sondern sie sprechen und plaudern nur mit ihren Beichtkindern und Schülern.«39
Theo Gunkel veröffentlichte 1930 in derselben Zeitschrift eine Betrachtung zu J. H. Newmans Briefen. Hier heißt es: »Es sind Briefe einer entscheidenden und bewegten Zeit; ein großer Teil sind aber auch Briefe der Freundschaft … sie sind ein Stück englischer Kirchengeschichte, die sich spiegelt in einer großen Seele.« Die Eigenart der Stellung des Christen Newman zu Gott und Welt sieht er in dem Miteinander eines »unmittelbaren, dichterischen Mitfühlens mit Menschen und Dingen … in all ihrer Schönheit und Fülle« und zugleich »einer eigenartigen Distanz, sodass es oft ist, als ob Menschen und Dinge durchsichtig würden, dahinter Gott und die Seele als das einzig Wirkliche bestehen blieben«. Für Newmans Vorstellung von der christlichen Vollkommenheit findet Theo Gunkel die Formel »menschliche Heiligkeit«, wie sie auch sein Vorbild, den heiligen Philipp Neri, auszeichnete (S. 566 ff.).40
Damals suchte sich die katholische deutsche Jugend ihre geistlichen Lehrer selbst. Dazu gehörten auch führende Theologen des »Verbandes der Katholischen Akademiker«, der Anliegen der Zeitschrift »Hochland« nach 1918 aufgenommen hatte. Alljährlich wurden Kongresse veranstaltet, bei denen z. B. Abt Ildefons Herwegen, Karl Adam, Romano Guardini als Redner auftraten. Besonders der Kongress in Ulm im Jahr 1923 wurde von großen Scharen von katholischen Studenten geradezu gestürmt, und gerade hier vermittelte Przywara ihnen in seinen Vorträgen eine Begegnung mit Newman. Nach dem Kongress schrieb Przywara an J. Bacchus, den Verwalter des Newman-Archivs in Birmingham, dessen Gedächtnis Dessain sein Buch über Newman gewidmet hat: »Ich war wirklich erstaunt, auf diesem Kongress zu erfahren, wie weit ausgebreitet die philosophische und religiöse Bewegung unter den deutschen Katholiken ist. An einem Abend behandelte ich einzig das Thema Newman, indem ich versuchte, die thomistische Philosophie der Persönlichkeit des Objekts mit Newmans Philosophie der Persönlichkeit und seiner psychologischen Sicht vom Glauben zu kombinieren.«41 Przywara erklärt: »Newmans erkenntnistheoretische Nöte sind auch die unseren, er kennt unsere geschichtliche Situation, und er kennt unser Herz, er hat die Realitätstheorie gefunden, die wir heute erstreben.« Er findet in der »monumentalen Abgeklärtheit des Thomas« verborgene personale Züge, und er sieht in der personalen Philosophie des englischen Kardinals eine Neugeburt der Objektphilosophie des Thomas. Das Programm für ein wahrhaft katholisches, das heißt alles in Gott umspannendes Geistesleben wird in dem ergänzenden Miteinander dieser beiden Namen Thomas und Newman sozusagen personhaft dargestellt. Und so schließt er mit der Formulierung: »Nicht Thomas oder Newman, sondern … Thomas und Newman« (S. 176). In dem zitierten Brief heißt es sogar, dass die Schriften Newmans »für die Gegenwart von ähnlicher Bedeutung sind wie die des heiligen Thomas zu seiner Zeit«, denn die Aufgabe der Synthese zwischen der aristotelischen Philosophie und der vom Platonismus beeinflussten Theologie der Väter sei immer neu zu leisten.
Auch in seinen späteren Werken kommt Przywara immer wieder auf Newman zurück. In seinem Buch »Augustinus, die Gestalt als Gefüge« sagt Przywara, dass der Geist des Augustinus in der Neuzeit allein in Newman »seine Vollauferstehung hat«.42 Newman habe in einem »unerbittlichen Realismus« und im Drang zur »Realisierung« philosophisch und theologisch die durch die Reformation bestimmte Neuzeit überwunden (S. 72).
