nicht gut, rein und edel sind. In der Morgendämmerung fühlt sich Marcel erschlagen, vernichtet, aber er ist «ein verklärter Marcel, ein besserer Marcel». Henry ist jetzt sein Freund und er ist stolz auf diese Freundschaft. Das Leid hat sie auf ewig vereint. So glaubt er.
Montag, 5. Dezember 1910
Pilet steht im grossen Lausanner Theatersaal auf der Bühne. Der Prolog, der über die an der Landwirtschaftsausstellung auftretenden Notabeln spottet, schlägt ein: «Einige Situationen sind von absolut unwiderstehlicher Komik» (Gazette de Lausanne). Vor seinem Auftritt hat ihm Tillette einen lieben und zärtlichen Brief geschrieben, der ihn ermunterte. In der Pause nach dem 4. Akt gibt sie ihm ihr Händchen, um ihm Mut zu machen, und am Schluss wirft Henry ihm spontan seine Mütze zu, diejenige, die sie mit «Tillette» signiert hatte.
Montag, 26. Dezember 1910
Marcel hat von Tillette einen «guten, tiefen, vollen, erlesenen» Brief erhalten, das schönste Weihnachtsgeschenk, das er sich vorstellen kann. Wenn er ihn liest und wieder liest, scheint er weit in der Ferne im Nebel die Glocken seiner Jugend zu hören. Er dankt ihr «unendlich» auch für ihr Portrait, das er in seinem Schuh gefunden hat.
Es ist vor mir, sieht mich an, auf meinem Arbeitstisch, und es wird immer dort sein, wenn ich allein bin, wie mein Schutzengel.
Auch von Henry hat er an Weihnachten dessen Portrait erhalten.
Er ist da, mit seiner Schärpe, sehr gerade, das Gesicht fest und doch nachdenklich, in die Ferne blickend, mit Güte, ein wenig von Melancholie verschleiert.
Januar, Februar 1911
In den ersten beiden Jahresmonaten sieht Pilet seine Freundin nur selten. Er ist voll mit der Examensvorbereitung beschäftigt. Er arbeitet so hart wie noch nie, aber die Arbeit fällt ihm leicht, weil ihn die Freundin unentwegt moralisch unterstützt:
Zweifellos hatte ich schon vorher Freunde, einen grossen Freund, aber dies sind Zuneigungen unter Männern, die nichts mit den zarten und tröstlichen weiblichen Zuneigungen zu tun haben.
Mittwoch, 22. März 1911
Das Examen ist bestanden. Wenn er durchgefallen wäre, hätte ihn dies getroffen, aber der Erfolg macht ihn auch nicht besonders glücklich. Und doch hätte er allen Grund, zufrieden zu sein. Die Expertenkommission hat ihm sogar zu seinen glänzenden Resultaten gratuliert!
Ich weiss nicht, ob diese Herren während meiner Befragung geschlafen haben, ob sie nicht zugehört haben oder ob Sie, Tillon, die Daumen besonders hart gedrückt haben, aber ich habe aus Versehen einen Durchschnitt von etwas über neun erhalten! Die Folge war bei mir eine intensive und tiefe Verachtung für die Universitätsnoten. Sie sind wirklich viel zu leicht.
Das glänzend absolvierte Examen lässt ihn irgendwie leer und ausgepumpt, ohne Lebensinhalt.
Dies kommt übrigens von meinem Charakter und ich bin immer so gewesen. Das zu erreichende Ziel zieht mich stark an, und nachdem das Ziel erreicht ist, macht mir dies kaum Vergnügen. Die Anstrengung hat bei mir immer mehr Reiz gehabt als das Ergebnis.
15. April 1911
Ein Datum, das beide nie vergessen werden. Wochen später, in einem Brief aus Leipzig, lässt Marcel den denkwürdigen Tag wieder aufleben:
Ich habe das blaue Kleid mit den hellen Streifen wiedergesehen, das schelmische Näschen, die leichten, kokett mit einem im Winde wehenden Federbusch bedeckten Haare. Ich habe den eng anliegenden, diskreten Jupe gesehen, wie es mit behutsamen Schrittchen zu mir kommt, um mich zu begleiten. Ich habe St-Sulpice wiedergesehen, das Dorfcafé, die Terrasse, die steinerne Bank. Ich habe die stolze und doch so sanfte Kirche wiedergesehen, so rein in ihrem Frühlingshimmel. Ich habe das klare und frohe Wasser gesehen, das an der Landungsbrücke murmelt, die grossen Pappeln, die zu uns zu sprechen schienen, sehr weit entfernt die Berge, die uns unwiderstehlich einander näherbrachten. Ich habe den unter der niedergehenden Sonne flammenden See wiedergesehen, der mich Ihren Arm stärker gegen mich pressen liess.
An jenem Abend versprechen sich «Marcelin» und «Tillon», wie sie sich jetzt gegenseitig nennen, ewige Liebe. Insgeheim haben sie sich verlobt.
