Newman
Für die Auswirkung des religiösen Genius J. H. Newman in unseren Tagen hat wohl kein anderer so viel getan wie Papst Paul VI. Er wusste sich dabei mit seinem Vorgänger, dem unvergesslichen Papst Johannes XXIII., einig, der, wie wir oben erwähnten, in seiner Enzyklika zur Ankündigung des Konzils Newman zum Zeugen für die Freiheit der Diskussion auf dem Konzil anrief. Hier zitiert Papst Johannes eine Vorlesung aus dem Jahr 1850: »Differenzen unter Katholiken sind kein Einwand gegen die Einheit der Kirche«: »Kontroversen dieser Art spalten die Kirche nicht, sie können vielmehr nicht wenig dazu beitragen, dass gerade durch die Konfrontierung verschiedener Meinungen neues Licht gewonnen wird.«75
Für Papst Paul ergab sich während des Konzils eine Gelegenheit, die Bedeutung Newmans zu unterstreichen: Am 27. Oktober 1963 erfolgte die Seligsprechung des Passionistenpaters Dominicus Barberi, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in England gewirkt hatte und dessen Anteil an der Konversion Newmans zur katholischen Kirche C. S. Dessain beschreibt. Papst Paul VI. charakterisiert Newman als Wahrheitssucher unserer Zeit und sagt: »Newman, dessen Leben unter dem Wort stand: ›Ich habe eine Sendung zu erfüllen‹, hat einzig von der Liebe zur Wahrheit und der Treue zu Christus geleitet einen Weg vollendet, der zu den wirkmächtigsten und auch zu den bedeutendsten, charakteristischsten und konsequentesten Wegen gehört, die das menschliche Denken im vergangenen Jahrhundert, ja man kann sagen, in der ganzen modernen Zeit gegangen ist mit dem Ziel, zugleich zur Fülle der Weisheit und des inneren Friedens zu gelangen.«76
Bei einer Audienz für Vertreter der Oratorien des heiligen Philipp Neri aus vielen Ländern eröffnete Papst Paul ihnen seinen Wunsch, den kanonischen Prozess zur Seligsprechung Kardinal Newmans bald beendet zu sehen. 1975 benutzte er das »Jahr der Versöhnung« (»Heiliges Jahr«), um Newman, wie er sagte, »eine besondere Ehrung zu erweisen«. Unter Mitwirkung der »Kongregation für die Glaubenslehre« und unter dem Protektorat des Kurienkardinals Wright wurde im April ein Newman-Kongress in Rom veranstaltet in der Reihe der Internationalen Newman-Kongresse, denen Papst Paul schon zweimal durch Grußadressen seine Sympathie gezeigt hatte (1967 und 1970). Schon in seiner Botschaft von 197077 hatte der Papst erklärt, dass die Stunde Newmans heute gekommen sei, »heute vielleicht noch mehr als in irgendeiner früheren Zeit«. Der Papst sprach auch von der großen ökumenischen Bedeutung der Gestalt und des Werkes Newmans.
Die Ansprache, die Papst Paul VI. 1975 vor den Teilnehmern des von ihm selbst angeregten Newman-Kongresses im Heiligen Jahr hielt, ist von solcher Unmittelbarkeit und theologischer Tiefe, dass sie hier vollständig wiedergegeben werden soll.
Die Ansprache Papst Pauls Vl. vom 25. April 1975
»Mit besonderer Freude haben Wir Ihren Wunsch erfüllt, Sie, die sachverständigen Teilnehmer an dem Akademischen Kardinal-Newman-Symposium, das zurzeit hier in Rom stattfindet, zu dieser Audienz zu empfangen. Wir begrüßen Sie von Herzen und heißen Sie herzlich willkommen.
Ihr Symposium steht in einer Reihe von Newman-Kongressen, die für gewöhnlich in Luxemburg abgehalten werden. Aus Anlass des Heiligen Jahres halten Sie es diesmal in Rom. Sie haben sich dem Studium des großen Kardinals gewidmet und kommen zusammen, um Ihre Kenntnis von Newmans Leben und Denken zu vertiefen, um aus seinem Beispiel und seiner Lehre praktische Schlussfolgerungen zu ziehen und Antworten auf die mannigfaltigen Probleme der Gegenwart zu finden. Das Echo Ihrer beachtlichen Initiative bei den zahlreichen Bewunderern Kardinal Newmans überall in der Welt und die Teilnahme vieler junger Menschen sind unverkennbare Anzeichen der großen Anziehungskraft Newmans und der Bedeutung, die ihm heute zukommt – gerade heute vielleicht noch mehr als in irgendeiner früheren Zeit. Wir heißen diejenigen unter Ihnen, die zum anglikanischen Klerus gehören, besonders herzlich willkommen; durch Ihre Teilnahme an dem Symposium tritt die große ökumenische Bedeutung der Gestalt und des Werkes Newmans besonders zutage.
