den jüdischen Staat, weil sie, ähnlich wie Plato, behaupten, daß das Judentum kontempliert werden muß und nicht angewandt werden darf. Die orthodoxen Marxisten, ebensolche Ultra-Fundamentalisten, wie es die Fanatiker in Mea Shearim sind, welche aber nicht in Jerusalem leben, sondern im Parlament und auf Universitäten der kapitalistischen und sozialistischen Staaten, behaupten gleichfalls, daß ohne vorhergehenden Klassenkampf der Sozialismus nicht zu verwirklichen ist.
Die fundamentalistischen Einwände, von rechts oder von links, gegen den Zionismus erfassen indessen nicht das platonische Problem. Das Problem ist dialektisch, schließt die Beziehung zwischen Idee und Wirklichkeit ein. Die Tragödie des Zionismus, wie sie sich heute zeigt, liegt im Keim im Widerspruch zwischen der Idee, die angewandt wurde, und der Wirklichkeit, die verändert wird. Es gab zu Anfang wenigstens zwei einander widerprechende, aber ineinandergreifende Ideen: die religiöse und die marxistische. Es gab zwei soziale Wirklichkeiten, die hätten geändert werden sollen: diejenige der in der Welt verstreuten Juden und diejenige der von den Türken unterworfenen Araber, die auf dem Land lebten. Als ob ein Zeichner zur gleichen Zeit ein Dreieck und einen Kreis in Sand und in Stein zeichnen wollte. Als ob der Zionismus ein übertriebenes Beispiel für die Theorie und gegen die Praxis wäre.
Eben weil er auf etwas Unmögliches mit der allergrößten Hingabe zielt, ist der Zionismus tragisch. Bevor ich mit meinen eigenen Augen das Experiment gesehen habe, konnte ich nie verstehen, warum sich die Menschheit vor einem so großartigen Schauspiel nicht mit Bewunderung verbeugt. Von Kosakenhorden verfolgt, von fortgeschrittener nazistischer Technologie erstickt, von islamischen Fanatikern hingemordet, versammeln sich die Reste der dekadenten, erschöpften Gemeinschaft, nicht um Zuflucht zu suchen und in Frieden zu sterben, sondern um ein Modell für eine zukünftige Gesellschaft aufzubauen. Nicht für sich selbst, sondern für die anderen werden sie zu Pionieren – vor dem feindlichen Blick der etablierten weltlichen und religiösen Mächte. Es ist tatsächlich unglaublich, daß sie es fast schaffen. Warum also hält die ganze Menschheit, die diesem spannenden Drama zusieht, nicht den Atem an? Warum erniedrigt sie sich durch kleinliche, größtenteils impertinente Kommentare? Jetzt, wo ich anwesend bin, verstehe ich ihre Einstellung. Die Tragödie ist ein widerwärtiges Schauspiel, das illustriert, daß jedes Engagement für Ideen unvernünftig und vergeblich ist. Würden wir Prometheus am Kaukasus zusehen, würden wir seine Leber sehen und sie kritisieren. Das gestohlene Feuer hätten wir, wie im Fall von Israel, längst vergessen.
* geschlossenes orthodoxes Stadtviertel von Jerusalem
7
EINE FRAGE VON MODELLEN
IM HAUS MEINES COUSINS David Flusser, Historiker des Frühchristentums an der hebräischen Universität in Jerusalem, folgte dem Shawuot* eine Diskussion über die Dynamik des Judentums. Der Last des Chamsin** folgte das bleiche, transparente Licht, in das Jerusalem getaucht war und das vom griechischen Wort »Hierophanie« (das Durchschimmern des Heiligen) erfaßt wird. Wir hatten uns im Garten versammelt, um die letzten Strahlen zu genießen. Unter uns gab es Akademiker, Theologen und Politiker. Meine Frau und ich waren die einzigen Vertreter der Diaspora. Bei dieser Gelegenheit hat sich David Flusser, auf beinahe rituelle Weise, auf die Lehren des Ioshua ben Iossef Rabenu (Jesus, Sohn des Joseph, unseren Meister) berufen.
Das existentielle Klima ist in Jerusalem (in ganz Israel) dramatisch religiös: in einem ganz spefizischen, mit dem Handeln verbundenen Sinn religiös. Ganz schematisch kann gesagt werden, daß es drei religiöse Haltungen im Juden-Christentum gibt; die der Tat, des »Werkes« (das Judentum), die der Tat und des Glaubens, »opera et fides« (der Katholizismus) und die des Glaubens, »sola fide« (der Protestantismus). Das Klima in Jerusalem, in ganz Israel, ist, so gesehen, jüdisch religiös. Es ist eine Gesellschaft, die dem Akt des »Opferns« gewidmet ist, und sogar diejenigen, die ihren religiösen Glauben (den jüdischen oder marxistischen) verloren haben, sind zu Opfern bereit: sie würden ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder zugunsten von Israel, das in letzter Analyse die Bejahung Gottes ist, aufopfern. Es gibt diejenigen, die an diese Aufgabe glauben, andere bezweifeln sie, und es gibt die, die die Hoffnung verloren haben; praktisch alle sind aber zum Opfer bereit: sie leben religiös. Wenn wir »Drama« mit »Handeln« übersetzen, dann ist das Klima dramatisch. Die Israelis sind »Aktoren« im Sinn von »dramatis personae«. Bei der Schilderung der Diskussion, die ich wiedergeben will, muß man sich dieses Klima vorstellen.
