Hanspeter Born

Politiker wider Willen


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Absinth:

      Die Serviertöchter haben mehr Mühe, sich der sadistischen Hände zu erwehren, die nach ihren keuschen Formen greifen, als uns zu bedienen. Der von alten Herren umgebene Pilet ist gezwungen, sich gut zu benehmen, und er leidet darunter.

      Da Belles-Lettres keine weiblichen Mitglieder hat, werden Frauenrollen von Studenten gespielt. Der Elsässer Georges Bergner, der zusammen mit Pilet das grüne Béret von Belles-Lettres trug, erzählt zwei Jahrzehnte später von einer Sondervorstellung von Gringoire in einem asile d’aliénés, einer Irrenanstalt:

      Als Pilet vor dem Aufgang des Vorhangs zusammen mit seinem als Loyse transvestierten Kameraden einen French Cancan tanzte, rief der Arzt: «Ihr Unglücklichen, wenn meine Kranken euch sehen, werden sie tatsächlich noch verrückt!»

      Dass Pilet als Schauspieler de véritables prouesses, wahre Spitzenleistungen, vollbrachte, bestätigt der bereits erwähnte Bergner. Schlank und «mit der Nase im Wind» habe er dem Pariser Schauspieler Louis Lenoir geglichen und diesem mehrere Rollen entliehen, darunter «Harpagon, mit der Souplesse, die auf die Politik vorbereitet, L’Intimé mit Unverschämtheit, Gringoire mit Romantik, Petruchio mit Ungestüm».

      In der Gazette rühmt G. R. (Georges Rigassi, später Chefredaktor des Blatts) den talentierten Mimen:

      Belles-Lettres besitzt in M. Pilet (Harpagon) – der letztes Jahr der Rolle des Poeten Gringoire derartigen Glanz verlieh – einen Künstler von sehr reellem Wert.

      Nachdem in L’Avare der Vorhang gefallen war, sagte Pilet – wenn wir Bergner glauben wollen –: «Dies ist meine Beerdigung.»

      Jedenfalls hat Marcel den Traum einer Schauspielerkarriere aufgegeben. Die Versuchung war da, aber sie ist geschwunden. Ein halbes Jahr später erinnert er sich in einem Brief an Tillon dankbar an seine zwar nicht grösste aber «hübscheste» Rolle. In dem 1908 von den Bellettriens aufgeführten Pariser Erfolgstück Le Bon Roi Dagobert spielte er Saint Eloi, den Kirchenmann und Staatsminister des Königs. Bekleidet in einem köstlichen mauve Nachthemd hat er als ältlicher Komödienbischof eben seinen lustigsten Auftritt gehabt. Das «sehr zufriedene» Publikum spendet Beifall und wie es Brauch ist, wird den Schauspielern ein Palmenzweig hingereicht. Pilet im Brief:

      Mit gebrechlichen, kleinen Schrittchen gehe ich den Zweig holen, um ihn der Königin (Rey) zu überreichen, aber in dem Moment, wo ich mich dem Souffleurkasten nähere, fällt der Vorhang. Ich stehe plötzlich allein zwischen ihm und dem Publikum, das um so lauter applaudiert und mir eine kleine Ovation darbringt – eine ganz persönliche.

      Es sei dies das erste und letzte Mal gewesen, dass er den Stolz und die Trunkenheit des Beifalls, das «Gefühl der Eitelkeit des Triumphs» gespürt habe. Wenn er auch nicht den geringsten Schritt tun werde, um dieses Hochgefühl je wieder zu erleben, bleibe ihm doch eine bewegende Erinnerung.

       8. Führungsschule

      Im Wintersemester 1908–1909 nimm Pilet das Amt des Sekretärs auf und entschuldigt sich sogleich:

      Ich komme aus der Rekrutenschule – dies erklärt meine Abstumpfung. Während 67 Tagen habe ich «Gewehr hoch» gemacht und hier bin ich, Feder in der Hand, Historiker und Chronist der Glanztaten der Mitglieder unserer Gesellschaft. Kann ich ihre Heldentaten besingen, wie sie es verdienen, ihre feinen und subtilen Worte feiern?

      An den Sitzungen sagt Pilet klar seine Meinung, so etwa, als diskutiert wird, ob Naturwissenschaftler sich auch als Philosophen betätigen dürfen. Ja, meint Pilet, und erinnert daran, dass Darwin, Haeckel und andere Philosophen zuerst Wissenschaftler gewesen sind. Protokollführer Victor Gagnaux vermutet, dass der ehrgeizige Pilet sich mit diesem Votum für die bevorstehende Präsidentenwahl empfehlen will:

      Wenn man Pilet zuhört, versteht man leicht, dass die Mehrheit der Bellettriens eine naturwissenschaftliche Schulung hat, und sie applaudieren auch kräftig. Bravo Pilet. Du hast deinen Sessel auf sicher.

