Charles Stephen Dessain

John Henry Newman


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etwas wert waren, sich nur glücklich schätzten, sich von solch einem Mann durch Argumente kreuz und quer treiben zu lassen«.16 Whately seinerseits bezeichnete Newman als den klarsten Denker, den er kannte, und nahm dessen Hilfe beim Verfassen seiner Elements of Logic in Anspruch. Whately war zwar Latitudinarier, aber zugleich ein Antierastianer.17 Durch ihn lernte Newman »die Idee der christlichen Kirche als einer göttlichen Einrichtung und als einer selbstständigen sichtbaren Körperschaft, unabhängig vom Staat und ausgerüstet mit eigenen Rechten, Vorrechten und Machtvollkommenheiten«,18 kennen.

      Bereits im Januar 1822, noch bevor er in den Lehrkörper des Oriel College gewählt worden war, hatte sich Newman entschlossen, sich ordinieren zu lassen. Am 13. Juni 1824 wurde er Diakon und er schrieb in sein Tagebuch:

      »Es ist geschehen. Ich bin dein, o Herr … Zuerst, nach der Handauflegung, erschauerte mein Herz in mir; die Worte ›für immer‹ sind so furchtbar. Es war wohl kein frommes Gefühl, das mich melancholisch stimmte bei dem Gedanken, dass ich alles um Gottes willen aufgeben sollte. Freilich brannte mein Herz dann und wann in mir, besonders als man das Veni Creator Spiritus sang. Ja, Herr, ich bitte nicht so sehr um Trost wie um Heiligung.«19 Am folgenden Tag fügte er einen Satz hinzu, der für sein kommendes Wirken den Schlüssel liefert: »Ich trage Verantwortung für die Seelen bis zum Tag meines Todes.«20 Was immer er unternahm, sollte einen pastoralen Sinn haben.

      Längere Zeit dachte er daran, Missionar zu werden, und kurz nach seiner Ordination zog er wiederholt entsprechende Erkundigungen bei der Church Missionary Society ein. Für die Zwischenzeit übernahm er zunächst die in Oxford jenseits der Magdalen Bridge gelegene ärmliche Pfarrei St Clement’s, für die er sich ordinieren ließ. Dort begann er im Juli 1824 mit seiner Arbeit.

      In dieser Zeit wurde der Einfluss evangelikaler Auffassungen auf Newman immer schwächer und schwand schließlich ganz. Ein anderer Fellow des Oriel College, Edward Hawkins, war zur gleichen Zeit Pfarrer der Universitätskirche St Mary the Virgin. Ihm zeigte Newman seinen ersten Predigtentwurf, den Hawkins jedoch einer scharfen Kritik unterzog, weil Newman die Menschen in zwei streng geschiedene Gruppen unterteilt hatte – danach, ob sie »bekehrt« waren oder nicht. Den zweiten Schritt tat Newman selbst. Er beschränkte sich nicht darauf, am Sonntag zweimal in seiner Kirche zu predigen, sondern begann damit, seine armen Pfarrangehörigen Haus für Haus aufzusuchen. Er hatte gelernt, Realist zu sein und sich stets nach Tatsachen zu richten, und so fand er bald heraus, dass die evangelikale Lehre in der Wirklichkeit versagte. Statt der evangelikalen Auffassung, dass die Kirche nur aus jenen bestehe, die eine Bekehrung erfahren haben, brachte ihn Hawkins dazu, die Lehre von der Wiedergeburt in der Taufe anzunehmen. Von ihm lernte er, dass die Taufe kein leeres Symbol ist, sondern dass alle, die sie empfangen, Glied der Kirche werden, auch wenn sie zu jung sind, um noch eine bleibende Erinnerung an das Geschehen in sich zu tragen. Damit verwarf er ein subjektives Kriterium zugunsten dieses objektiven Merkmals. Durch Hawkins lernte Newman auch, dass die Bibel der Interpretation und Erklärung durch die Tradition bedarf. »Der heilige Text war nie dazu bestimmt gewesen, die Menschen in einer Glaubenslehre zu unterweisen, er sollte sie nur bestätigen. Um die Glaubenslehre kennenzulernen, müssten wir uns an die Formulare der Kirche halten, z. B. an den Katechismus und das Glaubensbekenntnis.«21

      Im Jahr 1825 las Newman Bischof Butlers Analogy of Religion und war tief von den Analogien und Ähnlichkeiten beeindruckt, die Butler zwischen den Werken Gottes, wie sie sich in der Natur zeigen und wie sie durch die Offenbarung bekannt sind, herausarbeitete. Hier stieß er auch auf die Lehre von der sichtbaren Kirche, »die die Wahrheit verkündet und Vorbild für die Heiligkeit ist und zu der die Pflichten äußerer Religionsausübung und der historische Charakter der Offenbarung gehören«.22 Schon in den ersten Jahren in St Clement’s predigte Newman über die »Sichtbarkeit« der Kirche und über ihren »katholischen« und »apostolischen« Charakter, was Samuel Wilberforce, der sich in dieser Zeit eine Predigt Newmans anhörte und wie sein Vater, der bekannte Philanthrop, dem Evangelikalismus anhing, voll Überraschung bemerkte.

