ist ein systolischer und zugleich diastolischer Jude (um es mit den von mir vorgeschlagenen Worten zu sagen). Systolisch, weil er die ganze jüdische Botschaft auf sich nimmt und weil er »nur für die Juden gekommen ist«. Und zugleich diastolisch, weil er sich in seiner Botschaft an die ganze Menschheit wendet und auf sie Einfluß nimmt. In der Tat ist Jesus, in seinen Worten wie in seinen Taten, ein vollständiges Modell des Judentums, für die Juden und ebenso für die ganze übrige Menschheit. Wer ihn im Leben nachahmen will, muß danach trachten, radikal und vollständig jüdisch zu leben. Man kann behaupten, daß Modelle einer anderen ontologischen Ebene als der konkreten menschlichen Wirklichkeit angehören. Das Modell der Nachfolge von Jesus hingegen transzendiert die konkrete menschliche Ebene.
Unerträgliche Modelle
Obwohl dies meine eigene Interpretation der Figur von Jesus ist, und nicht die von David Flusser, glaube ich, daß sie organisch seiner Berufung auf Jesus während der Diskussion, die ich beschrieben habe, folgt. Die Kenntnis dieses so reichen, schwierigen und heute so wichtigen epistemologischen und politischen Modells, die Berufung auf Ioshua ben Iossef Rabenu, konnte das Gespräch, das folgte, nicht unberührt lassen. Es wurde schon nahegelegt, daß »Jude sein« im Grunde bedeutet, Modelle vorzuschlagen: die jüdische Familie als Modell für Familie, der jüdische Staat als Modell für Staat, der Kibbuz als Modell für Gemeinschaft, um »systolische, der Marxismus als Modell für Revolution, Schönbergs System als Modell musikalischer Komposition, Husserls Phänomenologie als Modell wissenschaftlicher Forschung, um dyastolische Belege für die These anzuführen. Ich habe vorgeschlagen, als Ursache für den Antisemitismus anzusehen, daß die Modelle, seien sie gut oder schlecht, umfassend oder beschränkt, konsistent oder inkonsistent, grundsätzlich unerträglich sind, weil sie sich der konkreten Wirklichkeit imperativisch aufdrängen. Für diejenigen, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehen, seien die Juden, die nach Modellen (Mizwot*) leben, unerträglich.
Das Gespräch führte zum Zionismus und zum jüdischen Staat. So gesehen ist der Zionismus ambivalent: einerseits versucht er die Juden von dem Modell, eine Mission zu haben, zu befreien, indem er sie zu einem Volk macht wie jedes andere auch, und andererseits schlägt er das Modell des vorbildlichen jüdischen Lebens vor. Sogar die glühenden Verteidiger des Überlebens des Staates Israel »unter allen Umständen« haben zugegeben, daß irgendein levantinischer Staat, wie Syrien zum Beispiel, kein der Nachahmung würdiges Ziel ist. Meiner Ansicht nach ist das die Erklärung der Tatsache, daß das israelische Drama eine Tragödie im wahren Sinn des Wortes ist: Sollte ihm Erfolg beschieden sein, ist es erst recht zur Niederlage verurteilt. Israel ist ein heroischer Akt gegen das »Schicksal«, denn jeder jüdische Staat, in einen historischen und geographischen Kontext integriert, muß notwendigerweise ein Staat unter allen anderen werden und wird ipso facto kein Modellstaat sein.
Die Anwesenden waren mit mir nicht einverstanden, doch schienen mir ihre Argumente nicht treffend. Aus Angst, sie zu verfälschen, werde ich sie nicht wiedergeben. Die Position meines Cousins, David Flusser, war nuancierter als meine eigene und die der anderen Teilnehmer. Ihm liegt daran, Jesus zu folgen und zu versuchen, ein erfülltes jüdisches Leben hic et nunc zu führen, ein Leben, das mit seinen Riten und seinem dramatischen Klima gleichzeitig im Judentum und im aktuellen Strom der Philosophie, der Wissenschaft und Kunst integriert ist. Sollte es der jüdischen Gesellschaft gelingen, ein solches, fast unmögliches Leben zu erreichen, wäre das Problem der Zukunft des Staates in der Praxis gelöst. Die modellhafte Praxis (die »Frucht« von Jesus) ist allen Theorien, die unsere griechische Erbschaft sind, überlegen. Die Zukunft des jüdischen Staates mit allen seinen unlösbaren Problemen wie dem Zusammenleben mit den Arabern, einer Wirtschaft, die immer mit Kriegen rechnen muß und der Lage im Kreuzpunkt zwischen den Großmächten wird in dem Maße einer Lösung nähergeführt, wie es den Juden in Israel und anderswo gelingt, in der Praxis jüdisch zu leben.
Der Standpunkt von David Flusser (sollte es mir gelungen sein, ihn treu wiederzugeben) ist streng religiös. Es ist der Standpunkt des Juden-Christentums. Er selbst definiert ihn, in seiner gewohnten Ironie, als »vor-emanzipatorischen Zionismus«. Wie auch immer: Israel im jetzigen Kontext besucht und David Flusser als Führer und Gesprächspartner gehabt zu haben, war eine Art Gnade. Man wird aufgefordert, sein eigenes Leben neu zu bedenken und neu zu werten: das Judentum unter neuen Koordinaten zu suchen.
* Fest der Erstlingsfrüchte, 50 Tage nach Pessach
** ein Wüstenwind
* Plural von Mizwa (hebr. »Gebot«): ursprüngliche Bezeichnung für die Gesamtheit der religiösen Ge- und Verbote des Judentums.
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