      Hatte er. Am 22. Oktober 1909 wird er mit 22 Stimmen zum Präsidenten gewählt. Bei den «wie immer lärmigen» Wahlen müssen sich die anderen Vorstandsmitglieder mit 13, 17, 15 und 14 Stimmen begnügen. Im Protokoll schreibt Gagnaux, später Oberfeldarzt der Schweizer Armee. Er wird 1946 an einer Truppenübung bei einem Autounfall ums Leben kommen:

      Präsidentschaft: Pilet, Präsident

      Man hatte ihm den Ruhm gegeben, wir brauchten jetzt Versprechen; seine Thronrede war voll davon, seine Thronrede machte uns Freude. Pilet hat verschiedentlich gesagt: «Ich wünsche»; öfter hat er gesagt: «Ich will.» Pilet hat Willen, er hat Kraft, er hat Begeisterung – möge er nicht enttäuscht werden. Arbeit ist es, sagt er uns, was am besten für Unterhaltung sorgt: «Ich wünsche, dass man bei Belles-Lettres arbeitet. Mein Wunsch wäre es, bei jeder Sitzung eine gute, sorgfältig gemachte Arbeit zu hören, die eure Ideen und eure Wünsche ausdrückt, und nicht die Ideen, die gerade Mode sind, nicht die dekadenten Wünsche einer schlappen, leeren und dummen Minderheit, die uns durch ihre Extravaganz blendet.

      Tragt nicht die müden und angewiderten Mienen derjenigen zur Schau, die alles gesehen haben, alles kennen. Vertreibt den modischen Skeptizismus, der nicht eurem Alter entspricht und der nur eines beweist: eure Leichtgläubigkeit und euren Wunsch zu glauben! Verzichtet auf jede Pose, zeigt euch, wie ihr seid, jung und unerfahren, aber auch stark, voller Leben und begierig, das Leben anzugehen. Macht gesunde, offene und ehrliche Arbeiten. Nehmt euch die Mühe zu denken, zu überlegen; übernehmt nicht träge einfach Ideen, die schon da sind, die wir nicht suchen müssen: Sie sind nichts wert, sie führen nirgends hin.»

      Es ist die Rede eines Erziehers. Es ist auch die Rede eines Leaders. Pilet, der seine Aspirantenschule hinter sich hat und den man auf Ende Jahr zum Leutnant befördern wird, vermisst bei Belles-Lettres eine Eigenschaft, die der Verbindung immer gefehlt habe: die Disziplin.

      Unser Präsident verlangt von uns keine militärische Disziplin, sondern eine, die auf Takt und gutem Willen beruht. Verzichten wir inmitten von ernsthaften Diskussionen auf Bonmots und Witze [wörtlich französisch: et les witz]. Was die bellettristische Freundschaft betrifft, pflegen wir sie doch an den Abenden am Ende der Sitzungen, vor allem bei Spaziergängen. Wieso macht man keine Spaziergänge mehr? Aus Müdigkeit oder Gleichgültigkeit? Nein, es ist aus Phlegma! Schütteln wir dieses Phlegma ab und machen wir Spaziergänge.

      Stürmischer Beifall und tags darauf machte man keine Spaziergänge.

      Disziplin und Ordnung wird dereinst Bundesrat Pilet-Golaz immer wieder von Volk und Parlament fordern. Kritische Zeitgenossen und Historiker haben ihm dies als «autoritär», «reaktionär», wenn nicht gar «pétainistisch» oder «faschistisch» angekreidet. Die Werte Ordnung und Disziplin, Pflicht und Arbeit, die Liebe zu Gott, Vaterland und Familie haben bei Pilet tiefe Wurzeln. Sie gehen auf die Ermahnungen von Eltern und Lehrern und auf seine Waadtländer Herkunft zurück. Er hatte diese Werte verinnerlicht, lange bevor Mussolini, Franco oder Pétain aus diesen Werten politisches Kapital schlugen.

      Zurück zum 21. Januar 1910, an dem von Belles-Lettres-Präsident Pilet diplomatisches Geschick gefordert ist. Die Verbindung Germania kommt auf Besuch. An der juristischen Fakultät der Uni Lausanne hat es in jenem Jahr mehr deutsche als einheimische Studenten. Der in Ober-Ingelheim geborene Weitzel ist im Element, erklärt den andern Bellettriens die germanischen Formeln und Regeln und sagt zum «beunruhigten» Pilet: «Lass mich machen!» Als die Germanen hereinmarschieren und Pilet ihnen zur Begrüssung entgegeneilen will, nagelt Weitzel ihn mit einem «Rühr dich nicht!» an seinem Platz fest. Bei deutschen Burschenschaften verlässt der Präsident nie seinen Sitz. Offiziell begrüsst Pilet die Gäste: «Die Worte machen auf unsere teutonischen Freunde grossen Eindruck, die – die Augen ernst auf unseren Präsidenten gerichtet – den Kopf schütteln, jeder zweimal.»

      Die Ankunft des Biers entlockt den Germanen ein erstes Lächeln, doch bald sind sie wieder grimmig ernst. Eine Klavierdarbietung lässt sie mit den Händen den Takt angeben, aber die Gesichter bleiben starr. Pilet erklärt dann – zumindest für einige Augenblicke – Deutsch zur offiziellen Sprache:

      Unser