tragödie der Ehe meiner Eltern: der hochmütige »Geistige« und die viel jüngere, kultivierte und zurückhaltende »fille rangée«. Ich glaube jedoch auch, daß es eine gute Ehe war: Mein Vater »unterrichtete« meine Mutter, und diese »kultivierte« meinen Vater.
Aus dieser Ehe entstammten ich und meine Schwester Ludvika. Ich wurde am 12. 5. 20 und meine Schwester am 21. 12. 22 geboren. Da ich der einzige Erbe meines Großvaters war, wollte er, ich möge Basch-Flusser genannt werden, wogegen sich mein Vater stellte (wohl wegen der aristokratischen Konnotationen des Hyphen). Den Siegelring mit der Baronenkrone (nebbich!) trage ich allerdings noch immer. (Übrigens hat meine Frau vor einigen Jahren zufällig das Wappen der Baschens gefunden, aber dann wieder verloren.) Wir führten (meine Großeltern Basch, meine Eltern, meine Schwester und ich) ein gutbürgerliches Leben in dem Bubencer Haus und in dem Landhaus, das mein Vater bei der Moldaumündung kaufte. Im Jahre 1942 (also zwei Jahre nach der Ermordung meines Vaters) wurden alle (meine Großeltern, meine Mutter und meine Schwester) verschleppt, nachdem man sie (laut des mir von Ihnen gesandten Papiers) in die Dlouhá und auf den Zboŕenec umgesiedelt hatte. Vorher wohl noch hatte mein Großvater die Fabrik an einen Strohmann, seine langjährige Buchhalterin Frau Müller, zum Schein verkauft, in der verlorenen Hoffnung, sie für mich zu retten (sein Lebenswerk, und ich sein Stolz, denn jedes jüdische Enkelkind ist bekanntlich genial). Alle sind, zu mir Gott sei Dank unbekannten Daten, umgebracht worden, und ihr sinnloser Tod ist das Zeichen, unter dem ich zu leben habe.
Ich besuchte die tschechische und deutsche Volksschule, das deutsche Realgymnasium in Smíchov, machte auch eine tschechische Matura und immatrikulierte an der tschechischen juristischen Fakultät im Jahr ’38. Dank der Hilfe meines späteren Schwiegervaters Barth floh ich im März ’39 (etwa den 20.) nach England, von dort nach Brasilien, wo ich Hochschullehrer wurde. Ich bin mit Edith Barth verheiratet, habe drei Kinder, und schreibe Essays und Bücher. Aber das ist jüngste Geschichte, und für Sie wohl ohne Interesse. Was Sie interessiert, endet im Jahre 1944, dem Jahr der Ausrottung meiner Familie…
* Zu den drei Mäulern
* »Pátečnici« (von pátek: Freitag) wurden die Intellektuellen genannt, die sich freitags bei Tomáš Garrigue Masaryk versammelten.
* Die weltweit hochangesehene Independent Order of B’nai B’rith (Söhne des Bundes) wurde 1843 in New York als jüdischer brüderlicher Orden von deutschstämmigen Juden gegründet; Tätigkeiten vor allem auf dem Gebiet der allg. Wohlfahrt und des Sozialdienstes.
* hebräischer Segensspruch; etwa: Die Erinnerung soll zum Guten gereichen.
* hebräisch »Heiligung«: Segensspruch bei einem Becher Wein.
