wissenden Inbesitznahme der Sache selbst« (S. 761).
Auch bei seiner Darstellung der Rolle der Tradition beruft sich Rahner auf Newman. Er spricht von einer umfassenden Überlieferung als dem bewahrenden und schöpferischen Prinzip des Lebens der christlichen Wirklichkeit und setzt sie gleich mit dem christlichen »Sinn«, »der in der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen lebt«. Rahner zeigt ferner, wie Newmans Lehre von der Bedeutung des Zeugnisses der Laien in Fragen des Glaubens heute aktualisiert und weitergeführt werden müsste.
Man kann sagen, dass die Überwindung des Historismus des 19. Jahrhunderts und die kritische Antwort auf den Existenzialismus des 20. Jahrhunderts im Zeichen Newmans geschehen ist. In Newmans Leben und Lehre steht der deutschen katholischen Theologie die Zusammengehörigkeit der »immanenten Geschichtlichkeit des Menschen« mit »der transzendenten Geschichtlichkeit der von Gott her in die Welt eintretenden Offenbarung« vor Augen.62
Schon mehrere Jahre vor Vollendung dieses monumentalen Werkes Mysterium Salutis erschien 1969/1970 ein Handbuch der katholischen Dogmatik in zwei Bänden von M. Schmaus.63 Dieses Handbuch ist nicht etwa eine Zusammenfassung der oben erwähnten siebenbändigen Dogmatik von Schmaus, sondern, wie das Vorwort sagt, eine »durch die Aussagen und durch den Geist des II. Vatikanischen Konzils geprägte Glaubenslehre«. In seiner Vorbemerkung beruft sich der Autor nicht nur auf das Konzil, sondern ausdrücklich auf die »großen Träger« des Neuen: Augustinus, Bonaventura und Newman sowie auf den »Geist der Ökumenischen Bewegung«. Er charakterisiert als Gegensatz zur »Begriffsoder Wesenstheologie« der Vergangenheit »eine andere Theologie, welche man die realistische nennen kann. Sie fragt zuerst nach dem Tun bzw. nach der Funktion. Sie interpretiert die göttliche Wahrheit erstlich nicht in ihrem Ansichsein, sondern in der Zuordnung auf den Menschen. Natürlich geht sie an der Wahrheitsfrage nicht vorbei. Ihr liegt jedoch am Herzen, deren Sitz im Leben zu erforschen und darzustellen. Diese Theologie hat eine nahe Verwandtschaft mit der Art, in der die Heilige Schrift selbst die göttliche Offenbarung bezeugt.« Diese Theologie, von Newman und vom Konzil geprägt, soll seine neue Dogmatik nun konsequent durchführen.
Noch viele Theologen müssten an dieser Stelle genannt werden, auch von der jüngeren Generation, die sich, bewusst oder unbewusst, auf Newman, den »Kirchenvater der Neuzeit«, stützen.
Ein Beitrag zur Erneuerung der katholischen Theologie auf dieser Linie war der 8. Internationale Newman-Kongress, der im September 1978 in Freiburg im Breisgau stattfand, gipfelnd in einer öffentlichen Vorlesung von H. Fries über »Theologische Methode bei J. H. Newman und Karl Rahner«. Der Kongress stand unter dem Thema »Gewissen – Offenbarung – Kirche«; über das für Newman zentrale Problem des Verhältnisses von Folgerungssinn und Gewissen sprach Johannes Artz.
Durch J. Artz ist das tiefste theologische Werk Newmans, Entwurf einer Zustimmungslehre, 1961 zum ersten Mal in einer gültigen Übersetzung vorgelegt worden im Rahmen der neunbändigen Auswahl der philosophisch-theologischen Hauptwerke Newmans, die ihm ihre Vollendung verdankt, nachdem zum Abschluss von ihm als neunter Band ein umfassendes Newman-Lexikon vorgelegt wurde.64 Hier sind Newmans Urteile und Aussagen zu der ganzen Fülle seiner Fragen und Themen zugleich mit der Darstellung der Entwicklung seiner Auffassungen systematisch gegliedert, sodass »Newmans Denken und Leben in einem organischen und ganzheitlichen Zusammenhang« sowie seine Bedeutung für die Theologie und das Leben der Kirche erfasst werden kann.65
Newman und die ökumenische Öffnung der Kirche
Eine bedeutsame Dimension des Konzils haben wir bisher ausgeklammert: die Erneuerung des Verhältnisses der katholischen Kirche zu den übrigen Kirchen und Kirchengemeinschaften. Auch hier war Newman Wegbereiter und gleichsam »das Gewissen des Konzils«. Es war Papst Paul VI., der schon von Anfang an die Wende, die das Konzil bereits in der ersten Sitzungsperiode gebracht hat, die Weitung und Öffnung des katholischen Kirchenverständnisses als ökumenische Aufgabe gesehen hat. Die Erneuerung der Theologie, die wir soeben aufgezeigt haben, sollte, wie Papst Paul VI. sagte, der »inneren Ökumenizität der Kirche« dienen.66 Als »Konvertit eines neuen Typus« brachte Newman die Werte der anglikanischen Kirche mit in die katholische Kirche ein. Er hat den Glaubensinhalt seiner frühen Predigten, die Dessain so ausführlich darstellt, nie verleugnet. Und so wurde er trotz seiner zuerst oft polemischen Urteile über die Kirche seiner Herkunft zum Wegbereiter der Ökumenischen Bewegung.