Heute wird Newman, der überzeugt war, zeit seines Lebens stets gläubig gewesen zu sein, und der von ganzem Herzen dem Licht der Wahrheit die Treue gehalten hat, ein immer heller erstrahlender Leitstern für alle, die auf der Suche nach einer sachgerechten Orientierung und sicheren Führung mitten in der Unsicherheit der modernen Welt sind – einer Welt, die er selbst prophetisch vor Augen sah. Viele Probleme, die er mit Weisheit behandelt hat – obgleich er selbst in seiner Zeit oft missverstanden und falsch interpretiert wurde –, sind Gegenstand der Diskussion und des Studiums der Konzilsväter gewesen, wie zum Beispiel die Frage des Ökumenismus, die Beziehung von Christentum und Welt, die Betonung des Laientums in der Kirche und die Beziehung der Kirche zu den nicht christlichen Religionen.
Nicht nur das II. Vatikanische Konzil, sondern auch die gegenwärtige Zeit kann man in besonderer Weise als Newmans Stunde betrachten, auf die er voll Vertrauen in Gottes Vorsehung seine große Hoffnung und Erwartung setzte: ›Vielleicht wird es einst geschehen, dass mein Name zur Geltung kommt als Rückhalt und Ausgangspunkt für andere, die als meine Gesinnungsgenossen an meiner statt schreiben und publizieren und so die Weitergabe von Ansichten in religiösen und intellektuellen Fragen, die den meinigen kongenial sind, an die kommende Generation ins Werk setzen.‹78 Und gerade im gegenwärtigen Augenblick legt sich das Studium und die Verbreitung der Gedanken Kardinal Newmans in besonders dringlicher und überzeugender Weise nahe.
Jetzt ist nicht Zeit und Ort für eine ins Einzelne gehende Darstellung des ausgedehnten Programms der Aufgaben, die sich Ihnen als den sachverständigen Schülern und Freunden Newmans heute stellen angesichts der Notwendigkeiten des gegenwärtigen Augenblicks. Das Thema Ihres Symposiums ›Newmans Verwirklichung des christlichen Lebens‹ steht ja in naher Beziehung zum zentralen Anliegen des Konzils und des Heiligen Jahres. Im Sinne Newmans ist ›Realisierung‹ des christlichen Ideals nur ein anderer Ausdruck für das beständige Streben nach Erneuerung des Lebens des Einzelnen und der Gemeinschaft im Geist des Evangeliums und in Übereinstimmung mit den berechtigten Forderungen des gegenwärtigen geschichtlichen Augenblicks. Unsere christliche Berufung zu ›realisieren‹, bedeutet in der Schau Newmans, die Wahrheiten unseres Glaubens lebendig zu verwirklichen mit allen praktischen Konsequenzen für den Alltag; es bedeutet, treu in der Nachfolge Christi zu stehen. Und für die gewaltige und schwierige Aufgabe, zu der uns der Heilige Geist mit aller Dringlichkeit aufruft, bringen das Denken und das Beispiel Newmans Licht und Ansporn.
Mögen wir alle uns sein Gebet zu eigen machen: ›Mache mich fähig zu glauben, als ob ich sähe; lass mich dich stets vor Augen haben, als wärest du allzeit leibhaftig und fühlbar gegenwärtig; lass mich immer bleiben in Gemeinschaft mit dir, du, mein verborgener, mein lebendiger Gott.‹79
Es ist Unsere Hoffnung, dass Ihr Symposium über Newmans Leben und Denken fruchtbar wird und einen spezifischen, wertvollen Beitrag zum Heiligen Jahr darstellt, im Dienst einer tief gehenden Erneuerung im Leben der Kirche. Wir begleiten Ihre Arbeit mit Unserem Gebet, indem Wir alles Licht und alle Kraft für Sie vom Herrn erflehen.«
Spontan fuhr der Papst in französischer Sprache fort: »Leider bin ich nicht so sehr Gelehrter, um Ihnen die Geheimnisse dieser Persönlichkeit eröffnen zu können … Aber vielleicht bin ich ebenso wie Sie ein Schüler, der von der Erfahrung dieses Mannes des Glaubens und der menschlichen Weisheit lernen möchte. Und ich wünschte, dass wir alle in seiner Erfahrung, in seinen Leiden und besonders in der Treue, mit der er seine Lebenslinie durchgehalten hat, ebenso den Frieden finden möchten, wie es in seinem Gedicht zum Ausdruck kommt: »Lead, kindly light, Führe du mich, liebes Licht, luce, light …«80
Werner Becker
Bei der Wiedergabe der zahlreichen Zitate im zu übersetzenden Text war es mir eine selbstverständliche Pflicht, die vorliegenden deutschen Ausgaben der Werke Newmans – insbesondere die Ausgewählten Werke und die Gesamtausgabe der Predigten heranzuziehen. Wenn es mir in bestimmten Fällen trotz meines Respekts vor diesen sorgfältigen Übersetzungsleistungen geboten schien, von der bereits vorhandenen deutschen Fassung abzuweichen, habe ich in der Regel auf die entsprechenden Stellen zum Vergleich hingewiesen.
Es ist mir ein Bedürfnis, Herrn Pfarrer Dr. Werner Becker, Leipzig, der mit sachkundigem Rat und bereitwilliger Hilfe