Vorbereitet … (u. a.) von Newman wird diese Bewegung von allen führenden katholischen Denkern getragen und vorangetrieben.«56 Diese Äußerung stammt aus dem Jahr 1957. Fünf Jahre später, vor den Toren des Konzils, warnte Karl Rahner in der Zeitschrift Stimmen der Zeit vor einem solchen »unberechtigten Optimismus«.57 Man dürfe die »Erwartungen an das Konzil« angesichts der verschiedenen Richtungen in der katholischen Theologie nicht zu hoch schrauben, zumal dabei im Dienst des Lehramtes »die Hauptarbeit von denselben Theologen geleistet werden« müsse, die eine »Schultheologie« vertreten, die heute noch in der Schule, auf der Kanzel und in den theologischen Büchern vorherrschend sei. Es fehle weithin an jenem »zugleich streng wissenschaftlichen wie ebenso charismatischen Schwung«, der die Aussagen des Konzils zeitgemäß und überzeugend machen könnte.
Zu Beginn des Konzils zeigt sich denn auch die Spannung zwischen den Schulen der Theologie. Bei der Frage von Schrift und Tradition, die auch Newman sein Leben lang beschäftigt hatte, blieb die »alte Schule« in der Minderheit. Nicht nur die führenden Theologen, sondern auch die Bischöfe waren in ihrer Mehrheit dem Neuen geöffnet, sodass Kardinal Frings nach der Rückkehr von der ersten Konzilssession erklären konnte: »Zu unserem Erstaunen konnten fast alle Bischöfe existenziell denken.« Sie gaben sich nicht mehr damit zufrieden, von allgemeinen Wahrheiten zu reden statt von der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit des heutigen Menschen.
Für das II. Vatikanische Konzil war die Sorge um die Mannigfaltigkeit in der Einheit im weiten Rahmen der Katholizität der Kirche charakteristisch.
Von besonderer Bedeutung für das Konzil waren die Auswirkungen des Werkes Newmans über die Lehrentwicklung. Er hatte dadurch in der katholischen Theologie, wie Artz formuliert, »die Wende zum Positiv-Historischen« und »die Abwendung vom rein Spekulativ-Scholastischen«58 vorbereitet. Hierdurch wurde erst das geschichtliche Verständnis einzelner Dogmen und eine Dogmenhermeneutik möglich. Dem Christentum als einer »Religion von Personen« entsprach eine personalistische, im echten Sinn existenzielle Philosophie.
Ebenso wie beim Konzil spielte der »Glaubenssinn« der Glieder der Kirche im Denken Newmans eine wichtige Rolle. Er war für die Aktivierung der Laien in der Kirche eingetreten und hatte von Papst und Bischöfen nicht weniger als eine Befragung, genauer eine »Konsultierung« der Laien auch bei ihrer Aufgabe der Wahrung des kirchlichen Glaubensgutes, verlangt. Dessain zeigt auf, wie Newman hier schon im Jahr 1859 eine Entscheidung traf, die ihn von vielen damals maßgebenden Männern der Kirche isolierte. Sein Zeitschriftenaufsatz »Über das Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre«, der seit 1940 in zwei deutschen Übersetzungen vorlag, wurde im Original erst unmittelbar vor dem Konzil durch einen Laien, J. Coulson, der englischen Öffentlichkeit wieder vorgelegt, und der Herausgeber bemerkt, dass die Laieninitiative durch Johannes XXIII. eine päpstliche Ermutigung ohnegleichen erhalten habe.
Was in den Schriften und Gesprächen Newmans zunächst als Fragestellung formuliert, oft aber auch als These vertreten wurde, trat beim Konzil zutage, und vieles davon bekam Geltung in der Gesamtkirche. In dem am Schluss dieser Ausführungen wiedergegebenen Rückblick des Papstes Paul VI. auf Newmans Anteil beim Konzil (siehe S. 41) findet sich eine Aufstellung solcher Einzelthemen. Dabei ging es Newman immer um die Kirche als Glaubensgeheimnis und seine Einsichten über Offenbarung, Tradition und Entwicklung der Lehre kamen beim Konzil zur Geltung, das sich die Rückkehr zu den Quellen in der Heiligen Schrift und in der Zeit des frühen Christentums der Väter zur Aufgabe gemacht hatte. Man hat Newman mit Recht den Theologen des »Wortes Gottes im christlichen Leben« genannt (H. F. Davis59), und aus dieser neuen Form der Theologie lebte das Konzil. Ihr entsprach besonders die Begründung des Glaubens aus dem Personalen und aus der Lehre vom Gewissen.
Diese Problematik kam in der nachkonziliaren katholischen Theologie seit 1965 in besonderer Weise zur Geltung, und hierbei berief man sich nicht nur auf die Beschlüsse des Konzils, sondern auch auf Newman als Wegbereiter jener Ideen, die sich jetzt immer mehr durchsetzen. Ihr sei nun der folgende Abschnitt gewidmet, der von dem Wachstum der Erkenntnis im Rahmen der Fundamentaltheologie handelt.
