er darstellt. Allerdings verfehlt diese Schilderung vollständig das Wesentliche dieses Prozesses. Es ist ja nicht so, daß ich den anderen wie ein Problem »lösen« wollte, sondern weit eher so, daß er sich mir öffnet, weil ich mich ihm öffne. Das abgründig Geheimnisvolle des anderen ist die Folge jenes gegenseitigen Sogs, der eben »Dialog« genannt wird. Darum hat das Mysterium des anderen nichts mit der Problematik des Menschen zu schaffen. Der Mensch ist ein kolossal kompliziertes System für den Anthropologen, und darum problematisch. Aber dem Freund ist der Freund kein Problem, sondern ein unergründliches Geheimnis.
Diese allgemeine Bemerkung steht allerdings in einem seltsamen Widerspruch zu der Erfahrung, daß es Menschen gibt, die ein Geheimnis in sich bergen – sozusagen ein Geheimnis zweiten Grades. Dies ist vielleicht so zu verstehen: Der gähnende Abgrund, der sich dem Freund im Freund öffnet, ist das Geheimnisvolle. Aber manchmal stößt man in diesem Abgrund auf einen Widerstand, der nicht erlaubt, weiter in ihn zu tauchen. Und dieser Widerstand ist das Geheimnis im Geheimnis. Bleibt man bei diesem Bild, dann lassen sich zwei Arten von »Geheimnissen« unterscheiden. Bei der ersten Art ist der Widerstand ein Block, der ein Fortschreiten in den Abgrund des anderen verbietet. In diesem Fall ist der andere geheimnisvoll, weil etwas in ihm (und ihm) verborgen ist, das entweder nicht ans Licht kann oder nicht ans Licht darf. Im zweiten Fall ist der Widerstand ein Nebel, der immer dichter wird, je tiefer man in den Abgrund des anderen eindringt. Es handelt sich also nicht eigentlich um einen Widerstand, sondern um eine Verdunkelung. Das Geheimnisvolle an einem solchen Menschen ist nicht, wie im ersten Fall, daß er etwas zu verbergen hat, sondern, im Gegenteil, daß er nichts zu verbergen hat und dabei doch immer undurchsichtiger wird, je mehr er sich öffnet. Man sieht sozusagen nie seine Tiefen, sondern immer besser die Unmöglichkeit, seine Tiefen zu sehen. Im ersten Fall läßt sich das Geheimnis lüften, zum Beispiel durch gegenseitiges hemmungsloses Vertrauen. (Oberflächlich ist ja das die Methode der Analyse.) Im zweiten Fall läßt sich das Geheimnis nie lüften, denn es ist das Wesen des anderen. Das ist der Fall der tatsächlich geheimnisvollen Menschen. Sie sind als Thema für Psychoanalysen und Kriminalromane nicht zu gebrauchen: es gibt für sie keine Schlüssel. Sie sind kein Rätsel: sie sind ein Geheimnis.
Aber auch das eben Gesagte ist eine Verallgemeinerung und trifft nicht den konkreten anderen. Wer nämlich die beiden oberen Absätze gelesen hat, könnte glauben, daß eine Aura des Mysteriums um die Gegenwart Romy Finks gelagert gewesen wäre, dieses meines geheimnisvollen Freundes. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Er war ein typischer erfolgreicher Bürger und stand mit beiden Füßen fest auf jenem Boden, den die Bürger für die Wirklichkeit halten. Ich bin sogar verleitet zu sagen, daß er unter allen meinen Freunden der prosaischste war, in dem Sinn, daß er am wenigsten vom Zweifel an dieser Realität angefressen war. Vielleicht kann ich dem Leser das Geheimnisvolle an ihm am besten durch Aufzählen von Fakten übermitteln. Eine solche Methode entspricht auch Romys Mentalität am besten.
Er erschien in den fünfziger Jahren als englischer Jude in São Paulo, zu einer Zeit also, da englische Juden eigentlich nicht kamen. Er kam, so sagte man, als Rechtsberater eines Liverpooler Textilkonzerns. (Es stellte sich später heraus, daß diese Information richtig war und daß er ein bedeutender Londoner Advokat war.) Statt aber diese Arbeit zu machen, lebte Romy äußerst bescheiden und ernährte sich durch Englischstunden. Dabei stellt sich zur Überraschung seiner Schüler heraus, daß er ein hervorragender Shakespeare-Spezialist war. Er hatte an einer Interpretation des Macbeth gearbeitet, und auch seine Arbeit über Hamlet hatte in England einige Aufmerksamkeit gefunden. Dies führte dazu, daß er begann, Vorträge über Shakespeare zu halten und darüber Artikel in der Presse zu schreiben. Dabei kam zum Vorschein, daß er enge Beziehungen zum Theater hatte. Langsam, sozusagen Schritt für Schritt, kam heraus, daß er nicht nur an Theatern, sondern besonders in Balletts gearbeitet hatte. Er war einer der Direktoren des Balletts von Monte Carlo gewesen und hatte ziemlich eng mit Dhagileff zusammengearbeitet. Er hatte eine Theorie des Balletts geschrieben. In diesem Zusammenhang, und sozusagen gegen seinen Willen, wurde bekannt, daß er auch auf die Londoner Oper einen Einfluß ausgeübt hatte und »The Queen’s Musician« war. Tatsächlich war er, wie sich zeigte, ein tiefer Kenner insbesondere Verdis.