** jiddisch für Tollpatsch
3
VATER
DAS VIERTEL BOM RETIRO (gute Zuflucht) der Stadt São Paulo war noch vor wenigen Jahren ein Gewirr von Judengassen. Das geschäftige Gedränge war bunt, portugiesische und jiddische Rufe verbanden die Gehsteige, Kaftan-bekleidete und Schläfenlocken-tragende Verkäufer priesen Bluejeans an, halbnackte Frauen vor vergitterten Fenstern priesen sich selbst an, und Volkswagen versuchten hupend, sich einen Weg zu bahnen. Damals ging ich des öfteren hin, angeblich nicht, um die halbnackten Frauen und die ausgestellten Kleidungsstücke zu besichtigen (die allerdings beide von minderwertiger Qualität waren), sondern um eine Art von ethnischem Puzzle zu spielen. Ich suchte mir einen beliebigen Menschen aus der Menge aus, versuchte seine Herkunft zu erraten, befragte ihn dann danach und gab mir selbst Punkte. Es war mir ein Leichtes, zwischen den sephardischen und aschkenasischen Juden zu unterscheiden, schwieriger war es, unter den sephardischen etwa ungarische von türkischen und unter den aschkenasischen etwa russische und deutsche zu unterscheiden, und das Spiel wurde spannend, wenn es galt, etwa zwischen einem Konstantinopler und einem Smirnaer, oder zwischen einem Frankfurter und einem Mannheimer unterscheiden zu wollen. Doch einmal erlebte ich eine Überraschung:
Ein alter Herr, mit Vollbart, aber ohne Schläfenlokken, mit einem Gebetsmantel ähnlichen Gewand, aber ohne Kapperl, und in Sandalen, ging langsam über die Gasse, und ich war unfähig, ihn unter die Hauptkategorien »Aschkenas-Sepharad« einzuordnen. Ich sprach ihn also an (portugiesisch und in gebrochenem Jiddisch), aber er verstand mich nicht und antwortete höflich in einer mir fremden Sprache. Ich bin zwar in semitischen Sprachen sehr wenig bewandert, habe aber ein gutes Sprachgefühl, und die Sprache des alten Herrn klang in meinem Ohr wie ein sehr altertümliches Hebräisch – als ob der Herr lateinisch statt portugiesisch gesprochen hätte. Ich unterdrückte jedoch sofort das leichte Gruseln: Wahrscheinlich war der alte Herr ein jemenitischer Jude, sprach einen mit Hebräisch durchsetzten südarabischen Dialekt und war erst jüngst nach Brasilien gekommen. Er war sichtlich im neuen Land desorientiert, und ich mußte ihm beistehen. Um dies tun zu können, mußte ich aber seine Sprache verstehen. Ich hielt daher ein Taxi an, bat den alten Herrn einzusteigen (er tat es mit höflicher Verbeugung), und sagte dem Lenker, er möge uns zur Stadtbibliothek bringen. Sicher sind dort jemenitische Wörterbücher zu finden.
Sie sind tatsächlich dort, und (wie uneingestandener-weise erwartet) entsprechen sie nicht der Sprache des alten Herrn. Ich bitte daher die Bibliothekarin, nach einem chaldäischen Wörterbuch zu suchen. Während sie damit beschäftigt ist, sitze ich dem lächelnden alten Herrn im großen, verlassenen Lesesaal gegenüber und versuche fieberhaft, die armseligen mir verfügbaren Daten betreffs »Chaldäa« aus dem Gedächtnis zusammenzukratzen. Ich finde dort zwei Brocken: »Ur in Chaldäa« (Abrahams Heimat) und »Chaldäer« als klassische Bezeichnung für Magier und Astrologen. Dabei hat »Ur« für mich einen deutschen Beigeschmack, wiewohl ich mir der falschen Etymologie bewußt bin, und bei »Chaldäer« muß ich auch an die Sprache einer orientalischen Kirche denken. Diese beiden Brocken scheinen keinen Zusammenhang zu haben. Ich muß weiter im Gedächtnis suchen, mich an meine Schulzeit erinnern.
Ein Volk im Zweistromland (Kaldi, Kasdîm, Kar-Dunjasch), älter als das babylonische, zweifellos semitisch, aber mit den nicht-semitischen Sumerern in Wechselbeziehung. Einige babylonische Könige (Nabupolassar und seine Nachfolger) sind Chaldäer gewesen. Die babylonische Priesterkaste war vorwiegend chaldäisch. Abraham, soweit er historisch überhaupt faßbar ist, entstammt einer chaldäischen Mittelperiode (etwa Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr.). Die klassische Bedeutung von »Chaldäer« ist auf Daniel (etwa fünftes Jahrhundert v. Chr.) zurückzuführen. Noch