Papst Johannes XXIII. hatte das von ihm gegründete »Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen« mit der Wahrung der ökumenischen Dimension der Arbeiten des Konzils beauftragt. Es zeigte sich bald, dass diejenigen Theologen des Sekretariates, die von der Notwendigkeit eines neuen Ansatzes der katholischen Theologie überzeugt waren, auch eine persönliche Beziehung zur Lehre Newmans hatten. Unter ihnen sind besonders zu nennen der anglikanische Newman-Forscher H. F. Davis, G. Thils, J. Hamer und die Deutschen H. Volk, E. Stakemeier, J. Höfer, erst recht der spätere Kardinal J. Willebrands.67 Schon die ersten Entwürfe des Dekretes über den Ökumenismus, erstellt vom »Sekretariat für die Einheit der Christen«, atmen seinen Geist. Grundlegend für das Dekret ist die Unterscheidung zwischen dem Ziel der Ökumenischen Bewegung, das im Vorwort als eine »sichtbare, wahrhaft universale Kirche« der Zukunft charakterisiert wurde68, sowohl von der Frage der »korporativen«69 Wiedervereinigung der getrennten Kirchen wie von der Frage des persönlichen Weges einzelner Konvertiten. Newman hatte erklärt, als man ihm vorwarf, nicht mit großen Zahlen von Konvertiten aufwarten zu können, es sei nicht nur notwendig, Konvertiten »für die Kirche vorzubereiten«, sondern auch (oder zuerst) »die Kirche für die Konvertiten«. Die katholische Kirche müsse zur Selbstkritik und Reform bereit sein.70 Dazu gehörte ebenso für Newman wie für das Konzil die Sorge um die Schaffung eines ökumenischen Klimas zwischen den christlichen Kirchen. Bei Newman findet sich schon das Schuldbekenntnis für die Sünden wider die Einheit auch aufseiten der katholischen Kirche, ähnlich wie es Papst Paul VI. in seiner Eröffnungsansprache zur zweiten Konzilssession 1963 und daraufhin Kardinal Bea und seine Mitarbeiter in den späteren Entwürfen des Ökumenismusdekretes ausgesprochen haben. Auch nach Newman kann die Kirche der Zukunft nur »unter Opfern auf beiden Seiten« zustande kommen, vorbereitet durch den Dialog über die zentralen Fragen von Wort und Sakrament.71
Otto Karrer gibt bei seiner Darstellung der »ökumenischen Haltung Newmans« folgende Gesichtspunkte an72: »Der Geist der Einheit im Großen wirkt im einzelnen Christen«; »Angriffe auf den Anglikanismus kämen dem Unglauben zugute«; »Schärfen sind unangebracht und unchristlich«, ebenso »persönliche Polemik«, stattdessen »brüderlicher Dialog«; »Stellungnahme zum Plan einer Aktion für Wiedervereinigung mit Rom«.
Newman hat nie vergessen, was er der anglikanischen Kirche und den Freunden aus seiner frühen Zeit verdankte, nicht zuletzt sein Verhältnis zum Wort Gottes in der Heiligen Schrift. (Hier war es von großer Bedeutung, dass der spätere Kardinal Hermann Volk im Geiste Newmans bei der neuen Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Tradition im Konzil mitwirkte.)
Newman hatte bei seinem Lebensweg durch die beiden Kirchen, die anglikanische und die katholische, nie das gemeinsame Ziel aus den Augen verloren: die Einheit der Kirche in der Nachfolge Christi und im Gehorsam gegen sein Wort. Er war der Überzeugung, »dass die 300-jährige Spaltung der abendländischen Christenheit nicht ohne Sinn vor Gott sein kann«.73 Besonders an den persönlichen Briefen Newmans zeigt sich, wie sehr er unter der Spaltung der Kirche gelitten hat, und sein Gebet um die Wiedervereinigung war geleitet von der Gewissheit, dass Gott die Sehnsucht nach der Einheit nicht umsonst in die Herzen der Christen gesenkt habe. Der erste und entscheidende Schritt ist für jeden einzelnen das Leben aus dem Evangelium. Zur Zeit Newmans nahmen beide Kirchen, die anglikanische und die katholische, eine »abweisende, sich in sich selbst verschließende Haltung« ein (J. Artz), die den später vom Konzil geforderten Dialog damals noch unmöglich machte. Eine Öffnung der Kirchen zueinander, wie sie im Ökumenismusdekret zum Ausdruck kommt, konnte Newman noch nicht voraussehen; sie entsprach aber durchaus der liebenden Zuwendung Newmans zur Welt, im Ernstnehmen des Gewissens und seinem Sinn für die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Lehre.74