Hanspeter Born

Politiker wider Willen


Скачать книгу

glücklich, ans Meer träumen zu gehen, begleitet von einem Kerl mit feinem Schurrbart.

      Zu Beginn ihrer Ferien hat Tillon stundenlang auf einem einsamen Felsen gesessen und dem abwesenden Marcel lange Briefe geschrieben. Und jetzt? Marcel, bitter:

      Aus den Stunden sind Minuten geworden, wenn nicht Massagen auch noch diese ausfüllen.

      Und dann gefällt sich Tillon gar noch darin, ihn dies wissen zu lassen! Der Philosoph Schleiermacher wusste es: «Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.» Der einsame Marcel spintisiert weiter:

      So habe ich mich denn schon gefragt, ob es nicht gut wäre, meinem «Papa» Déverin dort unten in Monaco zu telegrafieren, ob er nicht sein Lycée ein paar Tage verlassen könnte und sich auf eine Ermittlung nach Sanary zu begeben!

      Und was, wenn der Rapport ungünstig ausfiele? Welch «bramarbasierender und fuchsteufelswilder Marcelin» würde Tillon eines schönen Tages am Strand auftauchen sehen! Meint Pilet es ernst oder macht Pilet sich über sich selbst lustig? Beides vermutlich. Eifersüchtig ist er jedenfalls und die Angst, die Verlobte zu verlieren, kehrt periodisch zurück. Wie so oft in seinem Leben – und ganz besonders später in der Politik – holt er sich Rat bei dem Dichter, der gleichzeitig sein Lieblingsphilosoph ist, Jean de La Fontaine. Die Milchfrau seiner Fabel, die ebenfalls Luftschlösser gebaut hat, verliert schliesslich alles. La Fontaines Moral von der Geschichte:

      Ein Zufall wirkt, dass ich mich auf mich selbst besinne, und siehe da: Ich bin das Hänschen wie vordem.

      Pilet fühlt sich als gros Jean comme devant, als einer, der alles verloren hat, was ihm wichtig war. Trotzig warnt er die ferne Geliebte, auch er könnte sich «lustige Stunden» machen. Ob Tillon wisse, dass es auch in Leipzig «Lustige» gibt?

      Wenn er ihr mit «bösartig spitzer Zunge» erzählen würde, dass Fräulein Zöbisch, die Tochter seiner Wirtin, ein nettes Kind von achtzehn Jahren, ein frisches Gesicht hat und sich dies gerne sagen lässt? Seit Herr Pilet ihr ein Kompliment über ihre Füsschen gemacht hat, verweilt sie, wenn sie sein Zimmer reinigt, gerne länger, um ihm allerhand Klatsch auszubreiten. Sie gibt zu verstehen, dass am Abend im Mondenschein sich über die Bäume des grossen Parks viel schöner träumen lässt als allein im Bett. Hé, hé, was würde Tillon dazu sagen?

      Marcel hat für seine Tillon noch eine weitere «charmante» Geschichte auf Lager. Für den Wagner-Zyklus hat er ein Abonnement für einen Platz in der Seitenloge. Wenn man früh kommt, kriegt man einen guten Sitzplatz vorne an der Balustrade. Pilet ist natürlich immer früh, ebenso eine junge Dame, die sich jeweils neben ihn setzt. Eines Abends ist die Dame verspätet und ihr bleibt nur der Platz in der hinteren Ecke, wo man nichts sieht, es sei denn, man stehe. «Vor der Nase der erstaunten Deutschen» bietet Pilet «dieser armen Nachzüglerin» höflich seinen Platz an. In der Pause kommt die elegante, feine Schwarzhaarige im Foyer zu ihm, um sich für seine Liebenswürdigkeit zu bedanken. Man plaudert. An seinem holprigen Deutsch erkennt sie den Ausländer: «Sie sind Franzose, nicht wahr? Ich habe es sofort aus Ihrer Gestik erraten! Schade, dass ich Ihre Sprache nicht kenne, ich mag die Franzosen so sehr!»

      Pilet erfährt, dass seine einnehmende Nachbarin aus Pommern kommt, in die Musik «vernarrt» ist, am Konservatorium Gesangsstunden nimmt und ihr Leben dem Theater geweiht hat, genau genommen der Oper. Sie ist erst seit einigen Wochen in Leipzig, fühlt sich einsam und ist hocherfreut über die unerwartete Begegnung. Möchte der Franzose nicht eines Abends zu einer Tasse russischen Tees zu ihr kommen? Als Pilet einwendet, sein Deutsch sei mangelhaft und er mache schrecklich viele Fehler, beruhigt sie ihn. Man sei ja dann bloss zu zweit, sie wäre die Einzige, um ihn auszulachen. Man würde es um so lustiger haben.

