Charles Stephen Dessain

John Henry Newman


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Schicksal meisterte, sondern auch die Inhalte seines Denkens mussten sich immer mehr auswirken, auch auf der Ebene der systematischen Theologie.

      Für die Zeit nach dem Ende des Krieges darf ich vielleicht mit einer persönlichen Erfahrung beginnen. Kurz nach der Entlassung aus der Gefangenschaft stieß ich im Oktober 1945 in Köln auf eine Universitätswoche, die dort zur Feier des hundertjährigen Gedächtnisses von Newmans Konversion veranstaltet wurde. Hier sprachen u. a. Matthias Laros, Robert Grosche, Gottlieb Söhngen und Paul Simon, vereint im selben Geist der Verehrung Newmans und in dem Willen, den Teilnehmern, die sich damals auf den Trümmern der Stadt sammelten, Newman als religiösen Denker und Theologen nahezubringen. Nicht zuletzt auch durch den großen Erfolg der Kölner Tagung ermutigt, entstand in Tübingen der Plan einer Folge von Newman-Studien, von denen 1948 der erste Band erscheinen konnte.47 Damals wurde auch ein Newman-Kuratorium aus gleich gesinnten Theologen gegründet in der Absicht, »die Kräfte zu sammeln, die sich um die Erschließung des theologischen Werkes Newmans bemühen und die Verpflichtung verspüren, sein Vermächtnis in unseren Tagen einzulösen«. Die beiden Herausgeber sagten damals im Vorwort des ersten Bandes: »Wir haben nicht nur ein historisches Interesse, sondern eine wissenschaftlich-theologische wie geistig-religiöse Zielsetzung.«

      Auch der Dichter Reinhold Schneider trat dem Newman-Kuratorium bei. Er, der durch seine Sonette ein Führer im Kampf gegen den Faschismus gewesen war, schrieb 1945 ein Lebensbild Newmans48 und rief die Generation der Heimkehrer zu einem neuen Anfang auf.

      Im ersten Band der Newman-Studien schrieb H. Fries programmatisch über »Newmans Bedeutung für die Theologie«.49 Nicht das theologische System mit seiner Begrifflichkeit, sondern die Wirklichkeit des konkreten Menschen und die Wirklichkeit des lebendigen Gottes ist die Welt Newman’schen Denkens (S. 181). Der Zusammenbruch hatte uns so sehr auf unsere menschliche und christliche Existenz zurückgeworfen, dass für uns Theologie in keiner Weise ein Selbstzweck sein konnte. Die neu aufzubauende Theologie in Deutschland musste im Dienst der Wirklichkeit stehen, im Dienst der Offenbarung Gottes und des Glaubens. Newman war für uns der Lehrer einer kerygmatischen Theologie.50 Newman hatte ja wie Thomas von Aquin versucht, geistige Bewegungen und Intentionen seiner Zeit aufzufangen und in eine lebendige Beziehung zum Wort Gottes und zum christlichen Leben zu bringen.

      Newmans Glaubensbegriff ist für Fries eine wahre Befreiung und Erlösung gegenüber einer rationalistischen Apologetik und zugleich einer falschen Gnosis, die das Denken aufhebt (S. 187). Durch Newmans Glaubensbegründung vom personalen Gewissen her wird der Glaubensbegriff erhellt und lebendig gemacht. »Was Newman in der Frage nach dem Verhältnis von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion und der Begründung der Offenbarung zu sagen hat … ist für die Verlebendigung der Fundamentaltheologie vom menschlichen Dasein her von großer Bedeutung.«

      So fordert Fries auch, dass die Theologie Newman nachfolgt, wenn sie den Charakter von Offenbarung als geschichtlicher Größe zu erheben sucht und den Gesetzen und der Struktur dieses Geschehens als einer geschichtlichen Entwicklung nachgeht. Sodann wird von Fries Newmans realistische Sicht der Kirche behandelt. Newman sieht ja die Einheit der Kirche nicht als Uniformität, sondern als Einheit in Mannigfaltigkeit ihrer Ämter und Funktionen, und zwar so, dass auch der Glaubenssinn des christlichen Volkes seine grundlegende Bedeutung erhält (S. 197). Fries sagt: »Auch gegenüber der unfehlbaren Lehrautorität der Kirche und des Papstes bleibt bei Newman die Autorität des Gewissens gewahrt.« Sein Kirchenbild sei das Bild von der pilgernden Kirche.

      Inzwischen hatte Otto Karrer unter dem Titel »Kardinal Newman. Die Kirche« eine neue Newman-Synthese vorgelegt, aus der die deutschen Theologen Newman besser kennenlernen konnten als bisher.51

      Unser Interesse gilt der Beantwortung der Frage, was von diesem Programm der 40er-Jahre in der heutigen deutschen Theologie durchgeführt worden ist.