      Als Newman Ostern 1826 die Stelle eines Tutors (verantwortlich für wissenschaftliche und für die pastorale Betreuung der Studenten, Anm. d. V.) am Oriel College erhielt, gab er seine Pfarrei auf. Etwa zur gleichen Zeit wurde Richard Hurrell Froude, ein glühender Anhänger der hochkirchlichen Richtung, zum Fellow des Oriel College gewählt. Noch stand Newman mehr oder weniger stark unter evangelikalem Einfluss, wenn auch die liberale Atmosphäre des Oriel College nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. So kam es, dass fast ein Jahr verging, bis die beiden zu engen Freunden geworden waren. Newman hatte jedoch bereits einen anderen Hochkirchler, E. B. Pusey, der 1823 zum Fellow des Oriel College gewählt worden war, kennen- und bewundern gelernt, doch verließ dieser bald Oxford, um in Deutschland seine Studien fortzusetzen, wo er sogar mit dem Liberalismus liebäugelte. Froude war Schüler John Kebles, und diese beiden repräsentierten die alte hochkirchliche Tradition in ihrer edelsten Form, aber auch Keble hatte 1823 das Oriel College verlassen, um seinen Vater in dessen Landpfarrei in Fairford zu unterstützen. So lernte Newman hochkirchliche Auffassungen vor allem durch Hurrell Froude kennen, obwohl sich dieser rühmte, die beste Tat seines Lebens habe darin bestanden, Newman und Keble zum gegenseitigen Verständnis geführt zu haben. Froude war einer der ersten gläubigen Engländer dieses Jahrhunderts, der die römische Kirche wirklich begriff und zu würdigen vermochte. Er konnte nicht glauben, dass Newman wirklich der Meinung war, sie stünde unter dem Einfluss des Antichristen. Für ihn war die kirchliche Tradition und nicht in erster Linie die Bibel das Mittel zur religiösen Unterweisung. Für die Reformatoren hatte er nichts übrig, während die theokratische Kirche des Mittelalters seinem Ideal entsprach. So brachte er Newman allmählich dazu, die Reformation in einem anderen Licht zu sehen und der Kirche von Rom mit Verständnis gegenüberzutreten. Für Froude war die Verpflichtung der Christen zum heiligmäßigen Leben ein hoher Wert. Er war es, der Newman lehrte, die Lehre von der Realpräsenz anzunehmen und die Gottesmutter zu verehren. Schließlich war es Froude zu verdanken, dass Newman die Lehre von der apostolischen Sukzession übernahm, nach der der Kirche und ihren Bischöfen Autorität und Vollmacht aufgrund ihrer geschichtlichen Verbindung mit der Kirche der apostolischen Zeit zukommt. So erreichte Newman die von anglikanischen Theologen des 17. Jahrhunderts entwickelte alte und gläubige hochkirchliche Lehrmeinung durch Froude und Keble, doch waren diese beiden die Vertreter eines nur sehr kleinen Teils der Kirche von England.

      Der natürliche Gegenspieler des Evangelikalismus unter den Anglikanern, der sowohl im intellektuellen als auch im kirchlichen Bereich eine Alternative dazu darstellte, war der religiöse Liberalismus. Am Oriel College war diese Richtung durch Whately, Thomas Arnold und R. R. Hampden eindrucksvoll vertreten. Daneben waren auch die alten verknöcherten Erastianer hochkirchlicher Prägung gegen den Evangelikalismus, doch hatte sich Newman niemals zu ihnen hingezogen gefühlt. Ein Merkmal der weitherzigen Liberalen war es, das Übernatürliche in der Religion herunterzuspielen. Natürliches Gutsein und Anstand reichten in ihren Augen völlig aus, sodass für das Wirken Gottes nur noch wenig Raum blieb. Konsequenterweise behandelten sie die göttliche Gnade und die Sakramente mit Geringschätzung. Zu dieser Art von »Liberalismus« fühlte sich Newman zunächst hingezogen, als sich sein Evangelikalismus verflüchtigte, doch wurde er nach seiner eigenen Meinung schließlich durch die Verehrung, die er für die alten Kirchenväter empfand, davor bewahrt.

      Bereits zur Zeit seiner Bekehrung im Jahr 1816 hatte ihm Mayers ein Exemplar der Kirchengeschichte des Anglikaners Joseph Milner gegeben, und er hatte mit freudigem Interesse die langen Auszüge aus den Werken des hl. Augustinus, des hl. Ambrosius und anderer Kirchenväter gelesen. So war er bereits in jungen Jahren mit der Gedankenwelt der frühen Kirche in Berührung gekommen, sodass er in seiner letzten (1850 gehaltenen) Vorlesung über die »Schwierigkeiten der Anglikaner« (Difficulties of Anglicans) sagen konnte:

      »Nie ist der tiefe und äußerst freudige Eindruck, den seine Skizzen des hl. Ambrosius und des hl. Augustinus bei mir hinterlassen haben, verloren gegangen, ja auch nur geringer geworden. Seit dieser Zeit war der Gedanke an die Kirchenväter für meine Vorstellungswelt, wenn ich das so sagen darf, ein Quell des Entzückens, zu dem ich meine Gedanken immer wieder zurückkehren ließ.«23

      In