      Pilet fürchtet – dies zumindest schreibt er dies seiner Tillon –, dass seine Galanterie, zu der er sich verpflichtet fühlte, ihn in eine unangenehme Lage gebracht habe. Er entschuldigt sich bei seiner «kleinen Sängerin» für den Rest des Wagnerzyklus und vertröstet sie auf später. Er werde ihr schreiben, wann er sie «mit seinen Gallizismen und seinen nicht übereinstimmenden Adjektiven werde amüsieren können». Im Übrigen, beruhigt er Tillon, sei er «fest entschlossen», der jungen Dame aus Berlin ein Abschiedsbriefchen zu schicken. Immer von sich als «er» redend schreibt er der Freundin in Savary:

      Doch dann, ma foi, fragt er sich – er, der keine Wellen, keine Fischer, der weder Masseur noch Seemann hat, sondern höchstens eine Freundin, die sich einen Spass macht, ihm eine schelmische Zunge rauszustrecken –, fragt er sich, ob er nicht all dieses mit einigen Tassen dampfenden und duftenden Tassen Tee wettmachen könnte? In seinem Zweifeln gelangt er an Sie, um bei Ihnen Rat zu holen, aber lassen Sie ihn nicht schmachten, ich bitte Sie!

      In seinem nächsten Brief an Tillon kommt er auf den «pommerischen Tee» zurück:

      Nur zum Spass, Freundin, habe ich Sie um Ihren Rat gefragt. Schon seit Langem hatte ich meinen Entschluss gefasst, den Entschluss nicht hinzugehen. Nicht etwa, dass ich Angst hätte, ich könnte etwas Böses tun, nein, nochmals nein; auch nicht aus Angst, dieser fille du Nord Grund zum Leiden zu geben – ist Ihr Freund, Tillon, wirklich so faszinierend? Sie [die Sängerin aus Pommern] ist ja keineswegs von der Sorte, die sich Illusionen macht. Nein, was ich befürchtete, war, dass sie, die keinen Freund fürs Leben will – ihre Neigungen und ihr Beruf hindern sie daran –, dass sie nichts lieber möchte, als nebenbei zahlreiche Freunde zu haben. Und gerne hätte sie in dieser Auswahl auch gerne Französisch genascht. Wenn Sie wüssten, wie locker hier die Sitten sind – es ist zum Erschaudern – und dabei bin ich sonst nicht prüde. Aber genug von diesem Thema, Sie haben begriffen, dass ich nie die Absicht hatte anzunehmen und dass ich sie nie gehabt haben konnte.

      Der Herr, wie mich dünkt, protestiert zu viel.

       14. Berliner Luft

      Pilet hat seinen Deutschlandaufenthalt genau geplant. Mit Ausflügen in andere Städte und historische Orte will er seine Bildung erweitern. Er besucht Jena, Weimar, Eisenach mit der Wartburg. Im Wallpavillon in Dresden besucht der an Naturwissenschaften und Technik interessierte Student die Internationale Hygiene-Ausstellung. Diese von nicht weniger als 5 Millionen besuchte gigantische Schau ist eine Ode an die Medizin und an den menschlichen Fortschritt, der unaufhaltsam scheint. Pilet ist beeindruckt.

      Anfang Juli fährt er für eine Woche nach Berlin. Erster Eindruck: Enttäuschung. Er hatte erwartet, dass diese gigantische, enorme, allmächtige Stadt, dieses «zweite Paris» ihn aufmuntern und packen würde. Nichts dergleichen. Man hat ihm vom lebhaften Treiben auf den Strassen geschwärmt, doch er sieht weniger Verkehr als an einem Sonntag in Genf. Auch die Stadt selbst enttäuscht ihn, das Schloss, der Dom, die grossen Plätze vor dem Schloss und der Siegessäule, die Friedrichstrasse und Unter den Linden, beide weltberühmt. Er besucht die Oper – das Orchester ist «unzweifelhaft weniger gut als in Leipzig» – und kehrt über die Wilhelmstrasse und das Brandenburgertor ins Hotel zurück. Ernüchternd. Alles tot, die Lichter gelöscht, die Strassen halb leer, was in Lausanne auch um Mitternacht selten der Fall ist. «Und das ist die Hauptstadt Preussens!»

      Am zweiten Tag erwartet ihn bei der Agentur «Weltreise» eine «Stadtrundfahrt im Automobil» – in einer Art offenem Car, auf dem vielleicht dreissig Personen auf treppenförmigen Bänken zusammengepfercht sind. Der Reiseführer muss schreien wie ein billiger Jakob, um den Strassenlärm zu übertönen. Auf der Rundfahrt gibt es Dinge, die Pilet gefallen, der grosse Park von Charlottenburg – «fröhlich und einfach» –, das elegante Schloss Friedrichs I. und das Mausoleum Wilhelms I. Im Mausoleum ist ihm egal, dass dort die Kaiser und Kaiserinnen ruhen. Er ist fasziniert vom violett-goldenen, harmonischen Licht, das auf den die Gräber beschützenden Engel fällt. Dort wäre er gerne länger verweilt, doch der Chauffeur drängt zum Aufbruch.

      Den Rest der Woche ist er allein unterwegs, fühlt sich oft einsam. Im Zoologischen Garten langweilt er sich sterblich, gähnt vor den Tigern, die zurückgähnen. Die Kamele, die Giraffen, die «Schweine Europas, Asiens und Afrikas» öden ihn ebenso an wie die schlecht riechenden, vielfarbigen Vögel. Ein einziger einfacher, freier Spatz wiegt sie alle auf. Pilet flüchtet in den Tiergarten, den Volkspark in