Stil seiner Tätigkeit ausbildete. Dessain schildert die Konfliktsituation, die sich aus dieser Zellteilung ergab.
»Newman war mit ganzem Herzen Oratorianer, sein Denken und Empfinden als Oratorianer, seine Tätigkeit als Gründer und Superior« der Gemeinschaft aus Priestern und Laien in Birmingham »gehören wesentlich zu seiner Gestalt« und sind der Hintergrund seiner gesamten Wirksamkeit.18 1850 entließ Papst Pius IX. die katholische Kirche Englands aus der Obhut der Kongregation für die Missionsländer (Congregatio de Propaganda Fide, kurz Propaganda Fide genannt) und richtete für England eine bischöfliche Hierarchie ein. Von ihr erhielt Newman den Auftrag zur Gründung einer katholischen Universität in Dublin, für die der irische Episkopat die Verantwortung übernahm (1852–1858). Dessain schildert, durch welche Umstände diese Aufgabe in seinem Leben eine Episode blieb, und ebenso das Scheitern anderer Pläne dieser Zeit, darunter die Übersetzung der Bibel in modernes Englisch und seine Weihe zum Bischof. Wiederholt wurde Newman in Rom denunziert, ohne dass er sich verteidigen konnte, besonders nachdem er als Herausgeber einer Zeitschrift (The Rambler) für das Recht der Laien eintrat, auch in Fragen der kirchlichen Lehre »konsultiert« zu werden.
Hatte Newman früher als Anglikaner seine ernsten Bedenken gegen das humanistische Bildungsideal des Liberalismus angemeldet, so kämpfte er jetzt für das Recht der »zweckfreien Bildung« (liberal education) und damit eines damals zeitgemäßen christlichen Humanismus. Für seine Universität hatte er »eine freie Wissenschaft unter dem Dach der Theologie« gefordert. Sein Verhältnis zu H. E. Manning, der zehn Jahre nach seiner Konversion Erzbischof von Westminster (London) geworden war, wurde immer angespannter. Die Jahre 1858 bis 1864 sind für ihn eine Zeit der Frustration und Resignation, die er einmal so begründet: »Weil Hannibals Elefanten nicht lernen konnten, auf der Stelle zu treten.«19
Erst 1864 ging er mit seiner Autobiografie wieder an die Öffentlichkeit, weil von anglikanischer Seite die innere Wahrhaftigkeit seiner Konversion zugleich mit der Wahrheitsliebe des katholischen Klerus überhaupt in einem Zeitschriftenartikel in Zweifel gezogen worden war. Durch die rückhaltlose Offenlegung seiner Motive, die ihn zuerst zur Oxford-Bewegung und dann zur katholischen Kirche geführt hatten, gewann er die Sympathie der englischen Öffentlichkeit zurück. Die Katholiken waren stolz auf ihn, aber in seinem Verhältnis zu den kirchlichen Behörden blieb er, wie er sagt, »unter der Wolke«.
Ein neuer Konflikt entstand für Newman zur Zeit der Vorbereitung und Durchführung des I. Vatikanischen Konzils (1869–1870). Eine offizielle Teilnahme daran hatte Newman mit der Bemerkung abgelehnt: »Ich bin kein Theologe.«20 Die sehr differenzierte Stellungnahme Newmans zum Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes wird von Dessain ausführlich dargestellt. Mit diesem Zeitpunkt beginnt ein besonders aktueller Teil des Buches von Dessain. Die Kirche drohte nach der Meinung Newmans im Zusammenhang mit den restaurativen Tendenzen des 19. Jahrhunderts unter die Herrschaft einer »fanatischen Partei« zu kommen. In einem erst kürzlich veröffentlichten Brief von 1867 schreibt Newman sogar: »Erzbischof Manning und ich gehören zwei verschiedenen Religionen an.«21
Newman ließ sich jedoch in seiner Treue zur Kirche nicht beirren. 1868 wurde mit seiner Zustimmung eine Neuausgabe seiner Predigten aus der anglikanischen Zeit veranstaltet, die noch stärker biblisch orientiert waren als die späteren katholischen Predigten. Dadurch trat die Einheit von Leben und Werk immer deutlicher hervor.
Als fast 70-Jähriger schrieb er sein größtes Werk über die Glaubensbegründung, er nannte es Entwurf einer Zustimmungslehre. Hier setzte er das personale Denken dem bloßen Denken in Begriffen entgegen, dem nach seiner Meinung die herrschende Neuscholastik verfallen war, und dem Glaubensbegriff dieser Schule (Glaube als Fürwahrhalten von Sätzen) den lebendigen, personalen Glauben. Das Buch war eine Antwort auf die Glaubensschwierigkeiten seiner Freunde, denen er sich jahrzehntelang in vielen Briefen und Gesprächen gestellt hatte. Zugleich sollte es aber auch eine verantwortliche und stichhaltige Begründung des Glaubens für die einfachen Menschen bieten, die nicht auf eine intellektuelle Auseinandersetzung vorbereitet waren.