Newman und die nachkonziliare katholische Theologie
Das Resultat des Ringens auf dem Konzil um einen neuen Ansatz der katholischen Dogmatik war, dass praktisch alle katholischen Systematiker ihre Vorlesungen und Lehrbücher neu schreiben mussten. Schon 1965 erschien der erste Band von »Grundriss der heilsgeschichtlichen Dogmatik«, den J. Feiner und M. Löhrer unter dem Titel Mysterium Salutis herausgaben60, eine Gemeinschaftsarbeit von sechzehn führenden Theologen des deutschen Sprachraumes. Das Personenregister des ersten Bandes weist Newman als den meist zitierten Autor nach den Kirchenvätern der alten Zeit aus. Das gilt besonders für die Beiträge von Gottlieb Söhngen und Heinrich Fries, die wir schon als Schüler Newmans kennengelernt haben. Auch Josef Trütsch stellt in seinem dogmengeschichtlichen Beitrag gegen Schluss des Bandes die Bedeutung Kardinal Newmans heraus: Er habe der katholischen Theologie in Frankreich und in Deutschland eine Hilfestellung geleistet, um die Gedankengänge von E. Husserl und Max Scheler sowie der Existenzphilosophie kritisch zu verarbeiten und sich den neuen Fragen um Geschichtlichkeit und Personalismus in ihrer Anwendung auf die Theologie zu stellen (S. 825). Im selben Band schreibt Fries unter dem Thema »Die Offenbarung, Gottes Handeln und Wort in der Heilsgeschichte« ganz im Sinne Newmans über die Bedeutung der Wiedergeburt des Personalen in der Theologie. In seinem großen Beitrag über das Grundproblem der Theologie, »Weisheit im Geheimnis und Wissenschaft durch Vernunft« (S. 905–980), nennt Söhngen Newman neben Pascal und Nikolaus von Kues einen »großen Künder« der Verborgenheit Gottes. Er hatte nicht zuletzt von Newman gelernt, die ontologische Blickrichtung auf das Seinswesen Gottes (S. 912) durch den Blick auf das göttliche Handeln in der Heilsgeschichte und überhaupt in der Weltgeschichte zu ergänzen. Newmans Aussage über »seine [des Schöpfers] Abwesenheit von seiner eigenen Welt« wird zitiert: »Es ist ein Schweigen, das redet; es ist, wie wenn andere von seinem Werk Besitz ergriffen hätten.« Im Folgenden verwendet Söhngen bei der Behandlung des Problems der Analogie Newmans Unterscheidung von »begrifflich« und »real«. Die Metapher, das Bild hat in der Theologie »notionale Funktion oder Intention auf den Begriff, und der Begriff gewinnt im Verein mit dem Bild realisierende Funktion oder Intention« (S. 933). Ebenso wendet Söhngen die Unterscheidung Newmans ausdrücklich auf das Zueinander von Dogma und Verkündigung an: »Alles Dogma weist über sich hinaus auf das Kerygma … in welchem es realisiert ist und realisierbar wird« (S. 933). Schließlich, bei seiner Behandlung der Grundgestalten der Theologie als Wissenschaft und Weisheit, kommt Söhngen noch einmal abschließend auf die »geschichtstheologische Gestalt des theologischen Denkens« zu sprechen als eine Aufgabe theologischer Arbeit, die »in Neuland vorstößt und verlorene Inseln wiederentdeckt, damit Offenbarung und Offenbarungswissenschaft in ihrer spekulativen und historischen Fülle und Tiefe leuchte« (S. 976 f.).
Im selben Band behandeln K. Rahner und K. Lehmann die Fragen der Geschichtlichkeit der Vermittlung der göttlichen Offenbarung in Lehre und Dogma der Kirche61 – ein Lebensthema Newmans. Hier stellt Rahner sich die Aufgabe einer »sachgerechten Lösung des Problems der Dogmenentwicklung« und nimmt dabei auf Newmans Lehre Bezug. In der Lehre Newmans sei der Durchbruch zur Betonung des Dynamischen und Geschichtlichen im Offenbarungsgeschehen (S. 756) erfolgt. Bei ihm geschieht die Entfaltung der geoffenbarten Wahrheiten »im Medium des Wortes und an der Sache selbst in einem« (S. 757). Rahner betont (S. 754), dass sich alle künftigen Deutungsversuche der Dogmenentwicklung an den Gedankengängen Newmans orientieren müssten. Die übrigen Lösungsversuche enthalten nach Rahner eine »Verkürzung der Offenbarungswirklichkeit, da bei ihnen die formale Logik überbetont wird und wesentliche theologische Faktoren übergangen werden. Nur wer sich, wie es Newman getan hat, zunächst mit den faktischen und historisch feststellbaren Fällen der Dogmengeschichte befasst, vermag das Problem der tatsächlich geschehenen Dogmenentwicklung als legitime Geschichte eines gleichbleibenden Glaubens zu rechtfertigen.« – »Offenbarung ist kein System von Aussagen, sondern ein Heilsgeschehen und darum eine Mitteilung von ›Wahrheiten‹« (S. 757). Newman hatte noch vor Blondel das Ungenügen einer rein syllogistischen Operation zur Erklärung der Dogmenentwicklung aufgewiesen (S. 760). Wie bei Rahner findet sich auch bei Newman das Beispiel von