Romy ist bei einem Besuch seines Vaters in New York plötzlich gestorben. Das war ein ganz anderer Tod als die drei anderen, die ich beschrieben habe. Bei Romy war der Tod ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Sein Leben war immer vollendet, denn er führte ein feierliches, ein heiteres Leben. Der Tod hatte bei ihm keinen Stachel. Er gehörte zum Leben. Rilke sagt: »Gib jedem seinen eigenen Tod«, und Romy wurde der eigene Tod gegeben. So wie er starb, so sollte man sterben. Aber um das zu können, muß man so wie er leben können.
* Das Porträt Romy Finks ist ein Kapitel von Vilém Flussers Autobiographie »Bodenlos«, Bensheim 1992.
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BRIEF AN DAVID FLUSSER
Merano, March 14, 73
Lieber Gusta,
danke für deinen Brief vom 1. 3. Ich habe vorgezogen, angesichts der Nebulosität deiner Loewener Adresse, der weiten Reise, des nur relativen Interesses an flämischer Kunst (…) und meiner Arbeit an einem kürzlich zu erscheinenden Buch, auf eine Begegnung mit dir mit Bedauern zu verzichten … Wollen wir es also schriftlich versuchen? Einer Reise nach Israel steht nämlich meine Ambivalenz gegenüber dem Judenstaat entgegen: ich kann nicht als Tourist kommen, und fürchte, wenn ich anders komme, mich entweder für oder gegen zu engagieren. (Du weißt, daß ich, im Gegensatz zu dir, als Junge Zionist war, weißt aber vielleicht nicht, daß mein Zionismus zusammenbrach, als mich die Katastrophe von 1939 in eine existentielle Grenzsituation warf.) Wollen wir unserer beider Stellung zum Judentum als Ausgangspunkt unserer Responsenliteratur nehmen?
Jahrzehnte hindurch habe ich das Judenproblem verdrängt, und zwar sowohl aus äußeren Gründen (in Brasilien standen und stehen ganz anders geartete Probleme im Vordergrund) als auch aus inneren (die emotionelle und intellektuelle Erfahrung der Bodenlosigkeit führte mich auf Umwegen über Wittgenstein und Heidegger, und über den Orient, eher in die Nähe der katholischen Mystik). Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Die rituale Handlung (vielleicht: Mizwa?), die mir im Zentrum des Judentums zu stehen scheint, erscheint mir jetzt als »acte gratuit«, als absichtslose Geste, als Ausdruck des absurden Daseins, und darum als im kierkegaardschen Sinn die wahre Form des religiösen Lebens. Der jüdische Ritus zeigt sich mir als das Gegenteil von Magie (nämlich als antipragmatisch), und darum als eine mögliche Antwort auf die Ethik des Massenkonsums einerseits, und die Ethik der Effizienz des Apparats auf der andern. Er zeigt sich mir als spielerische Geste, falls man unter »Spiel« etwas Sakrales versteht (etwa wie Nietzsche) und den »homo ludens« als eine mögliche Zukunft des Menschen ansieht.
Diese meine neue Einstellung zum jüdischen Ritual erlaubt mir zwar, in ihm die Wurzeln einer jeden »reinen« Handlung zu sehen (im kantischen Gegensatz zu »praktisch«) und auch, mich in der Kunstkritik um eine »rituale Ästhetik« zu bemühen. (Darüber vielleicht ein andermal.) Aber sie erlaubt mir natürlich nicht, orthodoxer Jude zu werden. Erstens, weil mir dazu der Glaube fehlt (im Sinn von »fides«, aber vielleicht auch im Sinn von »gratia«), und zweitens, weil mir die Praxis der Orthodoxie fehlt und weil sie mich, offen gesagt, abstößt. Außerdem erlebe ich in dieser Sache etwas, was viele Katholiken der Kirche gegenüber erleben: enttäuschte Liebe. Wenn nämlich mein Verständnis des Judentums richtig ist, dann heißt Jude sein: für den anderen dasein. (Die Liebe zu Gott geht über den Nächsten, der Ritus ist Öffnung zum Nächsten, weil zur Transzendenz usw.) Aber die Wirklichkeit des Judentums (und nicht zum wenigsten des Judenstaats, der ja vom Judentum nur schwer zu trennen ist) erscheint mir eher als Verschlossenheit und Selbstbehauptung, historisch (und jetzt auch geographisch) völlig erklärlich und zum Teil wahrscheinlich berechtigt, aber das Problem ist ja gerade, daß historische und geographische Koordinaten, weil sie immanent, also »praktisch« sind, das Wesen des Judentums als ritualen Daseins leugnen. Mit anderen Worten: die jüdische Wirklichkeit widerspricht diametral dem Bild, das ich mir vom Judentum mache.