Inzwischen war das I. Vatikanische Konzil zu Ende gegangen, und es gab wie bei jedem Konzil große Schwierigkeiten seiner Durchführung und Rezeption sowohl bei den Theologen wie in den Gemeinden. Wenn Papst Pius IX. auch viel weniger erreicht hatte, als er wollte, so war doch die Stellung des Papsttums dadurch gestärkt worden.22 Politiker sahen die Untertanentreue der Katholiken durch die Definition der Unfehlbarkeit des Papstes gefährdet. In Deutschland wurde das Konzil von Bismarck zum Anlass eines »Kulturkampfes« gegen die Katholiken genommen, und in England trat Ministerpräsident Gladstone in Reden und Broschüren gegen das Konzil auf, das ihm nur in der einseitigen Interpretation Kardinal Mannings bekannt war. Newman war inzwischen 74 Jahre alt und er hatte nicht gedacht, dass noch einmal ein Ruf von außen ihn zur Feder greifen lassen würde. Nun entstand 1875 eines seiner bedeutendsten polemischen Werke in der Form eines »Briefes an den Herzog von Norfolk«.23 Sein Thema war die Lehre vom Gewissen als Grundprinzip der Religion, näherhin von der Gewissensfreiheit des Katholiken auch gegenüber dem Papst, nicht ohne Einordnung in das Ganze, wie Dessain ausführt, aber jedenfalls in dem Sinn, dass die Katholiken nicht »Sklaven sind in geistiger und moralischer Beziehung«, wie man ihnen vorwarf.24 Nicht zuerst der Papst, sondern das Gewissen ist, wie Newman sagt, der ursprüngliche Stellvertreter Christi.
Newman blieb auch im Alter in Kontakt mit seinen vielen Korrespondenten. Die große Neuausgabe seines gesamten Werkes machte stetige Fortschritte, sodass die Einheit seiner anglikanischen und seiner katholischen Lebenszeit jedem Zweifel enthoben war. Die Jahre 1878 und 1879 brachten zwei unerwartete Höhepunkte seiner äußeren Geltung, eine Anerkennung für ihn durch seine Universität Oxford durch die Ernennung zum Ehrenmitglied des Trinity College in Oxford und durch seine Erhebung zum Kardinal. Er reiste nach Rom und erreichte, dass er ausnahmsweise in seinem Oratorium in Birmingham wohnen bleiben konnte. Seine Kräfte waren aber so erschöpft, dass ein Arzt ihn auf der beschwerlichen Reise begleiten musste.
Ein Jahrzehnt stand ihm noch als letzte Lebenszeit bevor. In dieser Zeit füllte sich die Zahl des auf fünf Priester zusammengeschmolzenen Oratoriums wieder auf und die damals eingetretenen Novizen bestimmten das Bild des Oratoriums von Birmingham noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Newman blieb bis an sein Lebensende Praepositus des Oratoriums.25 1890 ging sein Leben zu Ende, und es begann die Epoche einer für viele unerwartet großen Nachwirkung.
Zur Wirkungsgeschichte Newmans
Es gibt eine Äußerung Newmans, die fast prophetisch zu nennen ist, dass ein neuer Papst oder ein neues Konzil seine Ideen wieder zur Geltung bringen werde. Ein Stück Verwirklichung dieser Voraussage wurde ihm schon zu Lebzeiten geschenkt: Leo XIII., der Nachfolger von Papst Pius IX., erhob den einfachen Priester und Vorsteher einer zahlenmäßig unbedeutenden Priestergemeinschaft, des Oratoriums, zum Kardinal. Der Antrag bei Papst Leo XIII. ging von englischen Laien aus. Der Papst gab seiner ersten Kardinalserhebung programmatischen Charakter: Was sein Vorgänger versäumt hatte, wollte der neue Papst nachholen, um, wie er sagte, »die Kirche zu ehren«. Damit war, wie Newman sagte, »die Wolke von ihm genommen«, die Wolke des Misstrauens vonseiten maßgebender Katholiken, die über seiner katholischen Zeit gehangen hatte. Nach seinem Tode musste selbst Kardinal Manning zugeben, dass er der »größte Glaubenszeuge« seiner Zeit gewesen war.26
Ein Rückschlag dieser weltweiten Anerkennung, die sich über sein Todesjahr hinaus auswirkte, geschah zu Beginn des neuen Jahrhunderts, zur Zeit des Kampfes gegen den »Modernismus« in der katholischen Theologie. Manche meinten, Newman habe niemals so recht katholisch denken gelernt.27 Nicht nur seine Freunde, sondern auch Papst Pius X. verteidigten seine Rechtgläubigkeit, und 1907 kam die erste bedeutende Newman-Biografie zustande, verfasst von Henri Bremond, mit dem Untertitel »Versuch einer psychologischen Biografie«. 1912 erschien die »klassische« Newman-Biografie von Wilfrid Ward in England.
In Deutschland war Kardinal Newman damals durch Übersetzungen vieler seiner Werke (seit 1845), die auch in den Pfarrbüchereien einen Ehrenplatz hatten, kein Unbekannter. Die 1903 gegründete katholische Reformzeitschrift Hochland nahm sich seiner