Newman und die moderne katholische Theologie
In dieser Zeit gab es in Deutschland eine Erneuerung der Theologie, wenigstens bei den Theologen, die die Auseinandersetzung mit den Zeitströmungen nicht scheuten. Nur scheinbar blieb die alte Lehrbuchtheologie im Besitzstand. Im Folgenden sollen einige führende Theologen dieser Zeit zu Wort kommen. Dabei ist es kaum zu vermeiden, dass hier die dem Nichttheologen schwer verständliche Sprache der theologischen Wissenschaft gesprochen wird. Hier wird gleichsam von einer anderen Ebene als in der bisherigen Darstellung die Wende in der Geschichte der Theologie beschrieben, deren »genialer Vorläufer« Newman war. Vielleicht könnten die nächsten Seiten dem nicht theologisch vorgebildeten Leser helfen, die Hintergründe des theologischen Fortschrittes beim II. Vatikanischen Konzil wenigstens zu erahnen. Immer mehr vollzog sich eine »Abkehr von der starken Betonung der apologetischen Funktion der Theologie mit ihren rationalistischen Methoden«. Zugleich mit der Entfaltung der »dem Glauben immanenten Vernuftgemäßheit« wurde die Apologetik als Fundamentaltheologie, das heißt an den Glauben gebundene dogmatische Wissenschaft gefasst. Die Lehre von der Kirche als umfassende Wirklichkeit trat in den Vordergrund. In seiner Darstellung der Geschichte jener Jahre hebt Adolph Kolping auch die Christozentrik der neu gestalteten Theologie hervor sowie die Anfänge eines ökumenischen Denkens.43
Diese Erneuerung kann nicht ohne Newman gedacht werden, wenn man auch nicht sagen kann, dass sie sich seine Theologie schlechthin zum Vorbild genommen hätte. Es wurde aber anerkannt, dass vieles in der Fragestellung und in der Lösung von Newman schon vorweggenommen war. Nur vereinzelt wurde Newman in den Abhandlungen über diese Fragen ein eigener Abschnitt gewidmet. Wie oft begnügte man sich mit der bloßen Feststellung, Newman sei als einer der Vorläufer dieser Lehre zu betrachten! Man berief sich oft auf Newman, ohne eine konkrete Kenntnis seiner wissenschaftlichen Bedeutung zu haben. Man wusste von dem Ernst seines Suchens nach der Wahrheit und von seiner Aufgeschlossenheit für die modernen theologischen Probleme ebenso wie von seiner Treue zur Kirche. Es bedurfte ja noch vieler Spezialstudien, um Newman richtig zu verstehen. Nirgendwo hat er sein theologisches System in einer geordneten Form vorgelegt.
Eine Schwierigkeit für den deutschen Theologen war natürlich auch die Sprachgrenze. Bis zum Zweiten Weltkrieg fehlten die fünf »konstruktiven Bücher« Newmans in der Reihe der Ausgewählten Werke und die Oxforder Universitätspredigten erschienen erst 1936 und 1940.44 Von manchen Übersetzungen dieser Zeit muss man sagen, dass sie das wissenschaftlich-theologische Verständnis Newmans für den deutschen Leser eher blockiert als gefördert haben – was nicht ausschließt, dass etwa die eigenwillige Sprache des Laientheologen Theodor Haecker in seinen Übersetzungen der Hauptwerke Newmans einem offenen Geist ein wahrhaft kongeniales Verständnis der Anliegen Newmans verriet.
Wir sahen: Die Newman-Forscher waren unter den deutschen Theologen schon seit dem Ersten Weltkrieg keine isolierte Gruppe. Die Theologen, die Thomas von Aquin neu verstehen und über ihn hinaus weitergehen wollten, taten das nicht zuletzt im Zeichen Newmans. Die jüdische Konvertitin Edith Stein arbeitete über Thomas von Aquin und übersetzte zugleich Kardinal Newman. An den Theologischen Fakultäten von Bonn und Tübingen konnte man damals Vorlesungen über Newman hören, dessen Werk mit der Tübinger Schule und mit Matthias Joseph Scheeben in Beziehung gesetzt wurde. Die große Dogmatik von Schmaus45, die allerdings erst im Jahr 1958 vollendet wurde, ist das erste Beispiel dafür, dass ein Dogmatiker damit ernst macht, in Newman einen Klassiker der Theologie zu sehen, der so viele heute wichtige Gedanken vorweggenommen hat, dass man immer wieder auf seine Lehre zurückgreifen muss.
In breiter Front wagte sich die Theologie damals aus der bloßen Haltung der Defensive hervor. Es bildete sich ein Strom, in dem zunächst so mancher Theologieprofessor wie ein Felsen Widerstand leistete. Die Dogmatiker konnten nicht mehr bei der Scholastik stehen bleiben, Exegeten sich nicht mehr ängstlich auf die philologische Akribie zurückziehen. Die Theologie ging jetzt daran, sich geschichtlich zu orientieren. Als das geschehen war, blieben eigentlich aus dem 19. Jahrhundert nur drei große Namen übrig, Möhler, Newman und Scheeben – wobei Scheeben am weitesten der von ihm groß gesehenen Tradition verhaftet blieb, dazu, schon ins 20. Jahrhundert übergreifend, H. Schell.
Eine neue Newman-Renaissance sollte erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstehen.
Die Newman-Renaissance
Die zweifache Newman-Renaissance in den 20er-Jahren und seit 1945 kam aus dem Herzen der Reformbewegung, die das katholische Denken schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasst hatte und die durch das II. Vatikanische Konzil für die ganze Kirche fruchtbar geworden ist. Mit W. Lipgens kann man sagen: »In Newman sieht der Katholizismus seine eigene geistige und religiöse Erneuerung seit dem Ersten Weltkrieg vorgebildet.«46 Es gab und gibt keinen anderen Namen