      Ausführlicher wollen wir einen der bedeutendsten Fundamentaltheologen in Deutschland behandeln, Gottlieb Söhngen. Wir begegnen seinem Namen unter den Einberufern des Newman-Kongresses von 1945. Sein Vortrag in Köln hatte hohen theologischen Rang und seine Gedanken zum Verständnis Newmans wurden dann alsbald in einer Broschüre, Kardinal Newman. Sein Gottesgedanke und seine Denkergestalt, veröffentlicht.52 Söhngen will in seiner Schrift die eigentümliche theologische Sehweise und Denkweise herausstellen, »die in Newmans Gottesbegriff und Glaubensgewissheit am Werke ist«. Er sieht Newman in der Linie der platonischen Denkart, in der Linie Augustinus’, Bonaventuras, Möhlers (S. 17, 63). Die Stimme Gottes im Gewissen ist der Ausgangspunkt, und zugleich öffnet sich das Problem Verborgenheit Gottes in der Welt. Auch wenn Newman (ebenso wie Augustinus) »das Herz in die schreibende Hand tritt«, bleibt er Theologe. Sein bedeutendes Anliegen ist die »Vereinigung … von Religion und Theologie zu einer Theologie der Erfahrung: eine Theologie der ›Realisierung‹ (realising), d. h. der Einbildlichung der religiösen Wirklichkeit durch die lebens- und wirklichkeitsvolle Erfassung und Vergewisserung des Glaubensgehaltes« (S. 40). Nur ein Philosoph und Theologe, der von dem Genius Newmans berührt war, konnte, wie man von Söhngen gesagt hat, die Fundamentaltheologie in Deutschland wieder zu neuem Ansehen bringen. Wie Newman trug er »den Ernst philosophischen Fragens ins theologische Gespräch« (S. 9).

      Im Jahr 1952 erschienen gesammelte Aufsätze Söhngens unter der Überschrift »Die Einheit in der Theologie«. Es ging dabei um die »Einheit von natürlicher und übernatürlicher, historischer und systematischer Theologie christlicher und humaner Existenz«. Hier wird unter Berufung auf Newman auch der Begriff der Voraussetzung entwickelt und klar zwischen den innerwissenschaftlichen und den weltanschaulichen Voraussetzungen unterschieden. Zehn Jahre später bezeugen die Herausgeber der Festgabe zum 70. Geburtstag Söhngens53, dass Söhngen die Fragen und Antworten Newmans für die anstehende Problematik des Geschichtlich-Konkreten und Personalen erschlossen und fruchtbar gemacht habe (S. 8). Das Erscheinungsjahr dieses Buches ist zugleich das Jahr der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils durch Papst Johannes XXIII.

       Newman und das Konzil

      Kann man sagen, dass das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) »die Stunde Newmans« gewesen war, die er hundert Jahre vorher vorausgesehen hatte? Ist es zu viel gesagt, wenn der englische Bischof Butler unter den Eindrücken der Verhandlungen des Konzils nach seiner Rückkehr nach London äußerte: »Der Geist Newmans brütete über dem Konzil«? (Jedenfalls ist das sicher eine gewagte Anspielung!)

      Das Konzil brachte in der katholischen Kirche einen ganz neuen Anstoß für die theologische Reflexion über ihr Wesen und ihre Sendung und eine neue Zuwendung zur Welt. Wir sahen, dass die theologische Situation in der Mitte unseres Jahrhunderts von Newman erheblich mitgeprägt war. Und so war es nicht eigentlich überraschend, dass Papst Johannes XXIII. sich gleich in der Enzyklika, die er zur Einberufung des Konzils schrieb, auf Newman berief.54

      Schon die Tatsache der Einberufung des Konzils war ein Schlag gegen den übertriebenen Zentralismus in der katholischen Kirche. Schon 1863 hatte Newman der Entwicklung in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Geist des Jahrtausends in der Geschichte der Christenheit gegenübergestellt: »Damals war der Heilige Stuhl nur ein Gerichtshof letzter Instanz.« Dagegen gäbe es gegenwärtig in der Kirche, wie er sagt, »keine Freiheit der Meinung mehr, das heißt aber, keine eigentliche Betätigung des Intellekts. Das System erhält sich ja nur aus der Tradition des Intellekts früherer Zeiten.« Newman verlangte »eine wirkliche Begegnung der Kirche und der Theologie mit der Zeit, die Freiheit der Forschung zu einer wirklichen Begegnung mit der Wahrheit und katholische Weite ohne Ängstlichkeit«.55 Er rechnete mit einer Zukunft, in der das äußere Schicksal der christlichen Religion zum Anlass werden wird, dass »der Bürokratismus aus Rom ausfahren und ein besserer Geist einkehren wird«.

      Zwei Dinge sieht er als notwendig an: mehr Wirklichkeitssinn und Offensein für die Gedankenfreiheit. Zugleich war er überzeugt von der Unfruchtbarkeit einer bloßen »Begriffstheologie«.

      Kurz vor Beginn des Konzils zeigte sich besonders in der französischen und deutschen Theologie die Tendenz einer Öffnung auf dieser Linie, häufig unter Berufung auf Newman. Hans Urs von Balthasar erklärte im Verlauf