Leipziger Himmel den Abendstern, den Tillon und Marcel «unseren Stern» nennen. Ein Stern, der sie durch die Fährnisse des Lebens führen wird. Un guide sûr et confiant, wie er schreibt.
In dunkelster Stunde neunundzwanzig Jahre später, am 25. Juni 1940, wird Bundespräsident Pilet-Golaz dasselbe Bild gebrauchen, wenn er seine Miteidgenossen auffordert, der Regierung als un guide sûr et dévoué zu folgen. Ein amtlicher Übersetzer wird guide – zwar korrekt, aber höchst ungeschickt – mit «Führer» übersetzen.
Marcel und Tillon lieben die Musik. Sie spielt Klavier, er Geige. Beide mittelmässig, wie sie zugeben. Marcel hat spät mit Geigenspiel angefangen und es beim Üben an Fleiss und Ausdauer fehlen lassen. Zudem hat er sich vor zwei Jahren bei einem Sturz vom Ross das Handgelenk gebrochen. Eine dabei entstandene Schwiele stört das heikle Muskel- und Fingerspiel und so weiss Marcel, dass er keine Fortschritte mehr machen wird. Bereits nach einer halben Stunde verweigert das brennende Handgelenk jedes schnelle Spielen und jedes weitere Üben wird zur Qual.
Glücklicherweise gibt es genug leichte Meisterwerke, die Marcel und Tillon dereinst zusammen spielen können, wobei sie fehlende Brillanz durch Herz wettmachen werden. Manch eine wunderbare Arie von Bach, ein Rondo von Mozart oder ein Wiegenlied sind in Marcels Augen mehr wert als viele «schwierige und zu lange» Concertos. Marcel stellt sich vor, wie Freunde das Paar Tillon und Marcel in ihrem künftigen Heim besuchen und mit ihnen musizieren werden: Henry mit seiner «superben» Baritonstimme, Cousin Pierre, der «Lausannes bester Violinist werden wird, wenn er es nicht schon ist», und Louis Déverin, seit Jahren vielleicht Marcels engster Freund, ein Pianist ersten Ranges.
Schon in Lausanne ist Marcel immer ins Konzert gegangen. Auch in Deutschland lässt er sich keine musikalischen Darbietungen entgehen, selbst wenn, wie bei seiner Durchreise durch München, gerade keine Oper oder kein Sinfoniekonzert auf dem Programm steht. Faute de mieux hörte er sich in München les petits concerts in den Wirtschaften an. Das Beste dabei war für ihn «unsere kleine französische Musik und die Wiener Walzer». Er musste leider auch die «Münchner Fantasien» über sich ergehen lassen – «die fantastischsten, vulgärsten, krassesten, grässlichsten, die ich je gehört habe». In diesem Stück wurde die larmoyante Geschichte «eines von einer Oboe umsäuselten verliebten Mädchens» entweder von einem Pistolenschuss oder vorzugsweise vom Pfeifen eines Trams oder dem Trompetenstoss eines Automobils untermalt. Man belehrt Pilet, dies sei die «wahre Musik, modern, realistisch». Sein Verdikt: «Nicht realistisch, nicht modern und nicht wahr. Keine Musik.»
In seinen Leipziger Monaten kommt Pilet hingegen auf seine Rechnung:
Soeben, um zwei Uhr, ging ich, neugierig und unerfahren, in die Kirche St. Thomas, deren früher von Bach dirigierter Chor noch heute jeden Samstag die Motetten ihres ehemaligen Meisters oder von neuen Komponisten vorträgt. Und dort in einer alten hohen Kirche mit einer reichen, aber nicht übertriebenen Verzierung und von Geschmack, der nicht sicherer sein könnte, sang uns, unterstützt von der feierlichen Orgel, ein gemischter Chor aus jungen Burschen und gestandenen Männern – nicht eine Frauenstimme – Bachs «Vergiss mein nicht», übrigens friedlich und glücklich, und «Göttliches Misericordia», eine wahrhafte schöne und tiefe Motette von Durante, einem mir bisher unbekannten Italiener.
Pilet entdeckt Wagner, von dessen Opern er zuvor wie «die meisten Lausanner, die nie aus ihrer kleinen und reizenden Stadt herausgekommen sind», nur die Ouvertüren, Partituren, und Klavierarrangements gekannt hat. Welche Offenbarung, nun alles zu sehen, zu hören, zu erfassen. Zwar lassen ihn bei Wagner gewisse Stellen kalt, aber wenn «es schön ist, ist es schön».
Es ist schön ohne Vorbehalt, ohne Mass, von einer absoluten Schönheit, so dass man lange bleibt, ohne sich zu regen, und sich von diesen Strömen von Pracht, Leidenschaft und Liebe erfüllen lässt.
Pilet hat ein Studentenabonnement für die ersten zehn, in Leipzig komponierten Opern Wagners gekauft und ist beeindruckt von der Qualität der Vorstellungen. Ein Schönheitsfehler in der Aufführung von «Tannhäuser»: Der Heldentenor hat zwar eine volle, einstudierte Stimme, aber seine abgehackte Phrasierung, seine lächerlichen Gesten und sein Zirkusheroismus stören Pilet derart, dass er jedes Mal, wenn Tannhäuser auf der Bühne erscheint, die Augen schliesst, um so die herrliche und tiefe Musik geniessen zu können.