Dies war aber nur eine der Linien, die sukzessive aus seiner Gegenwart in São Paulo strahlten. Durch seltsame Umstände kam heraus, daß er ein Kenner orientalischer Kunst war, daß er Studien über persische Kunst getrieben und daß er ein allgemein anerkanntes Buch über chinesische Keramik geschrieben hatte. Diese Seite seiner Tätigkeit kam dann, vielleicht zu seiner eigenen Überraschung, am meisten zur Geltung. Er begann als Kunstkritiker tätig zu werden und sich für brasilianische Malerei zu interessieren. Daraus entstand eine kleine Bildergalerie, die in wenigen Jahren zur bei weitem größten und entscheidendsten Bildergalerie Brasiliens wurde. Als er 1972 starb, hatte er eine Schlüsselstellung auf dem brasilianischen Kunstmarkt inne, baute Künstler auf und vernichtete sie nach seinen eigenen Kriterien und war dabei zu einem sehr reichen Menschen geworden.
Kurz nach seiner Ankunft in Brasilien wurde, wieder gegen seinen Willen, bekannt, daß er ein streng orthoxer Jude war und aus einer alten deutschen Rabbinerfamilie stammte. (Daher sein Vorname »Romy«.) Langsam wurde auch bekannt, daß er ein bedeutender Talmudist war. Es bildeten sich um ihn Kreise, die mit ihm den Talmud lasen. Leider habe ich diesen Lektüren nie beigewohnt, weil mir die dazu nötige Vorkenntnis fehlte. Doch habe ich in meinen Gesprächen mit ihm oft Probleme des Talmuds anschneiden dürfen. Im Zusammenhang damit kam heraus, daß er in der jüdischen Mystik, besonders dem Sohar, bewandert war, es aber systematisch ablehnte, darüber zu sprechen. Mir gegenüber jedoch gestand er mit lächelndem Widerwillen, an esoterischen Kreisen teilgenommen und dabei Erlebnisse gehabt zu haben, die auf sein Leben entscheidenden Einfluß gehabt hätten. Sie hatten anscheinend damit zu tun, daß er England verlassen hatte. Wie, das blieb ein Geheimnis.
Unabhängig davon kam heraus, daß Romy im Krieg eine Rolle gespielt haben mußte, die irgendwie mit Diamanten zu tun hatte. Diamantenschleiferei war der Beruf seiner Familie gewesen, und Romy muß diese Kenntnis wohl im Krieg für England ausgenützt haben. Dieser ganze Komplex jedoch blieb immer nur angedeutet. Hinzu kommt, daß er Kontakt mit Menschen hatte, die weder zu ihm selbst noch zueinander paßten: zum Beispiel mit international bekannten Sängern und Schauspielern, die ihn aufsuchten, wenn sie in São Paulo Gastspiele gaben; mit einem chinesischen Maler der konfuzianischen Schule, der nach Campinas geflüchtet war; mit unbekannten amerikanischen Rabbinern, mit internationalen Advokaten, mit einem amerikanischen Psychologen, mit obskuren bulgarischen Aristokraten usw. Wo immer man in seine Welt faßte, zerrann sie zwischen den Fingern. Dabei war er in die großbürgerliche brasilianische Gesellschaft eingebettet, die ja seine Kundschaft in den Galerien war und mit deren Hilfe er Kunstausstellungen in ganz Brasilien organisierte. Eigentlich aber fühlte er sich nur auf unserer Terrasse und mit unseren Freunden zu Hause.
Bei der Aufzählung dieser (und anderer) Tatsachen ist für das Verständnis von Romys Persönlichkeit eigentlich nur folgendes wichtig: Die verborgenen Zusammenhänge, die langsam ans Licht rückten, waren gegen seinen eigenen Willen bekannt geworden, obwohl doch scheinbar nicht das geringste Motiv bestand, sie verschweigen zu wollen. Allerdings ist auch verwirrend, wie diese Tätigkeiten sich chronologisch in ein Leben von sechzig Jahren einordnen konnten; und warum Romy São Paulo gewählt hatte, um dort seine letzten Aktivitäten zu entfalten. Das ist, oberflächlich gesehen, was ich mit Romys »Geheimnis« meinte.
Tiefer gesehen aber lag das Geheimnis Romys für mich auf einer ganz anderen Ebene, nämlich auf der des religiösen Lebens. Romy war ein orthodoxer, talmudischer Jude. Selbstredend hatte ich auch schon vorher solche Menschen kennengelernt: zum Beispiel Rabbiner, einen russischen Geschäftsmann und einige vom westlichen Standpunkt »primitive« Handwerker des jüdischen Viertels Bom Retiro. Aber es war immer ein äußeres Erlebnis geblieben. Die jüdische Religiosität war für mich immer in ihrem Wesen unreligiös, denn sie war nicht »theologisch«. »Assimilierter Jude« zu sein, heißt eben im Grunde, christlich religiös, also im Problem des Glaubens zu leben. Wenn man als assimilierter Jude vom Glauben abfällt, dann ist es ein Abfall vom christlichen Glauben. Es ist seltsam zuzugeben, aber es ist so: Die jüdische Religiosität war mir fremder als die indische und weit fremder als die Religiosität der brasilianischen »Macumba«. An dieser meiner »Assimilation« hat mein Kontakt mit Romy gerüttelt.
Aus