11. Leipziger Lerchen
Am 17. April 1911 Abreise aus Lausanne. Er geht ungern, wie er Tillon schreibt:
Man hat mich, unter Missachtung all meiner Neigungen, all meiner Wünsche und all meiner Freuden, nach Deutschland verschifft, und dies, um die Sprache des Nordens zu lernen und irgendeine langweilige Dissertation vorzubereiten.
Marcel nimmt Lice, die kleine Schwester, mit, die ebenfalls in Sachsen Deutsch lernen soll. Beiden fällt die Trennung von der Mutter schwer. Die Reise führt über Zürich nach München, wo sie übernachten und Touristen spielen. Pilet gefällt Bayerns «ziemlich schöne» Hauptstadt, «betreffend Disziplin nicht allzu deutsch, seinem Monarchen sehr zugetan und vor allem liebenswürdig». Weiter nach Glauchau, wo Marcel die Schwester bei einer Gastfamilie ablädt. Zur Mittagszeit kommt er in Leipzig an, auf dem im Bau befindlichen grössten Bahnhof Europas. Im «Thüringerhof», der noch heute existiert, findet er in der Zeitung ein Inserat für ein ihm passend scheinendes Zimmer, er geht hin, es gefällt ihm, er mietet sich ein.
Für die nächsten drei Monate ist das geräumige Zimmer an der Davidstrasse 1b, zweiter Stock links, sein Refugium. Das Haus steht noch. Allerdings sind nach der Wende in den Neunzigerjahren auf den Stockwerken aus zwei alten Wohnungen drei neue, kleinere gemacht worden. Zwei grosse Fenster, durch die die Morgensonne scheint, Bett, Chaiselongue, zwei Fauteuils, ein Schreibpult mit vielen Schubladen, ein Tisch, auf den Marcel die Fotos von Tillon und der Mutter stellt. Er liebt Pflanzen und sorgt dafür, dass die Vase vor dem Bild der «Verlobten» immer mit einem Strauss Feldblumen gefüllt ist, die er selber im Park gepflückt hat. Einen Steinwurf von seinem Logis entfernt liegt eine der grössten Grünflächen Leipzigs, der Johannapark, in dem der promeneur solitaire spazieren und träumen geht.
Er ist nach Leipzig gekommen, um sein rudimentäres Gymnasiumdeutsch zu verbessern und Fachliteratur für seine Dissertation zu studieren. Dazu ist die alte Universitätsstadt mit ihrer erstrangigen juristischen Fakultät der ideale Ort. Er geht jeweils nach dem Frühstück zur Bibliotheca Albertina, der riesigen, im Neo-Renaissancestil gebauten Universitätsbibliothek, wo er an einem komfortablen Lesetisch vorerst das Leipziger Tageblatt liest, deutsche Wörter auswendig lernt, Grammatik paukt. Der mittelmässig sprachbegabte Romand tut sich schwer mit der «barbarischen», «diabolischen» germanischen Sprache. Nach drei Stunden Deutschstudium wendet er sich juristischer Fachliteratur zu, kopiert und übersetzt, füllt seine Hefte.
Er muss sich an der Uni immatrikulieren. In Lausanne geht ein neuer Student zur Sekretärin, die ihn fragt, ob seine Papiere in Ordnung sind, ob er die 20 Franken Einschreibegebühr bezahlt habe und: «Toujours la même adresse?» – «Oui, Mademoiselle.» Worauf er seine «Legi» erhält. «Simpel, leicht, praktisch und demokratisch.»
In Leipzig? Pilet meldet sich im Anmelderaum, wo man ihm erklärt, er habe sich am nächsten Tag zur gleichen Zeit dort erneut einzufinden. Dies tut er, wird zur Quästur geschickt, wo er bezahlt. Zurück in der Kanzlei, eröffnet man ihm, dass er am nächsten Tag um fünf Uhr vom Rektor feierlich als «akademischer Bürger» empfangen werde. Zur befohlenen Stunde wird ein nervöser Pilet «Seiner Magnifizenz, dem Herrn Rektor», vorgestellt. Dieser ist dreifacher Doktor von drei verschiedenen Universitäten, Geheimrat, Hofrat, Ritter des Roten Adlerordens. Alle diese Titel werden auf Latein verlesen, «was noch viel schöner und sehr viel unverständlicher» ist. Obendrauf ist Dr. Lamprecht ein wahrer Gelehrter, ein berühmter Mann, Deutschlands gegenwärtig grösster Historiker!
Ich kann mir nicht vorstellen, wie er dies alles gleichzeitig hat tun können; und dass er dabei auch noch die Zeit gefunden hat, sich einen stupenden weissen Bart wachsen zu lassen.
Der Rektor ermahnt den Studenten, dem Ruf der Universität Leipzig, «der sehr weit reicht»,