«Der fliegende Holländer» hingegen gefällt ihm ausnehmend, vor allem die Rolle des Holländers, gesungen von «einer der schönsten Stimmen Deutschlands».
Tillon, meine Freundin, beim Versprechen Sentas, ihm bis zum Tod treu zu sein, als er Gott fragt, ob sein Leid wahrhaft ein Ende nehme, habe ich geweint, nicht geschluchzt, geweint … Für den Holländer hat Senta einen Jäger verlassen, «ihren Freund», den sie übrigens nie wahnsinnig geliebt hat … Beim Heimgehen ist mir der Gedanke, dass Sie eines Tages Ihrem «Holländer» begegnen könnten, wie Feuer durch den Kopf gegangen. Heute Abend, wo ich ganz ruhig zur Geliebten spreche, die ganz nahe bei meinem Herzen ist, die Freundin von immer, schreibe ich Ihnen dies lachend. Aber gestern hat mich diese Idee während einiger Minuten grausam leiden lassen – es war verrückt. Und es hat mir das Gefühl gegeben, dass mir dann im Leben nichts, aber auch gar nichts übrig bleiben würde, als mir irgendwo in Afrika den Kopf einschlagen zu lassen!
Manchmal habe man eben solche extravaganten quälenden Ideen, meint Pilet, man wisse nicht, woher sie kämen, ein Nichts könne sie erzeugen. Gott sei Dank verschwänden sie dann noch schneller.
Im Gewandhaus bewundert er das vom berühmten ungarischen Kapellmeister Arthur Nikisch dirigierte Orchester und die dort auftretenden Solisten:
Sie können nicht glauben, wie sehr ich Bach liebe? Oh! Ich sage dies ohne Scham, oft lassen mich einzelne seiner Komposition – er hat unzählige gemacht – kalt und ungerührt. Ich bin zu wenig bewandert in Harmonie und Musikwissenschaft, um bei seinen nach den Regeln des einwandfreien Kontrapunkts geschriebenen Fugen mit ihren gekonnt aufgelösten Akkorden ein grosses Vergnügen zu empfinden. Nein, die überlasse ich dem Herrn Prof. Dr. Aber der ganze Rest, all das Herz, das er in seine Werke legt, alle seine langsamen, fast sinnlich philosophischen Träumereien, alle seine Zweifel, alle seine Gebete, die er mächtig und schmerzhaft singt, bringen mich schier zum Weinen, oder eher zum Beten, zum Beten auch für Sie, Tillon, für uns.
Zum Schluss des Konzerts spielte der grosse Geiger Carl Flesch Bachs «Chaconne», die Pilet schon mehrmals, interpretiert von Eugène Ysaÿe, seinem Idol, gehört hatte. Er glaubte nicht, dass jemand Ysaÿe übertreffen könnte:
Ich hatte mich getäuscht. Ist es Emotion, Unruhe, Müdigkeit vielleicht, aber vorhin war Flesch religiös, fast göttlich. Man hatte das klare und sichere Gefühl, dass er hier uns sein Lieblingsstück spielte, dasjenige, das er nur mit Gefühl und Verehrung angeht, wie eine heilige Sache. Ich glaube gerne, dass, wenn am Schluss der Saal leer gewesen wäre, er es überhaupt nicht gemerkt und gleichwohl weitergespielt hätte. Er spielte nicht mehr für uns, sondern für sich selbst, mit seinem ganzen Herzen, seiner ganzen Seele. Rasch bin ich dann weggegangen, bevor man Beifall klatschte, um im warmen und tiefen Eindruck dieser grossen Stimme zu verbleiben!
12. «Ich will keine Politik machen»
Am Samstag, 11. Juni, geht Pilet ans «Ende der Welt», will sagen den Exerzierplatz in Lindenthal, ausserhalb von Leipzig. Er verlässt um 9 Uhr das Haus, um dort für die auf Mittag angesetzte grosse «Parade» einen Platz auf der Tribüne zu ergattern, was ihm nach «viel Wegen, Umwegen, Warten, Hindernissen» gelingt. Von dort kann er das ganze Defilee der Leipziger Garnison überschauen. Mehr noch:
Verneigen Sie sich, Freundin, respektieren Sie mich, verehren Sie mich, ich habe den König gesehen! Ja, ich habe ihn gesehen, von ganz nahe, aus kaum zwei oder drei Metern. Der arme Kerl – geh schon! – hat mir leidgetan und mein republikanisches Herz litt beinahe an der Gleichgültigkeit eines ganzen Volkes gegenüber seinem Souverän. Ein wenig Beifall hier und dort, auf den er sich bemühte zu lächeln, aber es war so mager, so mager, dass es peinlich war, ich beteure es Ihnen. Oh, gewiss jeder weiss, dass er kein Adler ist, entfernt davon, weiss, dass es ihm an Finesse und Geschmack mangelt, dass er gerne «fressen» sagt