Einfluß hatten: das Ritual und die Ehrfurcht vor dem Nächsten. Allerdings werden diese beiden Aspekte des jüdischen Lebens nur in ihrem Kontext, dem konkreten Dasein Romys, verständlich. Aber ich hoffe doch, daß ein Schimmer davon auch in der notwendig verkürzten Sicht, wie ich sie hier biete, bis zum Leser dringt und ihm Romy übermittelt.
Die Zusammenkünfte auf unserer Terrasse fanden Samstagnachmittag statt und zogen sich bis tief in die Nacht auf Sonntag hin. Es waren dabei einige von denen anwesend, über die ich hier* schon sprach, einige, über die noch zu sprechen sein wird, einige, die unerwähnt bleiben müssen, und dazu kamen Menschen von auswärts und eine Reihe junger Leute (meine Schüler). Romy kam oft als erster, und zwar kam er zu Fuß von seiner etwa fünf Kilometer entfernten Wohnung. Nach beendetem Samstag kam seine Frau mit dem Wagen, um ihn abzuholen. Das Essen, das gereicht wurde, berührte er nicht, es war nicht koscher. Das aber war nicht das echt Rituelle an diesem Vorgang, sondern die Zusammenkünfte bei uns waren selbst ein Sabbatritual für Romy. Auf diese Weise heiligte Romy den Tag. Um es christlich zu sagen (denn anders kann ich es nicht): sie waren seine Art, sich dem Transzendenten zu öffnen.
Ich habe darüber oft mit ihm gesprochen, um zu versuchen, dies zu verstehen, daß am Samstag nicht zu fahren und koscher zu essen nichts als Vorbedingungen sind, die Samstagsdialoge auf der Terrasse als Ritual, als Heiligung führen zu können. Die Gespräche waren lehrreich. Aber ihn zu beobachten, war eine bessere Methode, in den Geist des Judentums einzudringen: zu erleben, daß die zahllosen Gebote und Verbote nicht eine Begrenzung sind, sondern eine existentielle Befreiung zum sinnvollen, weil geheiligten Leben. Es strahlte eine Fröhlichkeit aus ihm, die gleichzeitig formal, übertrieben scheinende Höflichkeit und echte Herzlichkeit war. Es ist diese Mischung des Formalen und des existentiell Echten, die das Wesen des Rituals ausmacht.
Das also ist der Sabbat: den Sinn des Lebens über sich und in sich konkret zu fühlen, und zwar im Zusammenleben mit anderen und in der Öffnung dem ganz Anderen gegenüber. Die Gemeinschaft ist bei der Sabbatfeier nicht Selbstzweck (die Freunde versammeln sich nicht auf der Terrasse, um einander zu sehen), sondern sie ist ein Feiern des Heiligen (sie kommen zusammen, um »Themen« zu besprechen). Aber eben weil sie feierlich ist, ist sie echte Gemeinschaft (eben weil sie Themen besprechen, sind die Zusammengekommenen, trotz der heftigsten Widersprüche, wirklich Freunde). Das bedeutet, daß »Politik«, ganz im Gegensatz zur griechischen Auffassung, für das Judentum nicht die Suche nach der idealen Gesellschaft ist, sondern die Suche nach Gott durch die Gesellschaft. (Und das wieder ist ein Aspekt des Messias, der durch den Sabbat hindurchscheint.)
Kurz, der Sinn des Lebens wird im feierlichen Zusammenleben ersichtlich, aber dieses feierliche Zusammenleben selbst ist von Regeln geordnet, die an sich vollkommen sinnlos erscheinen. Das ist das Wesen der jüdischen Riten. Wo nämlich eine Gesellschaft nicht von scheinbar sinnlosen Regeln geordnet ist, wo diese Regeln »vernünftig«, »effizient« oder »zweckhaft« sind, dort ist die Gesellschaft nicht feierlich, und das Leben in ihr ist sinnlos. Dies war für mich an Romy die wichtigste Entdeckung: daß die Riten an sich sinnlos sein müssen, um zu einer Feierlichkeit zu führen, in der sich der Sinn des Lebens ereignet. So sind die jüdischen Riten das direkte Gegenteil der heidnischen: da sie sinnlos sind, sind sie antimagisch. Und jeder Versuch, diese Riten »erklären« zu wollen (etwa sie »ethisch« machen zu wollen), ist heidnisch. Samstags nicht Auto zu fahren, ist sinnlos, und zu sagen, daß es gut für die Verdauung ist, ist heidnisch. Aber weil es sinnlos ist, heiligt es den Sabbat und öffnet mich der feierlichen Zusammenkunft auf der Terrasse. Zweifellos, nicht Auto zu fahren, ist ein »Opfer«. Aber nicht ein düsteres, heidnisches Opfer, bei dem etwas aufgegeben wird (Iphigenie), um etwas anderes zu erlangen (den Sieg über Troja), sondern es ist ein heiteres Opfer zum Ruhm des ganz Anderen. Auf diese Weise ist es mir gelungen, Abraham und Isaak jüdisch und nicht mit den Augen Kierkegaards zu sehen. Und so ist es mir auch gelungen, den Nicht-Zionismus Romys zu verstehen: eine nichtrituelle Gesellschaft wie Israel ist sinnlos, eben weil sie nach sinnvollen Regeln geordnet ist, und dabei nützt es gar nichts, daß Israel den Riten an gewissen Stellen »Platz macht«. Entweder nämlich ist das ganze Leben rituell (also durch Sinn geheiligt), oder es ist profan, und dann ist es geradezu Hohn, Ritual in ein solches Leben zu injizieren. Romy lebte ein feierliches Leben: er war Jude.
Dies wurde mir dank Romy klar, und nicht dank der anderen orthodoxen Juden, die ich kannte, weil Romy mein Freund war. Romy konnte mein Freund nur sein, weil er, wie ich, ganz in westlichen Werten lebte. Es war westliche Kunst, westliche Philosophie, westliche Wissenschaft, über die wir gemeinsam nachdachten und in der wir gemeinsam zu handeln versuchten. Romy war Engländer, und ich war, in diesem Sinn, »Deutscher«, und beide waren wir für Brasilien engagiert, obwohl jeder auf seine Weise. Die übrigen orthodoxen Juden, die ich kannte, standen am Rand meiner Welt, sie waren für mich exotisch, weil sie nicht in vollem Sinn Okzidentale waren. Auch das ist ein Aspekt des Geheimnisses an Romy: daß er ganz Jude und dabei ganz okzidental war. Gerade darin aber lag für mich die unlösbare Frage: Dank Romy konnte ich zwar das Judentum zum ersten Mal verstehen und erleben, aber ich konnte es nicht für mich akzeptieren. Ich konnte nämlich nicht umhin, das Ritual ständig zu interpretieren, zum Beispiel als »geste gratuit«, als absurde Handlung, weil ich nie aus dem philosophischen Denken herausspringen konnte, und das Judentum ist antiphilosophisch. Ich war nicht fähig, mein griechisches Erbe zu amputieren. So konnte ich das Judentum zwar bewundern und ihm mit einer Art Heimweh nachtrauern, aber einen Sinn für mein Leben konnte und kann es mir trotz Romy nicht geben. Ich habe Romy zwar verstanden (und vielleicht beneidet), aber ich habe mich nicht in ihm erkannt und konnte ihm nicht folgen.
Der zweite Aspekt des Judentums, den Romy mir vorlebte, war die Ehrfurcht vor dem anderen. Zu Anfang meiner Freundschaft zu ihm erschien mir sein Benehmen befremdlich, denn er war für meine Begriffe viel zu höflich, geradezu überschwenglich in seinem übertriebenem Lob für alle anderen. Das stieß mich ab, denn ich konnte nicht glauben, daß es ehrlich gemeint war. Später begann ich diese Einstellung zu begreifen, und noch später, während einer Talmud-Diskussion mit Romy, fand ich die Zusammenhänge. Es gibt für das Judentum, so legte er den Talmud aus, nur eine einzige nie wiedergutzumachende Sünde: die Beleidigung des anderen. Alle anderen Sünden lassen sich kompensieren, diese aber nie, denn sie trifft das irrekuperable Wesen des anderen. Und der andere ist die einzige Art, wie ich Gott konkret erlebe. Gott ist im anderen. Wenn ich den anderen beleidige, habe ich Gott beleidigt. Und wenn ich den anderen ehre, so ist das Gottesdienst, und zwar der einzige Gottesdienst, der nicht in Heidentum mündet. Ob ich an Gott glaube oder nicht, ist vollkommen gleichgültig, und wie ich an ihn glaube, ist womöglich noch gleichgültiger: Ich diene ihm, wenn ich den anderen ehre. »Liebe Deinen Gott über alle Dinge«, dieses oberste Gebot des Judentums ist synonym mit »Liebe deinen Nächsten«.
Das alles war für mich überzeugend, solange es theoretisch gesagt blieb. Aber es begann mich abzustoßen, sobald es in die Praxis übertragen wurde. Denn was bedeutet »beleidigen«, wenn nicht »herabsetzen vor den anderen«? Es handelt sich dabei immer um die Maske (die »persona«) des anderen. Es sieht im anderen nur die Person, nicht, was hinter ihr vielschichtig sich aufbaut. Also ist die jüdische Praxis eine Gesellschaftspraxis, und das Judentum ist ja nichts als Praxis. Dieses Soziale aber kam mir unreligiös vor. Das Christentum erlebt Gott vor allem in der Einsamkeit, als das große Du, vor dem ich allein bin. Das ist mein Gotteserlebnis. Für das Judentum ist Gott im anderen. Das war nicht mein Gotteserlebnis. Ich weiß zwar, daß ich dadurch im jüdischen Sinn von Gott abgefallen bin, und ich habe ein Gewissen, welches dies deutlich ausspricht. Dies Gewissen sagt mir, daß alles außer Engagement am anderen (dem politischen Engagement im jüdischen Sinn) reine Hypokrisie ist. Und doch kann ich das einsame Erlebnis als wahres religiöses Erlebnis nicht leugnen. Ich bin im Wesen nicht jüdisch.
Bei alldem ist mir klar, wie eng das Judentum und das Christentum verbunden sind und wie sie ineinander-fließen. Ich weiß, daß es auch im Judentum eine innige Frömmigkeit gibt und daß auch dem Christentum das politische Engagement als Gottesdienst nicht fremd ist. Aber es besteht ein Unterschied im Akzent, und dieser Unterschied ist entscheidend. Dies hat mir Romy talmudistisch erklärt, und er hat es mir vorgelebt, doch ich konnte die jüdische Variante des Judenchristentums nicht akzeptieren. Dies ist vielleicht der tiefste Grund, warum ich mein Engagement an Brasilien unterbrechen mußte: weil