Selbstredend läßt sich antworten, daß hier eine dialektische Spannung besteht, daß die rituale These eine politische Antithese herausfordert und daß ein irdisches Jerusalem (etwa im Sinne Agnons) eine mögliche Synthese dieser Spannung darstellt. Man kann dann den Judenstaat (und die jüdische Orthodoxie) als Prozesse in Richtung dieser Synthese lesen. Aber solche talmudisierenden Turnübungen des Intellekts führen nicht zu einer existentiellen Entscheidung für oder wider. Das ist der Grund, warum ich mich fürchte, nach Israel zu fahren. Man kann nicht Tourist dort sein, wo das irdische Jerusalem (oder zumindest Gerusalemme liberata) stehen sollte.
Vielleicht antwortest du auf diese Fragen, (denn das sind sie) … Sei du und deine Frau von der Edith und mir auf das herzlichste begrüßt.
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DIE ENTTÄUSCHUNG
Rehovot, 8. 5. 80
PLATON SCHÄTZT das kontemplative Leben höher als das aktive, weil er der Meinung ist, daß in der Kontemplation der Ideen die Weisheit liegt und nicht in ihrer Anwendung. Wer versucht, Ideen in der Natur anzuwenden (z. B. ein Dreieck in den Sand zu zeichnen), wird feststellen, daß die angewandten Ideen entstellt wurden (die Winkelsumme nicht mehr genau 180 Grad ausmacht). Das gezeichnete Dreieck, dieses Kunstwerk, das das Resultat menschlicher Arbeit ist, die darauf hinzielt, die Natur zu verändern, wird weder Weisheit noch Glück bringen, sondern nur falsche Meinungen, »doxai«. Das aufgezeichnete Dreieck wird zweifellos den Sand ändern, ihn »informieren«.
Diese platonische Lehre hat in der Philosophiestunde nichts Melancholisches an sich, man darf nur nicht vergessen, daß jede Theorie in der Praxis entstellt wird. Wenn wir uns diese platonische Idee in Israel ins Gedächtnis rufen, dann verzweifeln wir an der Unmöglichkeit, Ideen in der Praxis durchzuführen. Wir verzweifeln auch an der Opferwilligkeit, mit der Juden Ideen verwirklichen möchten. Das Dreieck, das Juden aus der ganzen Welt, mit großem Leiden und Heroismus, mit großer Hoffnung, in den Sand von Palästina gezeichnet haben, hat zweifellos grundsätzlich den Boden verändert. Seine Winkelsumme hat aber keine 180 Grad, und dieses wirkliche Malheur wird von nah und fern beobachtet. Was man in Israel bemerkt, wenn man die platonische Idee im Kopf hat, ist der Schiffbruch des mit großem Aufwand angewandten Idealismus und die Kleinlichkeit der theoretischen, nicht engagierten Kritik. Ich kann mir kein trostloseres Schauspiel vorstellen.
Dieses Schauspiel ist relativ neu. Die Mehrzahl der Erbauer des Staates Israel glaubten, bis zum Sechstagekrieg im Jahr 1967, wenigstens in groben Zügen das Modell einer gerechten, humanen Gesellschaft realisieren zu können. Aus der Entfernung applaudierte dazu die Mehrzahl des interessierten Publikums. Später haben verschiedene Faktoren die Szene geändert. Mit der Besetzung der eroberten Gebiete wurde den Erbauern des neuen Staates die Gebrechlichkeit des moralischen Fundaments ihres Unternehmens bewußt. Als erpresserische Waffe hat das Öl das Publikum davon zurückgehalten, weiterhin zu applaudieren. Das schlechte Gewissen, das das Publikum den Juden gegenüber hatte, hat in den Ausschreitungen des jüdischen Staates das Ventil für die gerechte Empörung gefunden. Diejenigen, die das Land aufbauen wollten, haben begonnen, zu sich selbst das Vertrauen und zugleich die moralische Unterstützung des Publikums zu verlieren. Es führte nicht zum Defätismus: Ich glaube, daß die Israelis weiter bereit sind, ihr Leben zu opfern, ganz selbstverständlich, ohne eine große Geste von Patriotismus. Meiner Meinung nach handelt es sich um kein Opfer zugunsten irgendeines Ideals, sondern um Selbstverteidigung. Ein Opfer von enttäuschten Menschen.
Die trostlose Szene des Todes von Idealen ist relativ neu. Sollte die platonische Ansicht richtig sein, dann liegt die Niederlage der zionistischen Idee in ihrer Anwendung, Palästina am Ende des letzten Jahrhunderts zu kolonisieren. Folgt man Plato, müßten bereits jene, die aus den eisigen russischen und polnischen Dörfern in die heiße Wüste eines verlorenen Winkels des ottomanischen Imperiums auswanderten, nachdem sie in den Talmudschulen oder durch die verbotene marxistische Literatur Gerechtigkeit und Nächstenliebe gelernt hatten, ihre Ideen »verraten« haben. Tatsächlich fehlt es nicht an jenen, die so denken. Die orthodoxen Ultra-Fundamentalisten, die in Mea Shearim*,