Vilém Flusser

Jude sein


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Grammatik.)

      Von der Küche aus gingen wir in den Garten, der auf die Balkone der anderen bürgerlichen Gebäude in der Nachbarschaft blickte. Diese Balkone wurden »pavlače« genannt, und Teppiche hingen zum Reinigen von ihnen herab. Doch das interessierte uns nicht. Wir starrten von der Brücke in den Hof, wo die Arbeiter meines Großvaters (ungefähr 15 an der Zahl) gerade Fußball spielten oder ihre Würste aßen und Bier dazu tranken. Im Hof gab es einen enorm großen Bernhardiner, der natürlich auf den Namen »Barry« hörte. Manchmal kam er in den Garten, und wir ritten auf seinem Rücken. Er war sehr gut zu uns Kindern.

      Eines Tages spielte einer der Arbeiter mit ihm, während wir von der Brücke zusahen. Urplötzlich drehte der Hund durch. Er fiel den Arbeiter an und biß sein rechtes Bein oberhalb des Knies ab. Ein Schwall Blut kam aus der Wunde geschossen, der Arbeiter lag am Boden, das Bein steckte noch im Maul des Hundes, und wir Kinder standen auf der Brücke und sahen dem allen zu.

      Ich weiß nicht mehr, was darauf oder später passierte. Ich habe den Arbeiter danach nie mehr wiedergesehen. Sein Name war Anton. Doch ich weiß, was die Brücke für mich bedeutete, nachdem dies passiert war. Sie bedeutete plötzliche Verwandlung von Güte in brutale Aggression. Es geschah, glaube ich, 1926, doch für mich war es auch 1939. Der plötzliche Stimmungswandel nach der Okkupation durch die Nazis. In meinen Augen ist Prag wie der Bernhardinerhund Barry. Der Wandel von Prag überraschte mich nicht, als er kam: In einer Art prophetischer Vision hatte ich ihn bereits von einer Brücke aus gesehen. Hunde mag ich seither nicht, und auch keine Brücken.

      2

      BRIEF AN DR. JOSEPH FRÄNKL

       16. Mai 1976

      LIEBER HERR DOKTOR,

      danke für das mit Ihnen geführte freundschaftliche Gespräch, und, eben von der Reise zurückgekehrt, gebe ich Ihnen, wie vereinbart, ein Resümee meiner Familiengeschichte, so wie sie durch Dichtung und Wahrheit auf mich gekommen ist: