Grammatik.)
Von der Küche aus gingen wir in den Garten, der auf die Balkone der anderen bürgerlichen Gebäude in der Nachbarschaft blickte. Diese Balkone wurden »pavlače« genannt, und Teppiche hingen zum Reinigen von ihnen herab. Doch das interessierte uns nicht. Wir starrten von der Brücke in den Hof, wo die Arbeiter meines Großvaters (ungefähr 15 an der Zahl) gerade Fußball spielten oder ihre Würste aßen und Bier dazu tranken. Im Hof gab es einen enorm großen Bernhardiner, der natürlich auf den Namen »Barry« hörte. Manchmal kam er in den Garten, und wir ritten auf seinem Rücken. Er war sehr gut zu uns Kindern.
Eines Tages spielte einer der Arbeiter mit ihm, während wir von der Brücke zusahen. Urplötzlich drehte der Hund durch. Er fiel den Arbeiter an und biß sein rechtes Bein oberhalb des Knies ab. Ein Schwall Blut kam aus der Wunde geschossen, der Arbeiter lag am Boden, das Bein steckte noch im Maul des Hundes, und wir Kinder standen auf der Brücke und sahen dem allen zu.
Ich weiß nicht mehr, was darauf oder später passierte. Ich habe den Arbeiter danach nie mehr wiedergesehen. Sein Name war Anton. Doch ich weiß, was die Brücke für mich bedeutete, nachdem dies passiert war. Sie bedeutete plötzliche Verwandlung von Güte in brutale Aggression. Es geschah, glaube ich, 1926, doch für mich war es auch 1939. Der plötzliche Stimmungswandel nach der Okkupation durch die Nazis. In meinen Augen ist Prag wie der Bernhardinerhund Barry. Der Wandel von Prag überraschte mich nicht, als er kam: In einer Art prophetischer Vision hatte ich ihn bereits von einer Brücke aus gesehen. Hunde mag ich seither nicht, und auch keine Brücken.
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BRIEF AN DR. JOSEPH FRÄNKL
16. Mai 1976
LIEBER HERR DOKTOR,
danke für das mit Ihnen geführte freundschaftliche Gespräch, und, eben von der Reise zurückgekehrt, gebe ich Ihnen, wie vereinbart, ein Resümee meiner Familiengeschichte, so wie sie durch Dichtung und Wahrheit auf mich gekommen ist:
Väterlicherseits stamme ich von einer seit Menschengedenken in Rakovník ansässigen Judenfamilie. In der Judengasse Rakovniks gibt es ein kleines gotisches Haus, das in unserem Familienbesitz war, in dem vor ’39 eine Großtante und ihre beiden unverheirateten Töchter eine Tabaktrafik führten (aus ersichtlichen Gründen genannt »u tři hub«*) und in dem jährliche Zusammenkünfte unserer Familie stattfanden. Die Familie Flusser war mit der anderen Judenfamilie in Rakovník durch ständig gekreuzte Inzucht verschwägert, und angeblich bedeutet »Flusser« den Herauszieher von Kieseln aus Flüssen für Glasfabrikation. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sowohl die Glasers (jene andere Rakovniker Familie) als auch die Flussers auszusterben. Die Glasers degenerierten in Idiotie und Kleinverbrechen, und ich glaube nicht, daß jemand von ihnen den Nazismus erlebt hat. Die Flussers hingegen mündeten in einem einzigen Stammhalter, meinem Großvater Leopold, und, soviel ich weiß, sind alle übrigen Flussers auf der Welt (zum Beispiel in Budapest und New York vor ’39) ganz entfernt von unserem Zweig, und wahrscheinlich in den napoleonischen Kriegen ausgewandert. Mein Großvater Leopold war ein »Aufklärer«, schon vor 1870 marxistischer »Wahlmann«, was ihn aber nicht hinderte, als eine Art noblerer Hausierer mit Kutsche und Kutscher Heiligenbilder in der Hopfengegend zu verkaufen und zugleich das jüdische Brauchtum, wenn auch unorthodox, zu befolgen. Meine Großmutter Regina hatte einen Ausschank, wo sie »jednu za dvě« verkaufte, was, wie ich glaube, slivovice bedeutet. Diese meine Großeltern hatten zwei Söhne, meinen Onkel Karl und meinen um ein Jahr jüngeren Vater Gustav. Sie wurden 1884 und ’85 geboren, und, nach Absolvierung der Rakovniker Realschule, studierten beide, ganz typischerweise für das aufgeklärte Landjudentum, an der Wiener Universität. Mein Onkel wurde Bauingenieur, kam zur Bahn, baute Brücken, wurde etwa 1930 Streckenchef der Strecke Prag – Podmoklí, lebte in Ústí n/L, und man sprach davon, daß er Verkehrsminister werden solle. Er hatte zwei Söhne: Gustav und Otto. Im Krieg wurden er und meine Tante Berta selbstredend verschickt, aber beide überlebten. Sie starben in Israel in den 50er Jahren. Mein Cousin Gustav (jetzt David Flusser) ist Professor für Frühchristentum an der Hebräischen Universität Jerusalem und wurde durch seine Arbeiten über die Rollen des Toten Meeres und seine Jesusbiographie weit bekannt. Mein Cousin Otto lebt in Jerusalem und ist Postbeamter. Beide haben Kinder.
Mein Vater Gustav studierte Mathematik und Physik in Wien, dann in Prag (unter anderem bei Einstein) und selbstredend auch Philosophie (was ja das Fach mit sich bringt). So kam er mit T. G. Masaryk in Verbindung, und war einer jener »Pátečníci«*, welche auf die CSR einen entscheidenden Einfluß ausübten. Er dürfte um das Jahr 1908 promoviert haben und wurde Privatdozent für »politische Arithmetik« (eine Vorstufe der Mengenlehre). Da dies aber wahrscheinlich kein Geld einbrachte und da mein Großvater, der inzwischen sehr wohlhabend geworden war, aber geizig blieb, wenig beisteuerte, unterrichtete mein Vater auch Mathematik an der Deutschen Handelsakademie am Prager Fleischmarkt. Zugleich verfolgte er seine philosophischen Interessen, war von Mach und Avenarius beeinflußt und neigte zum Marxismus. Einige Bücher Masaryks, darunter »Selbstmord«, übersetzte er ins Deutsche. Als der erste Krieg ausbrach, engagierte sich mein Vater, auch unter Einfluß von Beneš und Čapek, an der Revolutionsbewegung. So kam er im Jahr 1918 als sozialdemokratischer Abgeordneter ins Parlament, wo er aber nur bis etwa 1924 blieb. Aus mir unbekannten Gründen (wahrscheinlich mit Antisemitismus verbunden) verließ er dann die aktive Politik. Er widmete sich seiner Wissenschaft (veröffentlichte einige Bücher, die mir unzugänglich sind), war Dozent sowohl an der deutschen als auch der tschechischen Universität und seit etwa 1928 Direktor der Deutschen Handelsakademie (eine Art geldeinbringende Sinecura); aber es gelang ihm, aus dieser Akademie, mittels Anschlusses eines »Abiturientenkurses« (heute würde man Postgraduation sagen), ein wissenschaftliches Institut zu schaffen. Völlig agnostisch, war er doch am Judentum aktiv interessiert, wurde Großpräsident der B’nai B’rith*, leitete verschiedene jüdische Organisationen und ließ zu, daß ich Bar Mizwa machte. Sein Antizionismus war sehr virulent (erst heute verstehe ich seine Gründe dafür), und er lehnte ein im Jahr 1938 erteiltes »Ehrenzertifikat« nach Palästina ab, das mit einem Jerusalemer Lehrstuhl verbunden war und ihm das Leben gerettet hätte. Er wurde am Tag der Besetzung Prags von der Gestapo (darunter zwei seiner Schüler aus der deutschen Universität) verhaftet, nach Folterung freigelassen, dann wieder verhaftet und am 18. Juni 1940 in Buchenwald ermordet. Er hatte ein volles Leben geführt, war geistig immer tätig gewesen, war wohlhabend (einige Häuser brachten Mieten, und seine Schwiegereltern waren reich) und ist innerhalb seiner Überzeugung, also würdig, gestorben. Sichranah lebrachah*.
Im Jahr 1919 heiratete er Melitta Basch, meine Mutter. Diese war viel jünger als er (geboren 30.11.1897 in Prag) und kam aus ganz anderen sozialen Schichten als er. Die Familie Basch sind uralte Juden, wahrscheinlich sephardischen Ursprungs, und ein Ahne war angeblich jener Cordobeser Bassevi, welcher im Jahre 1492 mit den Führern des spanischen Judentums ausgezogen war, um einen Judenstaat zu gründen. Jedenfalls wurde die Familie irgendwann im 19. Jahrhundert geadelt, und ein Baron Basch (Onkel meines Großvaters) war der Leibarzt Maximilians von Mexiko und wurde mit diesem beim Indianeraufstand Juárez hingerichtet. Ein Bruder meines Großvaters war Präsident der Wiener Börse. Mein Großvater selbst, Julius, der laut des Papiers, das Sie mir sandten, am 23.1.1865 geboren wurde, studierte in Deutschland Chemie und arbeitete als Ingenieur bei I. G. Farben. Dort gelang es ihm, ein Verfahren für die Erzeugung von Indanthrenfarben für Lebensmittel auszuarbeiten und zu patentieren. Damit gründete er, zuerst bescheiden, dann in wachsendem Ausmaß, eine Erzeugung in Prag (Julius Basch, Fabrik für Giftfreie Farbstoffe) etwa um 1890, und diese Fabrik war angeblich die einzige ihrer Art in Mitteleuropa. Jedenfalls hatte sie Niederlassungen in vielen Ländern (ich erinnere mich an Japan, Türkei, Holland und Südafrika) und war hochautomatisch (Mischapparate, ein für die erste Hälfte des Jahrhunderts seltener Umstand). Diese Fabrik baute mein Großvater in Dejvice, Bubenečská 5, und vor das Fabrikgebäude baute er ein Bürgerhaus, in dem sowohl meine Mutter als auch meine Schwester