Die Diskussion drehte sich um Agonie, den offenen Todeskampf. Es gab Protagonisten, die für das sich selbst bejahende Judentum kämpften. Und es gab Antagonisten, die sich für ein weltoffenes Judentum einsetzten. Mein Standpunkt war der eines Antagonisten. Ich habe ein pulsierendes Judentum vorgeschlagen, habe unser Herz als Modell genommen: die Phasen der Systole, in denen sich das Judentum auf sich selbst zurückzieht, und die Phasen der Diastole, in denen sich das Judentum über die Menschheit ergießt. Als Beispiel für die Systole habe ich den Auszug aus Ägypten, die Makabäer und die Zionisten gewählt. Ich habe zugegeben, daß die Diastole nur möglich ist als Folge einer vorangehenden Systole, die ihrerseits auf eine Diastole hinzielt. Ich habe auf die bekannte hegelsche These vom unglücklichen Bewußtsein verwiesen: »Wenn wir die Welt gewinnen, verlieren wir uns, und wenn wir uns finden, verlieren wir die Welt.« Die anwesenden Protagonisten haben meine Position vehement bekämpft, die im israelischen Kontext tatsächlich den Beigeschmack von Verrat hat. David Flusser hat bei dieser Gelegenheit, auf seine Weise, an die Figur von Christus erinnert.
Der verlorene Bericht
Wer die von David Flusser geschriebene Biographie von Jesus gelesen hat, wird die Bedeutung des vorangegangenen Satzes verstehen: Jesus als zentrale Figur in der Geschichte des Judentums und »ipso facto« in der Geschichte der ganzen Menschheit, da die jüdische Tradition der ganzen Menschheit das historische Bewußtsein vermacht hat. Jesus ist nach Moses die zweite Revolution im geschichtlichen Bewußtsein, weil er die Bedeutung der menschlichen Existenz in jüdischen und zugleich universellen Begriffen ausdrückt. Gewiß kann Jesus nur von demjenigen verstanden werden und nur der kann ihm folgen, der die konkrete historische Situation richtig erfaßt hat: z.B. den talmudischen Kontext, innerhalb dessen er handelt, und den Kontext, in welchem der jüdische Krieg gegen die Römer vorbereitet wird. Trotzdem geht seine Botschaft über die Geschichte hinaus: er weist auf die existentielle Bedeutung hin, die die Umstände übersteigt.
Wollen wir ihm folgen und ihn nachahmen, ist es demnach notwendig, reicht aber noch nicht aus, über die christliche Tradition auf die historische Figur von Jesus zurückzugehen. Schleier um Schleier verdeckt die christliche Tradition eher die Figur von Jesus, als daß sie sie enthüllt: Die mittelalterliche Philosophie verdeckt die Kirchenväter, diese verdecken den Hl. Paulus, letzterer verdeckt die verschiedenen Evangelien, diese verdecken das »originale« Evangelium und dieses wiederum verdeckt den Meister. Die Schuld an den einander überlagernden Verdeckungen trägt zum Teil die Vergessenheit, wie sie einer lang zurückliegenden Vergangenheit eigentümlich ist, und zum anderen Teil die bewußte Unterdrückung der jüdischen Dimension von Jesus durch die christlichen Autoren, die daran interessiert sind, sich vom Judentum, das die Römische Kirche verneint, zu distanzieren. Diese antisemitische, infolgedessen selbstmörderische Tendenz des christlichen Denkens gibt es sogar in den Evangelien selbst, die ihr Augenmerk eher auf die Griechen und Römer richten als auf die Juden. Deshalb ist auch der Protestantismus unbefriedigend, der mit der Rückkehr zu den Quellen nach der Figur von Jesus sucht, aber über die Evangelien nicht hinausgeht. Daher die Nachforschungen von David Flusser, die darauf abzielen, das Evangelium des Hl. Markus kritisch zu lesen, um den originalen, verlorenen Bericht wiederherzustellen.
Derjenige, der Jesus nachfolgen will (imitatio Christi), muß selbstverständlich wissen, wer Jesus war. Der römische Zenturion, der beim Anblick von Jesus, ohne von dessen Lehre etwas zu kennen, ausrief, »dieser Mensch ist Gott«, kann nicht als Nachfolger Christi angesehen werden. Auch historische Kenntnis, in dem Maße, wie sie verfügbar ist, reicht nicht aus. Es ist nötig, die ganze